16. Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831)

Kampf um Anerkennung

Der Mensch gilt so, weil er Mensch ist, nicht weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener u.s.f. ist, – dies Bewusstsein, dem der Gedanke gilt, ist von unendlicher Wichtigkeit, – nur dann mangelhaft, wenn es etwa als Kosmopolitismus sich dazu fixiert, dem konkreten Staatsleben gegenüberzustehen.

Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 209

Der nächst Fichte und Schelling Dritte im Triumvirat des Deutschen Idealismus, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, hält Kant ebenfalls für den Gipfel der bisherigen Philosophie. Noch nachdrücklicher als die beiden anderen Idealisten will er aber dieses Denken überbieten und, unbescheiden wie viele große Denker, die Philosophie endgültig vollenden. Von Hegel selbst inspiriert, entsteht in seiner Schule die richtungsweisende Ansicht einer sachlogischen Entwicklung «von Kant bis Hegel». Demnach sinkt Kant zu einem philosophischen Vorgänger von Fichte und Schelling herab, die wiederum nur Vorstufen bilden, auf denen Hegel seine «Krönung des Idealismus» aufbaut. In der Vorlesung zum Antritt seiner Professur in Berlin nennt Hegel das stolze Leitmotiv seines gesamten Denkens: «Das verschlossene Wesen des Universums hat keine Kraft, welche dem Mute des Erkennens Widerstand leisten könnte.»

Am 27. August 1770 in Stuttgart geboren, kommt Hegel 18-jährig als Stipendiat an die württembergische «Kaderschmiede» für künftige Geistliche, auch Staatsbeamte, an das Tübinger Evangelisch-Theologische Stift. In den fünf Jahren des dortigen Studiums (1788–1793) erhält sein künftiges Denken die prägenden Einflüsse. Wie seine Mitstipendiaten und Freunde Hölderlin und Schelling lernt er die griechische und römische Antike schätzen. Er eignet sich die kritische Transzendentalphilosophie Kants und deren «Weiterentwicklung» durch Fichte an. Politisch lässt er sich von der Französischen Revolution beeindrucken. Und in Theologie und Religion sucht er das in Orthodoxie erstarrte protestantische Christentum nicht nur mit der Vernunft, sondern darüber hinaus auch mit der im Pietismus wichtigen religiösen Empfindung zu vermitteln. In diesem Vorhaben treten zwei seiner wesentlichen Denkmotive zutage: Die Diagnose der Epoche lautet auf Entzweiung, die angestrebte Therapie auf Versöhnung. Mit ihr will Hegel die bislang verfeindeten Richtungen, Aufklärung und Pietismus, zur Eintracht führen.

Zum Pfarramt fühlt er sich nicht berufen, verdient daher seinen Lebensunterhalt auf ähnliche Weise wie vor ihm Kant: als Hauslehrer. In dieser Zeit, zunächst in Bern, dann Frankfurt, erscheint anonym die erste Veröffentlichung, eine politische Schrift über das Waadtland, in der Hegel volles Verständnis für die Befreiung der Waadt von der Berner Oberherrschaft äußert.

Auch die zwei nächsten, allerdings nicht veröffentlichten Texte, die Magistratsschrift («Dass die Magistrate von den Bürgern gewählt werden müssen», 1798) und Die Verfassung Deutschlands (zur Lage des Deutschen Reiches, 1801) haben ein zeitpolitisches Thema. Dasselbe trifft auf die allerletzte Veröffentlichung, einen Aufsatz Über die englische Reformbill, zu. Schon diese biografische Klammer weist Hegel trotz seiner hochspekulativen Hauptwerke als einen eminent politischen Denker aus.

Im Januar 1801 trifft Hegel in der damals literarisch führenden deutschen Universitätsstadt Jena ein, um dort mit seinem Freund Schelling zusammenzuarbeiten. Schon nach wenigen Monaten habilitiert er sich mit einer naturphilosophischen Schrift De orbitis planetarum (Über den Planetenkreis). Er wird Privatdozent und im Februar 1805 außerordentlicher Professor der Philosophie.

Schon vorher, im Herbst 1801, veröffentlicht er seine erste philosophisch grundlegende Schrift Über die Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, die Kants und Fichtes Denken einer scharfen Kritik unterwirft. Hingegen verteidigt er Schellings «Identitätsphilosophie», die Natur und Geist miteinander zu versöhnen sucht. Er deutet aber auch seine eigene Position an, einen spekulativen Idealismus (von speculum: Spiegel), bei dem die Reflexion «sich selbst und alles Sein und Beschränkte» vernichtet, «indem sie es aufs Absolute bezieht».

In Jena gründet Hegel zusammen mit Schelling ein Kritisches Journal der Philosophie, in dem die beiden Herausgeber zugleich die Alleinautoren sind. Außer Texten zur theoretischen Philosophie, unter anderem «Über das Wesen der philosophischen Kritik überhaupt», veröffentlicht Hegel einen wichtigen politischen Beitrag, den sogenannten Naturrechtsaufsatz (1802/03): «Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie und sein Verhältnis zu den positiven Rechtswissenschaften». Hier setzt er sich mehrfach mit Kant auseinander, dem er unter anderem, aber wohl übereilt, die «Produktion von Tautologien» vorwirft, auch lehnt er dessen Friedenstheorie ab. Hegels zukunftsweisender Beitrag zum Rechts- und Staatsdenken, die Integration der Arbeits- und Berufswelt in die Politische Philosophie, die Theorie der bürgerlichen Gesellschaft, steht noch aus.

