Der Mensch ist, wie nachgewiesen wurde, mit einem Rechtsanspruch auf vollkommene Freiheit und auf den uneingeschränkten Genuss aller Rechte und Vorrechte des Naturgesetzes in Gleichheit mit jedem anderen Menschen oder jeglicher Anzahl von Menschen auf dieser Welt geboren. Er hat von Natur aus nicht nur die Macht, sein Eigentum – nämlich sein Leben, seine Freiheit und seinen Besitz – gegen die Schädigungen und Angriffe anderer Menschen zu schützen, sondern darüber hinaus, andere wegen der Verletzungen dieses Gesetzes zu verurteilen und sie so zu bestrafen, wie es seiner Überzeugung nach das Vergehen verdient – sogar mit dem Tode, wenn es Verbrechen sind, die ihm so abscheulich scheinen, dass sie den Tod verdienen.
Zweite Abhandlung über die Regierung, § 87
Beeinflusst vom Stammvater des neuzeitlichen Empirismus, dem herausragenden Gegner Descartes’, Pierre Gassendi, begründet einer der bedeutendsten Philosophen der Neuzeit, der Arzt und Philosoph John Locke (1632–1704), den britischen Empirismus. In der Erkenntnistheorie entwickelt er einen Kontrapunkt zu Descartes’ Rationalismus und in der Politischen Philosophie eine Alternative zu Hobbes’ Absolutismus. Locke ist zwar kein philosophischer Revolutionär. Wegen seines erkenntnistheoretischen Empirismus und des sowohl politischen als auch ökonomischen Liberalismus, zusätzlich wegen seiner Forderung nach einer kindgemäßen Erziehung und schließlich wegen seines Plädoyers für eine bestimmte religiöse Toleranz steigt er aber zu Recht rasch zu einer europäischen Berühmtheit auf. Stärker als jeder andere Denker prägt er das philosophische, politische und ökonomische Weltbild des bürgerlichen Zeitalters. Bis heute wird er als Klassiker der Erkenntnistheorie, der Politischen Philosophie, nicht zuletzt der Pädagogik geschätzt.
John Lockes Leben fällt in die Zeit der noch andauernden Bürgerkriege und der sich anschließenden politischen Wirren. Zunächst herrscht der katholische Stuartkönig Karl I. (1625–1649). Nach dem Sieg seines puritanischen Gegners Oliver Cromwell wird die Monarchie abgeschafft, nach Cromwells Tod wieder eingerichtet, ihre zum Absolutismus neigende Politik aber durch die unblutige «Glorreiche Revolution» (1688) beendet.
John Locke wird am 29. August 1632 als Sohn eines parlamentarisch gesonnenen Landanwalts und Gutsbesitzers geboren. Beide Eltern sind keine Anhänger der englischen Staatskirche, sondern der vom Geist Calvins geprägten Puritaner, die das Christentum zur Reinheit des Evangeliums zurückführen wollen. Im Alter von 15 Jahren kommt Locke an die angesehene Londoner Westminster School, an der er Latein und Griechisch, überdies Hebräisch und Arabisch lernt. Ab 1652 studiert er in Oxford am Christ Church College zunächst eine Wilhelm von Ockham nahestehende Schulphilosophie, später auch Naturwissenschaften und Medizin. Im Jahr 1660 wird er Dozent («Lecturer») für Griechisch, drei Jahre später für Rhetorik, wieder später, 1664, für Moralphilosophie, wozu auch Fragen zum Verhältnis von Politik und Religion gehören.
In Frühschriften wie den Abhandlungen über die Regierung (Tracts on Government, 1660/61) vertritt Locke noch keine liberalen politischen Ansichten. Beispielsweise spricht er sich für eine staatliche Aufsicht über den Gottesdienst aus. Obwohl seit dem Tod seines Vaters (1661) durch dessen Erbe wirtschaftlich unabhängig, übernimmt er immer wieder öffentliche Ämter. So ist er Sekretär einer Gesandtschaft nach Kleve zum Kurfürsten von Brandenburg, dessen Konfessionsfrieden ihn beeindruckt. Knapp zehn Jahre später ist er Sekretär des Handels- und Kolonialismusministeriums und nutzt die dort gewonnenen Einblicke in wirtschaftliche Zusammenhänge geschickt für Investitionen, die ihn reich machen werden. Obwohl er ein Vorkämpfer liberaler Gedanken ist, verdient er auch am Sklavenhandel.
Nach der Rückkehr von Kleve lässt sich Locke in London als Arzt nieder. Er wird Leibarzt und Privatsekretär des liberalen Politikers und Stuartgegners Lord Anthony Ashley Cooper, später Graf (Earl) von Shaftesbury, dem er im Jahr 1668 durch einen berühmt gewordenen Leberzystenschnitt das Leben rettet. Im selben Jahr wird er Mitglied der britischen Akademie der Naturwissenschaften, der Royal Society. Im Jahr zuvor verfasst er einen Versuch über Toleranz (Essay Concerning Toleration, 1667), der die protestantischen Religionsgemeinschaften («Sekten») zu tolerieren empfiehlt, da ihre Mitglieder einen bemerkenswerten Gewerbefleiß entfalten. Atheisten jedoch und Katholiken werden von der Toleranz ausgenommen.
Wegen eines chronischen Asthmaleidens hält sich Locke 1675/76 in Südfrankreich auf, reist aber auch nach Paris, wo er bedeutende Philosophen und Wissenschaftler kennenlernt und sich gründliche Kenntnisse von Descartes und dessen Kritiker Gassendi erarbeitet. Zurück in England, nimmt der inzwischen 47-Jährige am wechselvollen Schicksal Shaftesburys teil. Ende 1682 geht dieser ins niederländische Exil, wohin ihm Locke bald folgt.