Gegen Ende der Jenaer Zeit erscheint das erste, bald weltberühmte Opus magnum, die den Autor als philosophisches Genie ausweisende Phänomenologie des Geistes (1807). Gemäß seinem Leitmotiv, das gesamte Universum der Erkenntnis zu erschließen, befasst sich Hegel mit dem Gesamtbereich sowohl des Natürlichen als auch des Menschlichen, einschließlich Moral, Gesellschaft, Religion und Kunst. Wegweisend für das politische Denken ist hier die Theorie vom Kampf um Anerkennung. (Weil die Vorrede Schellings Identitätsphilosophie kritisiert, kommt es zum Bruch: Auch Philosophen fällt es schwer, trotz sachlicher Differenzen eine Freundschaft aufrechtzuerhalten.)

Obwohl Hegel sich aus finanziellen Gründen gezwungen sieht, zunächst als Redakteur der Bamberger Zeitung (1807/08), danach als Rektor des Nürnberger Ägidiengymnasiums (1808–1816) zu arbeiten, findet er Zeit für eine zweite große Schrift, die Wissenschaft der Logik (1812 und 1816). Sie legt, was der Titel nicht erwarten lässt, auch die Grundlagen für die gesamte, sowohl Moral als auch Recht und Staat umfassende praktische Philosophie. Denn ein Kernausdruck der Logik, der «Begriff», wird als «Freiheit» verstanden.

Im selben Alter wie Kant, mit 46 Jahren, erhält Hegel in Heidelberg, dem neuen geistigen Mittelpunkt Deutschlands, eine ordentliche Professur. Neben der intensiven Arbeit an seinem System nimmt sich der Philosoph noch Zeit zu einem unmittelbar politischen Text, der Landständeschrift (1817). Im selben Jahr veröffentlicht er unter dem Titel Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1817, 2. Auflage 1827) sein dreiteiliges philosophisches System, bestehend aus «Logik», «Naturphilosophie» und «Philosophie des Geistes». Für das politische Denken ist der dritte Teil, die «Philosophie des Geistes», dabei die zweite Abhandlung «Der objektive Geist», einschlägig.

Die Heidelberger Zeit währt kurz (1816–1818), denn die jüngst gegründete Universität zu Berlin beginnt, Heidelberg den Rang abzulaufen, und Hegel nimmt das Angebot auf die Nachfolge Fichtes an. In den 13 Berliner Jahren entsteht ein einziger großer Text, Hegels politisches Hauptwerk, die Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse (1821). Wie schon die Enzyklopädie, so sind auch diese Grundlinien, auch Hegels Rechtsphilosophie genannt, nicht leicht zu lesen. Beide Schriften sind nämlich gedrängte Lehrbücher (Kompendien) für die Hörer, aus denen der Meister vorliest und Erläuterungen anschließt.

Dass Hegel in Berlin nur ein einziges bedeutenderes Werk veröffentlicht, darf über seine enorme Produktivität nicht hinwegtäuschen. Denn der Philosoph hält große Vorlesungen, in denen er einen außergewöhnlich weiten Erfahrungs- und Denkhorizont ausbreitet. Die mehrbändigen Vorlesungen über die «Philosophie der Geschichte» (1817/18 u. ö.), über «Ästhetik» (1817/18 u. ö.), über die «Philosophie der Religion» (1821 u. ö.) und über die «Geschichte der Philosophie» (1822/23 u. ö.) umfassen in der Ausgabe «Werke in 20 Bänden» nicht weniger als 40 Prozent.

Bevor Hegel am 14. November 1831 in Berlin an der Cholera stirbt, erscheint, wie gesagt, eine politische Schrift Über die englische Reformbill (1831).

Bei aller Wertschätzung der Antike gibt sich Hegel keiner klassizistischen Sehnsucht nach einer Wiederbelebung hin. Er hält die Epoche der Griechen und Römer mit ihrer «schönen Vereinigung» der Gegensätze für endgültig vergangen. Statt rückwärtsgewandt zu denken oder sich in einer Renaissance, einer Wiedergeburt der Antike, zu versuchen, wendet er sich der Gegenwart zu, für die er eine Entzweiung konstatiert, aus der die «Macht der Vereinigung verschwunden» sei.

Hegels Philosophie ist eine Metaphysik unter Voraussetzung von Kants Metaphysikkritik, die aber weder deren Methode, die transzendentale Argumentation, noch deren Ziel, eine die Vernunft in Grenzen weisende Kritik, übernimmt. Von einem stärker konstruktiven Interesse getragen, operiert Hegel in methodischer Hinsicht mit einer spekulativen Dialektik, um mit deren Hilfe die überlieferten Grund-Gegensätze, die von (objektiver) Substanz und Subjekt, von Realität und Idee, von Geschichte und Ewigkeit, aufzuheben.

Hegel bedient sich dabei einer auffallend fremdwortarmen Sprache. Die entscheidende Rolle spielen Ausdrücke, die wie «an sich», «für sich», «bei sich» und «an und für sich» aus der Umgangssprache stammen. Trotzdem muss man sich in Hegels Diktion mit ihren oft schwierigen Satzkonstruktionen gründlich einlesen, zugleich vor der Gefahr hüten, sie schlicht zu übernehmen.