Erst im Zuge der Glorreichen Revolution kehrt der nun 56-jährige Locke in seine Heimat zurück. In den nächsten fünf Jahren, eine Zeit hoher Produktivität, erscheinen anonym Lockes politische Hauptschrift, die Zwei Abhandlungen über die Regierung, Ein Brief über Toleranz und vor allem, erneut anonym, das theoretische Hauptwerk, Ein Versuch über den menschlichen Verstand. Aus dieser Zeit stammen auch die Schriften zur politischen Ökonomie, zur Pädagogik und eine zur Theologie. Als philosophischer Autor mittlerweile eine europäische Prominenz, übernimmt Locke nur weniger arbeitsaufwendige Staatsämter. Er ist aber der geistige Führer einer neu gegründeten Partei, der liberalen Whigs. Lockes wohl bedeutendste tagespolitische Leistung ist der Entwurf der Währungsreform von 1695.
Aus Gesundheitsgründen lebt der Philosoph meist auf dem Land, bei seinen Freunden Lord und Lady Masham. Hier stirbt er am 28. Oktober 1704, im Alter von 72 Jahren: «Sein Tod war wie sein Leben: wahrhaft fromm, doch natürlich, leicht und ohne Leidenschaft.»
Die Grundlage von Lockes politischem Denken bildet das erkenntnistheoretische Hauptwerk Ein Versuch über den menschlichen Verstand (An Essay Concerning Human Understanding, 1690). Wie in den Leitschriften der Aufklärungsphilosophie üblich, behandelt es außer der Erkenntnistheorie weitere Themen: namentlich Fragen der Ethik, der Philosophie des Geistes und der Religionsphilosophie sowie indirekt, in der Ablehnung angeborener Ideen, auch den Bereich des Politischen.
Lockes umfangreiche «Naturgeschichte des menschlichen Verstandes» ist von einem zweifachen Pathos durchdrungen: von einem Pathos der Bescheidenheit, das Unwissenheit nicht durch ein wortreiches «Schwätzen» zu verstecken sucht, und einem Pathos der Entdeckungslust, das das Forschen nach der Wahrheit mit einer Jagd vergleicht, bei der «ein großer Teil des Vergnügens in der Pirsch besteht». Der davon inspirierte Empirismus hat zunächst zwei Dimensionen. Gemäß dem «Empirismus der Prinzipien und Ideen» stammen selbst diese aus der Erfahrung (Buch I–III). Gemäß dem «Empirismus der Aussagen» sind alle Aussagen über Tatsachen an der Erfahrung zu überprüfen (Buch IV). Als dritte Dimension kommt ein «Empirismus der Sprache» hinzu. Ihm zufolge gelten Wörter, die sich weder direkt noch indirekt auf Erfahrung beziehen lassen, noch – wie z.B. «und», «auch», «oder» – diesen Wörtern dienen, als sinnlos.
Nach der ersten Dimension gehen der Erfahrung keine erfahrungsfreien Elemente voraus, weder fertige Ideen (grundlegende Erkenntniselemente) noch fertige theoretische oder praktische Prinzipien. Selbst ein moralisch-rechtlich so grundlegender Imperativ wie der Fundamentalimperativ, das Schädigungsverbot («keiner schädige den anderen!»), gilt nicht als angeboren. Angeboren sind lediglich Fähigkeiten, die die Bildung von Ideen und Prinzipien ermöglichen, zur wirklichen Erkenntnis aber erst durch Erfahrung gelangen. Allerdings besteht auch für Lockes Gegner, Descartes, der Besitz angeborener Ideen in nichts anderem als der inneren Fähigkeit, sie hervorzurufen. Dass Locke trotz der doch geringen Differenz angeborene Ideen so vehement ablehnt, hat vermutlich einen politischen Grund:
Nach Locke sind die Menschen fehlbar, überdies auf gegenseitige Rücksichtnahme angewiesen, weshalb jede Rechthaberei im politisch-praktischen und jeder Dogmatismus im theoretischen Bereich bekämpft wird. Locke bezweifelt zwar weder die Wahrheit eines theoretischen Prinzips wie des Widerspruchssatzes noch die Geltung grundlegender moralischer Normen wie der Gerechtigkeit, des Schädigungsverbotes oder des Gebotes, Verträge einzuhalten. Trotzdem widersetzt er sich vehement der Ansicht, sie seien aller Diskussion enthoben, denn dann wären die zuständigen Autoritäten berechtigt, einschlägige Diskussionen zu unterbinden. Stattdessen soll jeder das Recht haben, mit seinem eigenen Verstand herrschende Meinungen zu überprüfen, etwa der Mensch sei nicht von Natur aus frei oder die (absolute) Monarchie entstamme göttlichem Recht.
In einem Zeitalter der Konfessionskriege ist die Toleranz das fraglos wichtigste politische Prinzip. Schon Lockes zwei «Geburtsgenossen», Spinoza im Theologisch-politischen Traktat (1670) und der damals einflussreichste Völkerrechtslehrer Samuel Pufendorf in der Abhandlung Über Toleranz (1687), verfassen wichtige Beiträge zur Zivilisierung der (polemogenen) Religionen mit den Mitteln des staatlichen Rechts. Obwohl zumindest Spinoza noch weiter geht, erlangt aufgrund kontingenter Umstände Lockes Brief über Toleranz (1689) den größten Einfluss.
Der Brief entsteht im niederländischen Exil, wo Locke, der schon von Brandenburgs Konfessionsfrieden beeindruckt war, erneut die wirtschaftlichen und politischen Vorteile religiöser Toleranz schätzen lernt. Nach der zunächst auf Englisch, später auf Latein und in beiden Sprachen anonym veröffentlichten Schrift besteht der Kern der Toleranz in einer wechselseitigen Nichteinmischung: Der Staat darf nicht in kirchliche und die Kirche nicht in staatliche Angelegenheiten eingreifen. Das vielerorts geforderte Bekenntnis zu einer Staatskirche hält er für unklug, da es gewaltsamen Widerstand provoziert, und, blickt man auf den jeweiligen Leitzweck, für illegitim: Als weltliche Schutzeinrichtung hat der Staat die Aufgabe und dank des Gewaltmonopols auch die Macht, gegen Übergriffe zu schützen.