Zu Recht verlangt Hegel die Anstrengung des Begreifens. Dafür setzt er die Methode der Dialektik ein. In der Praxis dieses Vorgehens erweist sich Hegel als Genie für Zusammenhänge und deren Dynamik. Wie kein anderer Philosoph beherrscht er die Fähigkeit, Gedanken zu verflüssigen, womit er sie vor zweierlei bewahrt: sowohl vor nichtnotwendigen, rein zufälligen Inhalten als auch vor einer für den Geist tödlichen Erstarrung. Auch wenn es dem Mitdenker dabei schwindlig werden kann, bringt es der Philosoph zu einer kaum überbietbaren Meisterschaft. Hegel beherrscht die Fähigkeit, gegen sich selbst zu denken, sich dabei zu beobachten und das Beobachtete aufzuzeichnen. Dabei kann das Denken sich ständig fortbilden und am Ende, so der Anspruch, im Absoluten seine nicht mehr steigerungsfähige Vollendung finden.

Der methodische Kern dieses Vorgehens liegt in der bestimmten Negation: Indem sich eine Aussage, die These, bei näherer Betrachtung in einer wohlbestimmten Hinsicht, so die Gegenaussage, die Antithese, als falsch erweist, zeichnet sich in der Bestimmtheit des Falschen etwas Neues ab, das sich als besser und wahrer erweist. Da das Vorangehende aber nicht schlechthin, sondern nur in gewisser Hinsicht als falsch erscheint, behält das Neue, die Synthese, die begrenzte Wahrheit des Alten bei. Das Aufheben, von dem Hegel dann spricht, hat daher drei Bedeutungen, es meint ein Bewahren, ein Beseitigen und ein Hochheben.

Kant nimmt in seiner Kritik der reinen Vernunft eine Reform, die kopernikanische Wende der Denkungsart, vor. Hegel dynamisiert in der Phänomenologie des Geistes Kants einmalige, große Reform zu einem Prozess vieler kleinerer, sich stets überbietender Neuerungen, die Zug um Zug zu einer immer besseren und schließlich zur schlechthin richtigen Gestalt des Bewusstseins führen.

Greifen wir exemplarisch den Anfang der Phänomenologie heraus, das unmittelbare Wissen, die sinnliche Gewissheit. Nach ihrem Selbstverständnis hat sie von ihrem «Gegenstande noch nichts weggelassen», so dass sie als die umfassendste und «wahrhafteste» Erkenntnis erscheint. Sie richtet sich jedoch auf ein «Dieses» im «Jetzt» und «Hier». Diese Wahrheit kann durch ihr Aufschreiben, erklärt Hegel, nicht verlorengehen: «Dieses hier und jetzt» kann zum Beispiel mein Stehpult um 9.30 Uhr in meinem Arbeitszimmer sein, aber auch der Stift, mit dem ich schreibe, und so weiter. Folglich liegt die Wahrheit des «Dieses» in allem «Diese», entsprechend die Wahrheit des «Jetzt» in allem Jetzt, mithin nicht in einer unmittelbaren, zugleich nichts weglassenden Wahrheit, sondern in einem inhaltslosen Allgemeinen. Dieses gewinnt erst dann einen Inhalt, wenn man das Ding meint, auf das man beim «Dieses» zeigt.

Dieses Dinges, etwa des Stehpults, ist man sich aber nicht mehr unmittelbar gewiss, sondern man nimmt es wahr, womit man die zweite Bewusstseinsstufe erreicht: Nach der sinnlichen Gewissheit von Diesem, Hier und Jetzt findet man sich auf der Stufe der Wahrnehmung eines Dinges. Seinen Höhepunkt und zugleich die Endstufe der damit begonnenen Erfahrung mit sich selbst gewinnt das Bewusstsein im Standpunkt der spekulativen Philosophie, dem, so Hegels unbescheidener Anspruch, erst von ihm erreichten «absoluten Wissen».

Gemäß der Dialektik werden die verschiedenen Gestalten nicht nebeneinander platziert, vielmehr erscheinen sie in einer Hierarchie, die dem Bewusstsein aber nicht von außen herangetragen wird. Sie ergibt sich aus den Erfahrungen, die das Bewusstsein mit sich selbst macht.

Die Phänomenologie des Geistes enthält keine Rechts- und Staatsphilosophie. Sie befasst sich aber mit zwei bedeutenden Elementen von Hegels späterem politischen System, mit dem Rechtszustand und der Moralität. Hinzu kommen zwei wichtige, bald maßstabsetzende und zu Recht bis heute prominente Theoriestücke. Das eine Lehrstück, die Diagnose der Französischen Revolution, steht unter dem treffenden Titel «Die absolute Freiheit und der Schrecken». Im anderen Lehrstück, dem wohl berühmtesten, auch politisch relevanten Kapitel «Herrschaft und Knechtschaft», geht es um die «Selbständigkeit und Unselbständigkeit des Selbstbewusstseins». Dieses Kapitel enthält eine Gesellschaftstheorie, die weit grundlegender als die meisten Theorien ansetzt. Es argumentiert aber auch umfassender, weshalb man es nicht, wie häufig, auf eine Sozialtheorie verkürzen darf.

Nach einer bis zu Platon und Aristoteles zurückreichenden Tradition der Anthropologie ist der Mensch für sich allein weder zum Überleben noch zum guten Leben fähig. Sowohl aus biologischen Gründen – wegen der Hilfsbedürftigkeit der Kinder und um der Fortpflanzung willen – als auch um mithilfe der Sprach- und Vernunftbegabung ein gelungenes Leben zu führen, verbinden sich die Menschen zu einer Rechts- und Nutzengemeinschaft. Nach einer alternativen Anthropologie, einer «modernen» Sicht – obwohl sie erneut schon in der Antike, von Sophisten vertreten wird –, geht es dem Menschen um die Selbstbehauptung angesichts der Konkurrenz von seinesgleichen. Ohne die zwei Optionen und ihre wichtigsten Vertreter zu nennen, schließt Hegels Herr-Knecht-Kapitel sich in der Sache vornehmlich der zweiten Option an. Freilich spielt die Herr-Knecht-Beziehung auch in der ersten Option, zumindest in Aristoteles’ Variante, eine Rolle.

Das Großartige von Hegel liegt in einer radikalen, nämlich bis zu den Wurzeln reichenden Vertiefung der Überlegung und zugleich in deren Erweiterung. Die Vertiefung: In der Konkurrenz mit seinesgleichen kommt es dem Menschen nicht erst auf Selbstbehauptung, sondern schon auf die Konstitution eines Selbst an. Um diese Konstitution zu begreifen, muss man zusätzlich das Themenfeld stark öffnen. Hegel erweitert die oft bloß sozial-, rechts- oder staatstheoretisch geführte Debatte um drei weitere Themen: um die Auseinandersetzung des Menschen mit sich selbst, um die Auseinandersetzung mit der Natur und um den zu den drei Dimensionen gehörenden Begriff der Arbeit.

Vergleicht man exemplarisch das Herr-Knecht-Kapitel mit Hobbes’ Theorem des Naturzustandes, so springt Folgendes ins Auge: Hegel überwindet die Reduktion der menschlichen Antriebskräfte auf drei konfliktverursachende Leidenschaften und den daraus resultierenden Krieg aller gegen alle. Er bestreitet weder die Konkurrenz noch deren gegebenenfalls tödlichen Gewaltcharakter und auch nicht, dass es glücklicherweise Gegenkräfte gibt, drei Friedensleidenschaften und die ihnen dienende Vernunft. Im Austragen der gewaltbereiten Konkurrenz – um diese Seite herauszugreifen – entdeckt er aber eine weit grundlegendere Aufgabe und schließliche Leistung:

Die Menschen sind zunächst keine fertigen Subjekte, sondern müssen sich das dafür erforderliche Selbstbewusstsein erst in einem dynamischen Prozess erarbeiten. Im vielschichtigen Verlauf des primär nicht physischen, sondern geistigen Vorgangs, eines veritablen «Kampfs um Anerkennung», greifen drei Dimensionen ineinander: die persönliche Auseinandersetzung des Menschen mit sich, die soziale mit seinesgleichen und die wirtschaftliche mit der Natur. Das Selbstbewusstsein tritt dabei zunächst als schlichtes Streben nach Selbsterhaltung auf, stößt jedoch auf das konkurrierende Streben eines anderen – «man kommt sich ins Gehege» – und führt, da die eine Selbsterhaltung der anderen widerstreitet, zu einem «Kampf auf Leben und Tod».

Wer nun im Rahmen dieses Kampfes sich ans Überleben klammert, folglich den Tod scheut, unterwirft sich demjenigen, der sein Leben wagt. Er wird zum Knecht, der andere zum Herrn. Dabei vertritt der Herr laut Hegel die Bewusstseinsebene des Verstandes, der Knecht, weil er das physische Überleben für das Wichtigste hält, die Ebene der Sinnlichkeit. Da der Knecht aber, durch den Herrn zur Arbeit gezwungen, sich in eben dieser Arbeit mit der Natur auseinandersetzt, statt sie direkt zu genießen, wird er in der eigenen Begierde gehemmt. Der Herr hingegen, der den anderen arbeiten lässt, befindet sich in der Rolle des bloß genießenden, konsumierenden Individuums. Der Knecht befreit sich, eben weil er seine Begierde hemmen muss, vom bloß naturgemäß Vorhandenen. Damit kehrt sich die anfängliche Rangordnung um: Der Knecht erweist sich als dem Herrn überlegen, wodurch er zum eigentlichen Herrn aufsteigt, während der vorher Überlegene, der Herr, als Knecht dasteht.

Der Kern dieses Kampfes um Anerkennung besteht in einer «Selbsterkenntnis im Anderen». Dabei ist der Ausdruck «Anderer» zwar in erster Linie personal zu verstehen: Man erkennt sich erst und nur in einer zweiten Person. Der Ausdruck hat aber auch eine apersonale Seite: Die Selbsterkenntnis kommt durch eine soziale Anerkennung allein noch nicht zustande. Sie bedarf auch der durch Arbeit, also ein ökonomisches Handeln vermittelten Auseinandersetzung mit der vor- und außerpersonalen Welt. Weil die Natur durch die entsprechende Bearbeitung gezwungen wird, dem Menschen seine zum Leben notwendigen Mittel bereitzustellen, findet nicht etwa zusätzlich zum sozialen Kampf um Anerkennung, sondern systematisch zugleich ein zweiter, jetzt ökonomischer Kampf um Anerkennung statt. Im Herr-Knecht-Kapitel kommt es dabei weniger auf die innerökonomische Seite, die Arbeitsteilung und wirtschaftliche Konkurrenz, als auf die Außenperspektive der Ökonomie, die Bearbeitung der Natur, an.