(Staats-)«bürgerlich» (civil) nennt Locke die Grundgüter jedes Staatsbürgers, «life, liberty and property», das Leben mitsamt der körperlichen Unversehrtheit, die Freiheit und das Eigentum. Dafür und nur dafür, nicht aber für das Seelenheil zuständig, fallen Religion und Religionsausübung nicht in die Kompetenz des Staates. Schon weil die Sorge um das Seelenheil eine Privatsache der Gläubigen ist, geht es die Obrigkeit nichts an. Im Übrigen ist sie mit ihren Mitteln, äußeren Zwangsmitteln, gar nicht imstande, die doch innere Freiheit des religiösen Fürwahrhaltens einzuschränken.
Die Religionsgemeinschaften wiederum sind laut Locke freiwillige Vereinigungen religiös Gleichgesinnter ohne jede Herrschaftsbefugnis. Für das Glaubensbekenntnis und den Gottesdienst zuständig, dürfen sie den kultischen Brauch, die äußere Form der dem Seelenheil der Gläubigen als dienlich erscheinenden Riten, festlegen. Sie dürfen den Gottesdienst, das Gemeindeleben und die Seelsorge bestimmen, haben sogar das Recht, abweichende Glaubensansichten, Häresien, mit Ausschluss aus der Religionsgemeinschaft zu ahnden. Dieser Ausschluss, die Exkommunikation, darf aber keine «staatsbürgerlichen» Folgen haben; die Grundgüter des Staatsbürgers müssen unangetastet bleiben. Weil keiner Religionsgemeinschaft eine weltliche Herrschaftsbefugnis zusteht, dürfen die Kirchen das staatliche Gewaltmonopol nicht antasten und sind untereinander zur friedlichen Koexistenz verpflichtet.
Für heutige Leser fremd, führt Locke wie schon im Versuch über Toleranz zwei Grenzen für die staatliche Toleranzpflicht ein. Sie besteht nicht gegenüber Atheisten, da sie den letzten Gesetzgeber der Moral, Gott, leugnen, ebenfalls gilt sie nicht gegenüber den Katholiken, weil sie ein dem eigenen Staat fremdes Oberhaupt, den Papst, anerkennen. Die beiden Fragen, die sich hier aufdrängen: ob es bei Atheisten denn keine Moral gebe und ob bei Katholiken die Anerkennung des Papstes sich nicht auf Glaubensfragen beschränken könnte, so dass es zum befürchteten Loyalitätskonflikt gar nicht kommt, stellt sich Locke nicht.
In den vermutlich Anfang der 1660er-Jahre entstandenen Versuchen über das Naturgesetz (Essays on the Law of Nature) untersucht Locke, wie jene normativen Prinzipien erkannt werden können, die bei den Griechen physei dikaion und bei den Römern lex naturae, «Naturgesetz» bzw. «Naturrecht», heißen. Über deren Gehalt herrscht im 17. Jahrhundert weitgehend Einigkeit. Als fundamentale Verbindlichkeit gilt das genannte Schädigungsverbot, aus dem sich, so lautet die verbreitete Ansicht, unschwer die bekannten rechtlichen Verbote des Tötens, Stehlens und Betrügens sowie das Gebot, Verträge zu halten, gewinnen lassen.
Wegen der inhaltlichen Einigkeit stellt sich für Locke im Wesentlichen nur die Frage der Erkennbarkeit. Gemäß seiner erkenntnistheoretischen Grundthese weist er die Ansicht zurück, es handele sich um ein angeborenes Wissen. Vielmehr liege zwar eine über alle geographischen und geschichtlichen Besonderheiten hinweg wahrnehmbare, für die gesamte Menschheit zutreffende Verbindlichkeit vor. Erkannt werde sie aber erst mithilfe des durch Sinneswahrnehmung und schlussfolgerndes Denken gebildeten natürlichen Lichts (lumen naturale). Dahinter stehe ein weiser und mächtiger Welturheber, dessen Existenz man aus der wunderbaren Ordnung der Welt erschließen könne. Locke beruft sich hier auf den sogenannten physiko-theologischen Gottesbeweis, der von der Beobachtung einer der Welt innewohnenden Ordnung auf einen Schöpfergott schließt. Weil die Versuche über das Naturgesetz zu Lockes Lebzeiten nicht bekannt sind und später im Schatten des politischen Hauptwerks stehen, entfalten sie keine Wirkung.
Lockes politisches Hauptwerk besteht in Zwei Abhandlungen über die Regierung (Two Treatises of Government, 1689/90), wobei der Titelausdruck «Regierung» (government) nicht lediglich die Exekutive, sondern die gesamte Staatsgewalt meint. Von den zwei Abhandlungen wird in der Regel nur die zweite, weit gehaltvollere und innovativere Abhandlung zur Kenntnis genommen. Für die philosophische Staatslehre der Neuzeit ist sie ebenso grundlegend wie Lockes erkenntnistheoretisches Hauptwerk. Zu Recht entfaltet sie eine enorme nicht bloß ideengeschichtliche, sondern auch politische Wirkung. Binnen weniger Jahre steigt die Abhandlung in den Rang einer Stiftungsurkunde des politischen Bürgertums auf und erlangt dabei weltgeschichtliche Bedeutung.