Um zur sozialen Dimension zurückzukehren: Die wechselseitige Anerkennung, die erst nach schmerzlichen Erfahrungen gelingt, hat, sobald sie Rechtscharakter annimmt, einen unschätzbaren Vorteil. Im Herr-Knecht-Kapitel kann Hegel noch nicht darauf eingehen, in seiner Rechtsphilosophie wird er dem aber nicht widersprechen: Die rechtsförmige wechselseitige Anerkennung leidet nicht unter Knappheit. Der Status einer Rechtsperson und eines Staatsbürgers ist kein knappes Gut, er kann jedem gewährt werden.

Hegel entwickelt sein System des politischen Denkens, die Rechts- und Staatsphilosophie, vor dem Hintergrund seines mittlerweile ausgebauten philosophischen Systems. Die einschlägige Schrift, Hegels politisches Hauptwerk, ein «Leitfaden zu den Vorlesungen», trägt den Titel Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundriss (kurz: Grundlinien).

Eine souverän gedrängte Fassung findet sich schon in der Enzyklopädie, deren Teil «Der objektive Geist» die drei Hauptschritte der Grundlinien abhandelt, das Recht (hier ohne die spätere Qualifizierung als «abstrakt»), die Moralität und die Sittlichkeit. Auch deren jeweils drei Teilschritte finden sich, mit geringer Abweichung, in den dortigen Formulierungen wieder. Um den Gedankengang der Rechtsphilosophie nachzuvollziehen, braucht man aber den genannten Teil der Enzyklopädie nicht zu lesen. Hegels politisches Denken lässt sich weitgehend ohne Kenntnis des philosophischen Systems verstehen. Nur die Überlegungen zur Gewaltenteilung fallen in den Grundlinien – unnötig – spekulativ aus, statt an die erforderliche Machtkontrolle zu erinnern. Und die Monarchie wird mit theologisch-politischen Argumenten legitimiert.

Gegen die – angeblich bei Kant drohende – Gefahr einer rein gedachten Konstruktion normativer Ansprüche wird der Gegenstandsbereich der Rechts- und Staatsphilosophie erheblich erweitert. Statt sich mit einer normativen Theorie, einer apriorischen Rechts- und Gerechtigkeitstheorie zu begnügen, kommt es Hegel auch auf die motivationalen, gesellschaftlichen und vor allem institutionellen Faktoren an, die einer Neuordnung die wirklichkeitsprägende Kraft verleihen.

In den Grundlinien nennt sogleich der erste Satz die Aufgabe (hier und in anderen Zitaten verzichte ich auf Hegels Kursivierung und gelegentlich kürze ich): «Die philosophische Rechtswissenschaft hat die Idee [«die Vernunft eines Gegenstandes»: § 2] des Rechts, den Begriff des Rechts und dessen Verwirklichung zum Gegenstande» (Grundlinien, § 1). Dabei spielt der Staat, allerdings nicht schon der «Not- und Verstandesstaat», eine herausragende, zugleich umfassende Rolle. Denn er hat für Hegel keinen geringeren Rang, als «das sittliche Universum» zu sein, das es laut der «Vorrede» als etwas in sich Vernünftiges zu begreifen gilt. Das Herrschaft-Knechtschaft-Verhältnis taucht dabei nur indirekt, im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft beim Thema «Bedürfnisse und deren Befriedigung», auf.

Das rechts- und staatstheoretische Leitprinzip bildet der freie Wille. Von ihm will Hegel zeigen, wie er unter der Bedingung der Moderne, einer Epoche der Entfremdung, nach und nach seine volle, die Entfremdung aufhebende Wirklichkeit erreicht. Methodisch folgt er wieder der Dialektik. Selbst wer mit ihrer Argumentationsweise und den sich wiederholenden Ausdrücken Schwierigkeiten hat, kann nicht leugnen, dass Hegel zu einer Fülle höchst treffender Bestimmungen und Einsichten gelangt. Die indikative, deskriptive Sprache, in der sie vorgetragen werden, darf freilich nicht über die stark normative Elemente hinwegtäuschen, die in die Bestimmungen eingehen.

Hegel weicht von seiner überragenden Bezugsfigur, Kant, sowohl im Verständnis der Freiheit und des Rechts als auch in der Argumentationsweise deutlich ab. Er teilt jedoch die grundlegende Wertschätzung des Rechts und des Staates. Kant nennt das Recht im Ewigen Frieden den «Augapfel Gottes» (Fn. zum Ersten Definitivartikel), nach Hegels Grundlinien ist es «etwas Heiliges überhaupt» (§ 30). Die Freiheit, damit beginnen die Unterschiede, begreift er aber nicht negativ als Tun-und-lassen-Dürfen, sondern positiv als «Bei-sich-selbst-Sein-im-anderen». Folgerichtig gibt er sich nicht mit einer allgemeinverträglichen Freiheit zufrieden, sondern zielt auf das «Dasein des freien Willens», wobei «Dasein» so viel wie «volle Wirklichkeit» bedeutet.

Gemäß der dialektischen Methode baut sich Hegels Rechtsphilosophie aus drei Teilen auf. Der ersten Stufe, der These, geht es um das abstrakte Recht, dessen Subjekt der Einzelne als rechtsfähige Person ist. Ähnlich wie bei Kant steht sie unter einem Gebot, das in der Sache den Rang eines uneingeschränkt gültigen Sollens, eines kategorischen Imperativs, hat: «Sei eine Person und respektiere die anderen als Personen» (Grundlinien, § 36).

Auf diese Stufe, die Idee in ihrer Unmittelbarkeit, folgt als Antithese die von Hegel als Entzweiung bestimmte Moralität. Denn bei ihr steht der Innerlichkeit des Guten ein Äußeres, die vorhandene Welt, gegenüber. Hegel spricht vom Standpunkt des Sollens oder der Forderung (§ 108). Auf der dritten Stufe schließlich, der «Einheit und Wahrheit» (§ 33) der beiden ersten Momente, ihrer Synthese, existiert die Freiheit ebenso als Substanz wie als subjektiver Wille. Es ist die Stufe der Sittlichkeit, bestimmt als ein «freies Bei-Sich-Selbst-Sein im anderen». Jede Stufe besteht ihrerseits aus drei Abschnitten, in denen der freie Wille zu immer gehaltvolleren Gestalten gelangt.

Obwohl auch Hegel beim zurechnungsfähigen Subjekt, der Person, ansetzt, beginnt er nicht wie Kant mit dem inneren Mein und Dein, dem angeborenen Recht jedes Menschen. Er fängt vielmehr mit dem Eigentum an Sachen an, das unter den drei einschlägigen Gesichtspunkten, der Besitznahme, dem Gebrauch der Sache und der Entäußerung des Eigentums, betrachtet wird.

In der Entäußerung zeichnet sich der Übergang zum zweiten Abschnitt, dem Vertrag, ab. Daran schließen sich unter dem Titel «das Unrecht», Überlegungen zu Betrug und zu Zwang und Verbrechen einschließlich der Strafe an. Letztere ist ihrem Wesen nach nicht Abschreckung oder Besserung, sondern Wiedervergeltung. Nur dadurch werde der Verbrecher als eine vernünftige Person geehrt (§ 100).

Innerhalb der Überlegungen zum Vertrag verwirft Hegel die neuzeitlichen Muster der Staatslegitimation, die etwa von Hobbes, Spinoza, Locke und Rousseau, auch noch von Kant vertretene Theorie des Gesellschaftsvertrags. Denn ob man einen Vertrag aller mit allen oder einen Vertrag «dieser aller mit dem Fürsten oder der Regierung» annehme – der Staat werde der Willkür der Einzelnen unterworfen (§ 75). In Wahrheit lebe jedermann immer schon im Staat, der den Rang eines Zweckes an und für sich habe. Vertragstheoretiker wie Kant würden dem Selbstzweckcharakter aber nicht widersprechen, wohl die legitimatorische und kriteriologische Aufgabe des Gesellschaftsvertrages hervorheben. Als ein «ursprünglicher Contract» und als eine «bloße Idee der Vernunft» gebe er den «Probierstein der Rechtmäßigkeit eines jeden öffentlichen Gesetzes» ab: Der Gesetzgeber darf, wie Kant sagt (s. Kap. 15.2), seine Gesetze nur so geben, «als sie aus dem vereinigten Willen eines ganzen Volks haben entspringen können» (Gemeinspruch, II., Folgerung).

Die Antithese zum abstrakten Recht und formellen Subjekt bildet das moralische Subjekt mit seiner normativen Selbstbestimmung im innerlich freien Willen. Hegel erörtert ihn unter dem Titel der Moralität, die er in drei Abschnitten entfaltet, in «Der Vorsatz und die Schuld» als These und in «Die Absicht und das Wohl» als Antithese. Die Synthese findet im Gewissen statt, bestimmt als die «Gesinnung, das, was an und für sich gut ist, zu wollen» (§ 137).

Die Grundlinien erreichen ihren Höhepunkt, die Synthese als Versöhnung von abstraktem Recht und subjektiver Moralität, die Sittlichkeit, in einem Willen, der sowohl äußerlich, qua Recht, als auch innerlich, qua Moralität, frei ist. Darunter sind Sozialformen und Institutionen zu verstehen, in denen sich ein freies Selbstbewusstsein wiedererkennen und anerkennen kann. Weil sie ein weit höheres Maß an Vernünftigkeit realisieren, haben sie eine «unendlich festere Autorität und Macht als das Sein der Natur» (§ 146).

Zu seinem Gedanken der Sittlichkeit sieht Hegel Entsprechungen in der antiken Polis, namentlich bei deren Theoretiker Aristoteles. Nach diesem ist das Leitziel der menschlichen Praxis, die Eudaimonia, das Glück, für den einzelnen Bürger und für die Polis dasselbe. Ähnlich begreift Hegel, der große Neoaristoteliker der Neuzeit, die höchste Stufe der Freiheit, die Sittlichkeit, als die Einheit der Moralvorstellungen der Individuen mit den Moralvorstellungen der «sittlichen Mächte», mit Recht, Sitte und Religion sowie ihren konkreten Gemeinwesen und Staaten. Über dieser Gemeinsamkeit darf man jedoch nicht den grundlegenden Unterschied übersehen: Bei Hegel tritt an die Stelle der Aristotelischen Lehre der persönlichen Hausgemeinschaft (oikos) die Theorie der anonymen bürgerlichen Gesellschaft, mit der die neuere Nationalökonomie bzw. Volkswirtschaftslehre in die Rechts- und Staatstheorie integriert wird.