Großenteils schon im Jahr 1679 niedergeschrieben, erscheinen die beiden Abhandlungen erst am Ende des Jahres 1689 und selbst dann, nach Abschluss der Glorreichen Revolution, anonym. Schon deshalb, um sich nicht als Verfasser kenntlich zu machen, verzichtet Locke auf Querverweise zu seinem im selben Jahr erscheinenden Versuch über den menschlichen Verstand.
Mehr als ein Jahrhundert lang, von Hobbes’ Vom Bürger über Spinozas Theologisch-politischen Traktat und Lockes Zwei Abhandlungen bis zu Montesquieu, können Hauptwerke des politischen Denkens weder unter dem Namen des Autors noch in dessen Heimatland erscheinen. Wegen des späten Erscheinens, auch wegen des Vorworts, das vom «gegenwärtigen» König Wilhelm spricht, hält man lange Zeit die beiden Abhandlungen für eine nachträgliche Rechtfertigung der bereits vollendeten Staatsreform. In Wahrheit schreibt Locke die beiden Traktate noch vor seiner Flucht ins Exil, also durchaus unter Lebensgefahr. Vielleicht gibt sie sogar einer Gruppe von Revolutionären die Legitimation zu einem gewaltsamen Widerstand gegen einen tyrannischen Absolutismus.
Den beiden sich ergänzenden Abhandlungen liegt eine zielgerichtete Polemik zugrunde, die sich im ersten Text deutlicher als im zweiten zeigt. Die kaum noch gelesene, mitten im Argumentationsgang abrupt abbrechende Erste Abhandlung weist in ermüdender Ausführlichkeit die damals einflussreiche, in systematischer Hinsicht aber unbedeutende politische Theorie von Sir Robert Filmer, einem radikalen Vertreter der stuarttreuen Royalisten, zurück. Dessen Schrift Patriarcha. Eine Verteidigung der natürlichen Macht der Könige gegen die unnatürliche Freiheit des Volkes (1680) vertritt eine Auffassung, die im Selbstverständnis vieler europäischer Fürsten bis ins 20. Jahrhundert präsent ist: die Herrschaft von «Gottes Gnaden».
Unter Berufung auf zahlreiche Bibelzitate und auf philosophisch-politische Autoritäten erklärt Filmer, was Locke für «glatten Unsinn in wohlklingendem Englisch» hält, die immer schon bestehende Herrschaft habe einen vierfachen Grund: die Schöpfung, eine göttliche Schenkung (gemäß dem Genesisgebot «Wachset und mehret euch» und «Macht euch die Erde untertan»), die Herrschaft Adams über Eva, die Herrschaft des Vaters über seine Kinder und vor allem die väterliche Gewalt, die durch Erbschaft von Adam an den Monarchen gelangt sei. Von Natur aus unfrei, stehe der (gewöhnliche) Mensch unter der Herrschaft seines Vaters und seines Königs.
Lockes Gegenentwurf, die Zweite Abhandlung, leistet einen maßgeblichen Beitrag zur politischen Hoffnung der frühen Neuzeit, den Frieden zu sichern, die Grundgüter der Bürger zu schützen und für Toleranz und wirtschaftliches Wohlergehen zu sorgen. Weil in der Geistesgeschichte die einschlägigen Gedanken von Spinoza und Pufendorf kaum zur Kenntnis genommen werden, steigt Locke zum beinahe exklusiven Stammvater des neuzeitlichen Liberalismus auf.
Lockes in systematischer und wirkungsgeschichtlicher Hinsicht wichtigster Kontrahent ist Hobbes. Vom nachträglichen Vorwort abgesehen, wird er aber laut Index an keiner Stelle erwähnt. Auch dessen Titelfigur, der «mächtige Leviathan», taucht lediglich einmal auf (§ 98). Wie Hobbes begründet Locke den Staat aus der Zustimmung freier Menschen, aus einem Gesellschaftsvertrag. Er legt jedoch auf mehr als lediglich die Friedenssicherung Wert. Ihm kommt es auch auf Gewaltenteilung und vor allem auf die drei erwähnten Grundgüter «life, liberty and property» an. Im Sinne einer konkretisierenden Erweiterung taucht gelegentlich auch die Gesundheit auf. Ohne die zur Friedenssicherung zusätzlichen Aufgaben, erklärt Locke gegen Hobbes’ Absolutismus, würde man «die Menschen für so töricht halten, dass sie zwar zu verhüten suchen, was ihnen Marder oder Füchse antun könnten, aber glücklich sind, ja es für Sicherheit (safety) halten, von Löwen verschlungen zu werden» (§ 93).
Wegen ihres überragenden Ranges könnte man Lockes Grundgüter für Grund- und Menschenrechte halten. Wahr ist, dass sie im Naturzustand zwar jedem zustehen, dort aber nicht gesichert werden. Für das deshalb erforderliche staatsförmige Gemeinwesen, betont Locke immer wieder, wird die notwendige Gewalt an eine kräftige Mehrheit, jedoch nicht an distributiv und kollektiv alle abgetreten. Folglich ist nicht ausgeschlossen, was dem Gedanken eines veritablen Grund- und Menschenrechts widerspricht: dass die Mehrheit einer Minderheit die Rechte einschränkt und wie in Lockes Toleranzbrief den Katholiken und den Atheisten die Toleranz verweigert.
Lockes politische Theorie hebt mit einer Definition des Leitbegriffs, der politischen Gewalt (political power), an. Ihr zufolge hat der Staat sowohl die zivilrechtliche Zuständigkeit, nämlich Gesetze zur Regelung und Erhaltung des Eigentums zu schaffen, als auch strafrechtliche Kompetenzen. Im Rahmen der legitimen Sanktionen ist ihm sogar die Todesstrafe erlaubt.