Die auf der Stufe der Sittlichkeit gewonnene Einheit macht die Freiheit zur zweiten Natur des Menschen. Dieses Stadium wird freilich nicht zu Beginn, sondern erst in einem weiteren Prozess gewonnen, bei dem erneut drei Stufen zu durchlaufen sind. Ihr Wesen zeigt sich allerdings nicht, wie in dialektischen Prozessen üblich, erst auf der obersten, sondern schon ab der untersten Stufe. Alle drei Stufen haben nämlich den Charakter einer gelungenen Kommunikation, da sie mit ihren Rechten und Pflichten den Mitgliedern zu einem freien Zusammenleben mit ihresgleichen verhelfen.

In die Beschreibung des Prozesses gehen deutlich normative Elemente ein. Hegel beginnt beim «unmittelbaren Bei-sich», der durch Liebe geprägten Familie. Gemäß einem weiteren Dreischnitt gliedert sich diese in die Ehe, in der eine zunächst nur äußerliche Einheit aufgrund freier Einwilligung in eine geistige Einheit einer selbstbewussten Liebe umgewandelt wird. Gemäß der Antithese bedarf die Ehe eines «bleibenden und sicheren Besitzes, eines Vermögens» (§ 170), für dessen Erwerb nach Hegel vornehmlich der Mann zuständig sei. Nach der Synthese haben die den Fortgang der Menschheit garantierenden Kinder das Recht, aus dem gemeinsamen Familienvermögen ernährt und erzogen zu werden.

Mit der Volljährigkeit der Kinder entsteht die Möglichkeit neuer, eigener Familien, worin sich der Übergang in den nächsten Schritt, die Antithese innerhalb der Sittlichkeit, abzeichnet. Ihr Wesen besteht in der Entfremdung von der Familie, auch von Geschichte und Religion. Es ist die als «bürgerliche Gesellschaft» bezeichnete Wirtschafts- und Arbeitsgesellschaft, die einerseits für die Entwicklung der Freiheit notwendig ist, andererseits aber ihres Problems von Armut und Reichtum nicht Herr wird. Der Sozialstaat als Korrektiv tritt hier nicht in den Blick. Damit die bürgerliche Gesellschaft «funktioniert», braucht sie eine Rechtsordnung, die Hegel als Not- und Verstandesstaat bezeichnet.

In der Vorrede zu den Grundlinien polemisiert Hegel gegen das Sollen und das Postulieren, womit er der Anpassung an die bestehenden, gewiss noch nicht vorbildlichen Rechts- und Staatsverhältnisse Vorschub zu leisten scheint. Aber schon sein Not- und Verstandesstaat hat den Rang eines Rechtsstaates, der den Menschen als Menschen zum Subjekt erklärt. In der vielzitierten Formulierung aus dem Abschnitt über die «Rechtspflege» (§ 209) heißt es wie in Stein gehauen: «Der Mensch gilt so, weil er Mensch ist, nicht weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener, u. s. f. ist.» Im entsprechenden Rechtsstaat durchdringt die Freiheit in der Gestalt des Rechts alle Bereiche. Selbst das Strafrecht orientiert sich wie gesagt an der Persönlichkeit des Verbrechers und der ihm deshalb zurechenbaren Schuld.

Den Höhepunkt der Sittlichkeit, ihre Synthese, zugleich den Gipfel von Hegels gesamter Rechtsphilosophie, bildet als «vermitteltes Bei-sich» der Staat, der jetzt weit mehr als lediglich ein Not- und Verstandesstaat ist. Als ein Gemein-wesen im wörtlichen Sinn ist er die für das Gemeinwohl zuständige öffentliche Institution, die «Wirklichkeit der sittlichen Idee». Weil in ihr die Freiheit ihre vollendete Gestalt erlangt, ist es für den Menschen nicht «etwas Beliebiges», sondern «höchste Pflicht», also erneut ein kategorischer Imperativ, Mitglied eines Staates zu sein. Auf diese moderne, nämlich nicht mehr eudaimonie-, sondern freiheitsbasierte Weise erneuert Hegel Aristoteles’ politische Anthropologie: dass der Mensch von Natur aus ein politisches Lebewesen ist. Erst im Zusammenleben von Freien und Gleichen kann er nämlich beide, sowohl seine Vernunftnatur als auch seine auf Recht und Gerechtigkeit hin angelegte Natur, vollenden.

In der Rechtsphilosophie sind gemäß Hegels Dialektik die jeweils höheren Stufen wieder an die unteren zurückgebunden und bilden zugleich deren Bedingungen der Möglichkeit. Weder lässt sich das Recht ohne Moralität noch diese ohne Sittlichkeit begründen. Einerseits muss sich der Privatbürger der bürgerlichen Gesellschaft in den Institutionen der Familie und des Staates versittlichen. Andererseits bauen diese Institutionen von Sittlichkeit auf dem Recht und der Moralität auf.