Weil die Definition der politischen Gewalt das Eigentum als das einzige Grundgut anführt, scheint Locke, wie von manchen Kritikern behauptet, ausschließlich einen Wirtschaftsliberalismus zu vertreten. Unter dem Eigentum versteht er aber, wie damals in England nicht unüblich, weit mehr als einen materiellen, für die Wirtschaft wesentlichen Besitz. Für ihn zählen auch das Leben und die Freiheit und rangmäßig erst danach der Besitz. Außerdem darf die politische Macht einzig zugunsten des Gemeinwohls eingesetzt werden.
Im Anschluss an den Begriff politischer Macht behandelt Locke in 19 Kapiteln die wichtigsten Begriffe und Probleme der Staatsphilosophie. Er beginnt gemäß seinem vertragstheoretischen Ansatz mit dem Naturzustand (Kap. II), den er aber nicht als Gedankenexperiment, sondern historisch versteht: Frühe politische Einheiten wie Rom und Venedig und jeder andere «friedliche Anfang von Regierungen ist durch die Übereinkunft des Volkes gelegt worden» (§ 104). Locke führt allerdings nicht bloß geschichtliche Belege an, sondern beruft sich in argumentativer Zweideutigkeit immer wieder auf eine zweite Instanz, die Vernunft, die «offensichtlich auf unserer Seite» (ebd.) steht.
Der Naturzustand besteht in einem «Zustand des Friedens, des Wohlwollens, des gegenseitigen Beistands und der Erhaltung» (§ 19). Anders als die älteren Vertragstheoretiker kann Locke den Naturzustand so positiv, beinahe idyllisch bestimmen, weil er ihn schon unter ein Naturgesetz (law of nature), das moralische Gesetz der Natur, stellt. Darunter versteht Locke wie in den frühen Versuchen über das Naturgesetz eine überpositive, absolut verbindliche praktische Norm göttlichen Ursprungs. Nach ihrem Inhalt ist es eine Pflicht, die laut Locke sowohl durch die Vernunft als auch durch die Offenbarung erkennbar ist: das Schädigungsverbot.
In Hobbes’ Naturzustand hat jeder «ein Recht auf alles, selbst auf den Körper eines anderen» (Leviathan, I 14), womit Rechtlosigkeit herrscht. Locke hingegen leitet aus dem Schädigungsverbot den Rechtsanspruch auf die Unverletzlichkeit der drei Grundgüter Leben, Freiheit und Eigentum ab. Mit diesen Gedanken greift er zweifellos Grundbedingungen des modernen Rechts- und Verfassungsstaates vor. Mit der Berufung auf einen göttlichen Ursprung, also eine vernunftexterne Autorität, lässt er sich aber nicht wie Hobbes, könnte man einwenden, auf eine tiefere Begründung ein.
Wegen des genannten Naturgesetzes leben die Menschen im Naturzustand in «vollkommener Freiheit». Jeder Mensch ist als absoluter Herr seiner eigenen Person und Besitztümer («absolute Lord of his own person and possessions»: § 123), den Göttern gleich und niemandem untertan. Gleichwohl unterliegt er einer Einschränkung: Nur innerhalb der Grenzen des Naturgesetzes darf er seine Handlungen so lenken (Prinzip Freiheit) und über seinen Besitz (Prinzip Besitz/Eigentum) und seine Person (Prinzip Leib und Leben) so verfügen, wie es ihm am besten erscheint.
Im Gegensatz zu seinen vertragstheoretischen Vorläufern kennt Locke zwei dem Gesellschaftsvertrag vorangehende Zustände, den friedlichen Naturzustand und den gewaltbeherrschten Kriegszustand. Denn sobald jemand «versucht, einen anderen Menschen in seine absolute Gewalt zu bringen, versetzt er sich selbst» (§ 17) in den «Zustand der Feindschaft, der Bosheit, der Gewalttätigkeit und der gegenseitigen Vernichtung» (§ 19), mithin in eine vorvertragliche Alternative zum Naturzustand, in den Kriegszustand.
Zu den Verbindlichkeiten, die in Lockes vorvertraglichem Naturzustand herrschen, gehört das Recht, mangels einer öffentlichen Gewalt die Verletzung der einschlägigen göttlichen und natürlichen Gebote selbst zu ahnden. Wo das Gesetz selbst in die Hand zu nehmen ist, kann es jedoch an Unparteilichkeit oder an der erforderlichen Durchsetzungsmacht fehlen; Privatjustiz ist prekär. Den einzigen Ausweg, den Naturzustand zu verlassen, sieht Locke im Einrichten einer politischen oder bürgerlichen Gesellschaft (Kap. VII). Sie besteht in einem «politischen Körper», sprich: staatsförmigen Gemeinwesen, das seine Legitimation durch die freie Zustimmung der Mitglieder, vernunftbegabter Lebewesen, also durch einen Gesellschaftsvertrag erhält.
Bei der näheren Begründung spielen religiöse Argumente eine Rolle. Setzt man politische Modernität mit einem religions- bzw. theologiefreien, rein säkularen Denken gleich, so enthält Lockes Legitimation noch vormoderne Elemente, womit sich der Philosoph trotz seiner Wertschätzung von Vernunft und Erfahrung methodisch nie hinreichend von seiner puritanischen Herkunft emanzipierte. Man kann Lockes Position allerdings auch als religiösen Liberalismus qualifizieren. Nur ein Beispiel: Zu Beginn des Kapitels über die politische Gesellschaft, bei der Berufung auf die Sozialnatur des Menschen, führt er nicht die seit Platon und Aristoteles bekannten Sachargumente ein, vielmehr hat Gott, so heißt es im ersten Satz des ersten Kapitels, den Menschen nicht für das Alleinsein geschaffen. Die nähere Erläuterung der Sozialnatur erfolgt jedoch nicht aus theologischen, sondern aus Sach-, sprich Vernunftargumenten.
Laut Locke wird schon die erste Sozialstufe, die eheliche Gemeinschaft, «durch einen Vertrag zwischen Mann und Frau geschlossen». Trotz der «natürlichen» Unterordnung der Frau unter den Mann räumt er den Frauen substantielle Rechte, selbst das Recht zur politischen Herrschaft ein. Er reserviert jedenfalls das Legitimationsmuster, den Vertragsgedanken, nicht für die Aufhebung des (politischen) Naturzustandes. Dafür, für die Einrichtung eines Staatszustandes, erhält der Vertragsgedanke jedoch seine wichtigste Rolle. Drei Aufgaben hat er hier zu lösen: Er erklärt den Ursprung staatlicher Gewalt, bestimmt deren Funktion und legt deren Grenzen fest. Alle drei Aufgaben bündeln sich im Daseinszweck des Staates, in der Abwehr all der äußeren und inneren Gefahren, die den Grundgütern der Bürger, Leben, Freiheit und Eigentum, drohen.
Mit seinem typisch liberalen Zweck, der Gefahrenabwehr und dem damit verbundenen Eigentumsschutz, beantwortet Locke die selbstgestellte Frage: Welches Motiv veranlasst zweckrationale Personen, die ihren in Begriffen von Freiheit definierten Nutzen zu maximieren suchen, freiwillig ihrer natürlichen Freiheit und Macht zu entsagen und sich den Fesseln einer Rechts- und Staatsordnung zu unterwerfen, die fortan das Tun und Lassen zwangsbewehrt regelt? Lockes Antwort: Um die Gefahren der Parteilichkeit und der Machtlosigkeit zu überwinden, wird die Privatjustiz zugunsten eines gemeinsamen unparteiischen Schiedsrichters abgeschafft, der nach festen Regeln entscheidet. Bei Locke zeichnet sich der Naturzustand nicht wie bei vorangehenden Vertragstheoretikern durch einen latenten Krieg, sondern durch eine zweifache Rechtsunsicherheit aus: Die Menschen haben nicht immer genügend Macht, um ihr Recht durchzusetzen, und falls sie die Macht haben, droht die Gefahr, dass sie sich zu viel nehmen.
Nicht immer gibt sich Locke mit dem liberalen Staatszweck der Gefahrenabwehr mitsamt dem Schutz des Eigentums zufrieden. Er folgt zwar der überlieferten Trennung von Verbindlichkeiten, auf deren wechselseitige Anerkennung die Menschen einen Anspruch haben, und verdienstlichen Mehrleistungen. Vielleicht ein weiteres Mal vom Puritanismus seiner Jugend und frühen Jahre beeinflusst oder wegen eines religiösen Liberalismus, zählt er aber die Nächstenliebe zu dem, was die Menschen einander schulden. Ebenso spricht er schon im vorpolitischen Zustand von einer Haltung, die üblicherweise den verdienstlichen Pflichten zugeordnet wird, dem Wohlwollen.
Ihren ersten Höhepunkt erreicht die Zweite Abhandlung in der Eigentumstheorie, im berühmten Kapitel V. Eigentum ist danach eine notwendige Voraussetzung für das menschliche Leben; in der Bearbeitung der Natur beschafft sich der Mensch die materiellen Voraussetzungen seines Überlebens.
Nach einer vor Locke vertretenen Theorie gibt es ursprünglich einen Gemeinbesitz, den Besitz aller an der Erde und ihren Früchten. Das persönliche Eigentum, der Privatbesitz, entsteht durch Absprachen und Verträge, ist also schon an ein Rechts- und Staatswesen gebunden. Dagegen behauptet Locke (§§ 27 ff.), schon im Naturzustand erwerbe man Eigentum. Gott habe zwar die Erde und alle niederen Lebewesen allen Menschen gemeinsam gegeben. Im Naturzustand gebe es aber auch ein nichtkollektives Eigentum, als quasi göttliches Lehen das Eigentum an der eigenen Person. Auf der Grundlage dieses noch vorökonomischen Eigentums kann der Mensch durch seine Tätigkeit Eigentum im üblichen, ökonomischen Verständnis erwerben. Der entscheidende, eigentumsschaffende Faktor liegt also in der Arbeit, die sowohl von Gott geboten als auch durch die Bedürfnisse der Menschen erzwungen sei. Sie findet schon in Form von Jagd und Sammeln statt, wird aber noch deutlicher durch Ackerbau und Handwerk erbracht.
In dieser Arbeitstheorie erhält «das unbestreitbare Eigentum des Arbeitenden» (§ 27), die Arbeit, zwei Funktionen. Die Arbeit rechtfertigt die Unterscheidung von Mein und Dein und stellt als ökonomische Arbeitswerttheorie den wichtigsten wertschaffenden Faktor dar. Locke bestreitet nicht, die Dinge der Natur seien allen gemeinsam gegeben. Für eine weit bedeutsamere Grundlage des Eigentums hält er jedoch zwei andere, im Menschen selbst liegende Faktoren: dass der Mensch Herr seiner selbst und dass er Eigentümer seiner eigenen Person mitsamt der Arbeit ist, die diese Person vollbringt.
Locke leugnet nicht die Unterschiede im Arbeitseinsatz. Er hebt aber auf keine Unterschiede körperlicher Begabung ab, sondern nennt eine Differenz mit moralisierendem Unterton: Gott gab das zunächst unkultivierte Gemeingut – also nicht in der Arbeit, sondern erneut in einer göttlichen Gabe liegt Lockes erster Argumentationsschritt – den Fleißigen und Verständigen zum Gebrauch, statt sie den Launen von Querulanten preiszugeben. Allerdings dürfen auch die Fleißigen nicht beliebig viel Eigentum erwerben, denn sie unterliegen einer naturgesetzlichen Grenze, die sich freilich nicht so offensichtlich aus dem Schädigungsverbot rechtfertigen lässt: Man darf sich nur so viel zu Eigentum machen, wie man «zu irgendwelchem Vorteil für sein Leben nutzen kann, bevor es verdirbt» (§ 31).
Darf sich also, wer Nahrung durch Pökeln, Räuchern oder Kühl-Einlagern lange genießbar hält, beträchtliche Vorräte anlegen? Er würde zwar, was Locke für nutzlos und unredlich hält, zu viel an sich nehmen oder mehr nehmen, als er benötigt. Zwei Rückfragen legen sich aber trotzdem nahe: Warum braucht es, wenn das pragmatische Argument «nutzlos» schon greift, noch das moralische Kriterium der Unredlichkeit? Und wie verhält es sich mit den weder Fleißigen noch Verständigen: Sollen sie verhungern?
Während die Arbeit der Deckung des tatsächlichen Bedarfs, also einer traditionellen Subsistenzwirtschaft, dient, ermöglicht ein nicht verderbliches Tauschmittel, dem alle zugestimmt haben, Geld, ein weit produktiveres Wirtschaftssystem: Der Handel ermöglicht eine Ausweitung der Produktion und eine weit größere Anhäufung von Eigentum (§§ 46 ff.). Locke verschließt seinen Blick nicht vor kritikwürdigen Folgen, der Ungleichheit im Eigentum und der Entstehung von Lohnarbeit. Der Vorteil, eine weit produktivere Gesamtwirtschaft, komme jedoch allen – nicht nur den Wohlhabenden, sondern auch den Armen – zugute.
Ziehen wir zu Lockes politischer Ökonomie eine Zwischenbilanz: Nimmt man mehr tagespolitisch orientierte Schriften hinzu, namentlich die Betrachtungen über Zinssenkung, so zeigt sich Locke als ein liberaler, am Wohlergehen seines Landes, einer globalen Handelsmacht, orientierter Wirtschaftstheoretiker, zugleich als Vorläufer von Adam Smith: Durch die freie Entfaltung der Produktion und einen offenen Welthandel entsteht ein Reichtum, der für das eigene Gemeinwesen und all seine Bürger vorteilhaft ist.
Noch wichtiger als die Gefahrenabwehr ist in Lockes politischem Liberalismus das kompromisslose Veto gegen den Absolutismus, denn eine über allen Gesetzen stehende Staatsgewalt widerspreche ihrem vertragstheoretischen Ursprung. Weil das Gesetz der Natur niemandem eine absolute Macht zubilligt, kann sie auch nicht an den Staat übertragen werden, denn was man nicht besitzt, kann man nicht abtreten. Gemäß der beiden im Naturzustand drohenden Gefahren werden im staatsbegründenden Gesellschaftsvertrag zwei Rechte an die öffentlichen Gewalten übergeben: das Recht, das moralische Naturgesetz auszulegen, und das Recht, Verbrechen, die gegen das Naturgesetz begangen werden, zu bestrafen. Hingegen werden die drei Grundgüter Leben, Freiheit und Eigentum nicht übertragen. Weil man sich andernfalls in eine vom Naturgesetz verbotene Selbstversklavung begibt, darf die Staatsgewalt nur das Gemeinwohl fördern, das vor allem in der Sicherung der drei genannten Grundgüter besteht.
Hobbes’ Grundfrage lautete: «Wie schützt man den Einzelnen vor der Gewalt der Mitmenschen, dem potentiellen Bürgerkriegsfeind?» Locke stellt die Anschlussfrage zur Gefahr des Machtmissbrauchs: «Wie schützt man den Beschützten vor seinem Beschützer?» Darauf gibt er drei Antworten. Die erste heißt Gewaltentrennung: Die oberste, aber nicht souveräne Gewalt, die Legislative, ist von der exekutiven, für den Gesetzesvollzug verantwortlichen Staatsgewalt zu trennen. Hinzu kommt eine dritte Gewalt, die aber nicht wie heute üblich in der Judikative besteht, sondern der Exekutive zugeordnet wird. Die dritte, «föderativ» genannte Gewalt entscheidet über Krieg und Frieden, über Bündnisse und alle anderen außenpolitischen Fragen. Weil sie für die Außenperspektive zuständig ist, ist sie zwar ihrem Wesen nach von der exekutiven Gewalt verschieden, kann jedoch, räumt Locke ein, von ihr personell schwerlich getrennt werden.
Die zweite Antwort unterwirft die beiden nichtlegislativen Gewalten dem Recht (Prinzip der Legalität). Wird dagegen verstoßen, so handelt man tyrannisch. Ohne hier den «Erzphilosophen» (§ 74, FN), also Aristoteles, zu erwähnen, übernimmt Locke die auf ihn zurückgehende Unterscheidung einer entweder dem Gemeinwohl oder dem Herrscherwohl dienenden Macht.
Die dritte Antwort auf die Gefahr des Machtmissbrauchs zieht aus der fraglos ungeliebten biografischen Notwendigkeit, ins Exil zu gehen, im Gegensatz zu Hobbes keine absolutistische, sondern eine liberale Konsequenz. Zeitgeschichtlich ist sie als eine Warnung gegen den damaligen Monarchen, systematisch gesehen als Mahnung an die machthungrigen Herrscher aller Epochen zu verstehen. Mit zwei Argumenten setzt sich Locke für ein Widerstandsrecht ein. Nach dem ersten Argument (§ 202) beginnt die Tyrannis dort, wo eine Obrigkeit bei der Ausübung ihrer Amtsgewalt die gesetzlichen Kompetenzen überschreitet. Damit greift sie in fremde Rechte ein, wogegen man sich wie gegen Privatpersonen wehren darf.
Das zweite Argument aus dem Schlusskapitel XIX zur Auflösung der Regierung beruft sich auf die vorvertragliche Alternative zum Naturzustand: Wer mit Gewalt vorgeht, ohne dafür berechtigt zu sein, wer also das Prinzip der Legalität verletzt, versetzt sich in den Kriegszustand. Weil dieser alle bisherigen Verpflichtungen aufhebt, hat man das Recht, sich selbst zu verteidigen, also dem, der gewaltsam vorgeht, Widerstand zu leisten. Dieser legitime Widerstand braucht sich nicht mit einer bloß symbolischen Gegenwehr oder nur verbalen Opposition zufriedengeben. Um der Wirksamkeit willen darf er selbst zur Gewalt greifen und sogar einen Höhergestellten bestrafen, denn der Kriegszustand löst alle Rangordnung auf.
Gegen die seines Erachtens größte politische Gefahr, den Machtmissbrauch, hält Locke eine vierte Antwort bereit. Sie bildet den argumentativen Hintergrund des Widerstandsrechts: Selbst in einer (konstitutionellen) Monarchie liegt die Staatsgewalt letztlich bei der Instanz, von der alle politische Macht ausgeht, bei den Vertragsschließenden, dem Volk. Auch wenn er den Ausdruck noch nicht verwendet, ist Locke ein Pionier des Prinzips der Volkssouveränität.
Bei allen vier Antworten bleibt freilich eine Frage offen, die sowohl das Rechts- und Staatsdenken als auch die politische Praxis noch lange in Atem hält: Quis iudicabit? Locke nennt zwar einige Gesichtspunkte, etwa dass die Legislative sich am Eigentum der Untertanen vergreift. Bei der Frage, wann bei welchem Maß öffentlicher Abgaben, dieser Fall eintritt, wiederholt sich allerdings das Problem, wer denn entscheidet.
Seit Platon spielt im politischen Denken die Frage, wie man die künftige Führungsschicht erziehe, eine wichtige Rolle. Unter den Philosophen der Neuzeit ist Locke, obwohl in seiner Lebensführung ein eingefleischter Junggeselle, wieder ein politischer Pädagoge. Die Überlegungen der vom Umfang und der Nachwirkung her bedeutendsten Schrift Einige Gedanken über Erziehung (Some Thoughts Concerning Education, 1693) stammen aus praktischer Erfahrung – Locke war Erzieher von Shaftesburys Sohn –, sind für die Praxis gedacht und finden bis heute insbesondere in den britischen Elite-Internaten ein lebhaftes Echo. Locke gibt allerdings der häuslichen Erziehung, vorausgesetzt, sie findet in einem vornehmen Hause statt, den Vorzug.
Vom Glauben an den Menschen als eines vernunftbegabten Lebewesens und von der Macht der Erfahrung getragen, wenden sich die Gedanken gegen Überlieferung und Autorität sowie Spekulation. Ausdrücklich ohne eine durchkomponierte Struktur und in einem meist anspruchslosen, nur gelegentlich eleganten, selten zu aphoristischer Pointierung gelangenden Stil wendet sich Locke gegen abstrakte Regeln. Für die Leitaufgabe, eine spielerische Erziehung, die von den Anlagen und Neigungen des jeweiligen Kindes ausgeht, seien konkrete Vorschläge weit wichtiger. Locke entwickelt dafür eine einfühlsame Psychologie, weshalb man ihn auch den Vater der englischen Psychologie nennen darf.
Die Bezugsfigur der Gedanken ist der Gentleman, der «feine Herr», also der Sohn, weniger die Tochter und gewiss nicht das gemeine Volk, vielmehr die Aristokratie, vielleicht noch die Schicht, der Locke selbst entstammt, die gehobene Bürgerschaft, in beider Hinsicht vor allem die künftige politische, auch ökonomische Führungsschicht.
Die Aufgabe einer demokratischen Erziehung, die den unteren Schichten einen sozialen Aufstieg ermöglicht, ist Locke fremd. Die konkreten Empfehlungen legen mehr Wert auf die Ausbildung und Abhärtung des Körpers, auch auf Charakterbildung als auf gewisse Lernstoffe. Wie der Körper, so soll auch der Geist Mühsal und Beschwernis ertragen lernen und imstande sein, statt unvernünftigen Neigungen lieber den Empfehlungen der Vernunft zu folgen.
Zu den Kenntnissen, die der Heranwachsende erwerben soll, gehört das Vertrautsein mit der Ethik, hier vor allem der Bibel, mit dem Bürgerlichen Recht und der Gesetzgebung, um für Ämter, vom Friedensrichter bis zum Staatsminister, vorbereitet zu sein. Lockes Gedanken über Erziehung enden mit der Empfehlung, sich lieber auf die eigene Vernunft als auf Altüberkommenes zu verlassen. Die offensichtliche Bevorzugung der Söhne folgt aber der traditionellen Zurücksetzung von Frauen.
Dies trifft generell auf John Locke, den Erzvater des Liberalismus, zu: Der nach Voltaire «weise», nämlich sowohl hochgebildete als auch klug abwägende Philosoph ist persönlich ein freier Geist, der auf Erfahrung und Vernunft vertraut, auch die Bibel für unverzichtbar hält, der in Fragen der Staatsbegründung und Staatsorganisation, der Toleranz und der Erziehung zukunftsweisende, vielleicht vom Widerstandsrecht abgesehen aber kaum revolutionär neue Gedanken entwickelt. Nicht trotzdem, sondern eher deshalb, wegen seines wohlabgewogenen, «temperierten» politischen Denkens, entfaltet dieses eine enorme Wirkungsmacht, deutlich sichtbar in der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten.
Lektüreempfehlung Man lese aus der Zweiten Abhandlung über die Regierung das einleitende Kapitel I und vom Kapitel II («Der Naturzustand») die Paragraphen 4 und 14. Für das Eigentum ist § 44 einschlägig, für die Politische Gesellschaft sind es die Paragraphen 87–90 und 93, für die öffentlichen Gewalten die Paragraphen 143–148.