Es lässt sich nicht bestreiten, dass Hegel mit der zitierten Formulierung, der Mensch zähle, weil er Mensch ist, zur Begründung des modernen Staates beiträgt. Zu ihm gehören Geschworenengerichte, eine öffentliche Rechtspflege, die Judenemanzipation und die Toleranz gegenüber Sekten. Modern ist auch Hegels wahrhaft tiefgründige Theorie der Anerkennung, die zu Recht bis heute immer wieder erinnert, freilich selten in ihrer mehrdimensionalen, nicht bloß sozialtheoretischen Bedeutung erneuert wird.

Auf der anderen Seite plädiert Hegel für die (wenn auch konstitutionelle) Monarchie, lehnt das neuere Verständnis der Volkssouveränität ab und lässt eine ständisch gegliederte Gesellschaft zu. Den demokratischen Rechtsstaat legitimiert er also nur zur Hälfte. Er rechtfertigt lediglich die rechtsstaatliche, nicht auch die demokratische, oder wie bei Kant: republikanische Seite. Vorbildlich wiederum ist die Integration der ökonomischen Welt, der bürgerlichen Gesellschaft, in die Rechts- und Staatstheorie, ferner das Gewicht, das er sozialen und politischen Institutionen einräumt.

Auf die Staatstheorie folgt als letzter Abschnitt der Grundlinien unter der Überschrift «Die Weltgeschichte» eine denkende Betrachtung der Geschichte, also eine Geschichtsphilosophie.

Weil Hegel sie an herausragender Stelle, am Ende seiner Rechtsphilosophie, platziert, scheint sie gemäß der dialektischen Methode den Gipfel einer fortlaufenden Steigerung, mithin den rechts- und staatstheoretischen Höhepunkt zu bilden. Dieser Schein trügt. Zwar findet in den vorangehenden Abschnitten eine kontinuierliche Höherentwicklung, eine Klimax statt. Vom abstrakten Recht über die Moralität entwickelt sich die «Idee des an und für sich freien Willens» schließlich zur Einheit und Wahrheit beider Momente. In ihr, der Sittlichkeit, wiederum schreitet Hegel vom natürlichen Geist, der «Familie», über das Stadium der Entzweiung, die «bürgerliche Gesellschaft», zur objektiven Freiheit, dem «Staat», voran.

Innerhalb des Abschnitts «Der Staat» jedoch kommt es überraschenderweise statt zu einer weiteren Stufung jetzt zu einem Rückschritt. Auf die ständige Klimax folgt eine Anti-Klimax. Denn der Gegensatz zum freien Willen, die vollen Rechtsverhältnisse und das sittliche Ganze, wird schon auf der ersten Stufe, dem «inneren Staatsrecht», erreicht. Auf der zweiten Stufe dagegen, dem «äußeren Staatsrecht», wird das sittliche Ganze der Zufälligkeit ausgesetzt. Und der letzte Abschnitt wird hinsichtlich des freien Willens ambivalent bestimmt.

Die Weltgeschichte ist durchaus eine Synthese von innerem und äußerem Staatsrecht, was sich fraglos auf eine weitere Steigerung, sogar deren Vollendung beläuft. Allerdings, so das negative Moment, die Anti-Klimax, besteht die Steigerung in einem nur subjektiven «Gericht», das ausdrücklich nicht als vernünftig gilt. Im Gegenteil, heißt es in den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, ist die Weltgeschichte eine «Schlachtbank, auf welcher das Glück der Völker, die Weisheit der Staaten und die Tugend der Individuen zum Opfer gebracht worden» sind. Trotzdem beharrt Hegel auf seinem philosophischen Grundgedanken, die allgemeine Vernunft behaupte sich gegen die partikulare Willkür (von Völkern, Staaten und Individuen). Freilich darf man beim Gedanken der Schlachtbank nicht in Zeiträumen von Generationen, muss vielmehr in Jahrhunderten, sogar Jahrtausenden denken.

Dass die Rechtsphilosophie in einer Weltgeschichte als «Schlachtbank» und nicht wie bei Kant im höchsten politischen Gut, dem ewigen Frieden, gipfelt, trägt Hegel kaum Sympathien ein. Von heute aus gesehen, von der Dominanz einer universalistischen Rechtsethik mit dem Gedanken von Menschenrechten und einer zunehmenden Verrechtlichung der zwischenstaatlichen Verhältnisse, erscheint Kant als überlegen. Überdies verwirft Hegel wie gesagt die Idee eines ewigen Friedens, sieht Kriege als für die «sittliche Gesundheit» der Völker unverzichtbar an und begnügt sich für die zwischenstaatlichen Beziehungen mit einem Völkerrecht, das auf eine Weltrechtsordnung, selbst auf dessen bescheidene Vorstufe, einen Staatenbund, verzichtet.

Um den Fortschritt zu vollziehen, bedient sich nach Hegel die Vernunft zweier «bewusstloser Werkzeuge», der «welthistorischen Individuen» – die Grundlinien führen keine Beispiele wie Alexander und Caesar an – als auch der «Volksgeister», worunter im Sinne von Montesquieu oder auch Herder die Art zu verstehen ist, wie Völker ihr Recht und ihre Verfassung organisieren. Hegel spricht vom «besonderen Nationalcharakter eines Volkes» (§ 3). Beide Subjekte, die Individuen und die Volksgeister, folgen ihren eigenen Interessen und verhelfen trotzdem, so die List der Vernunft, der Vernunft qua freiem Willen zu Erfolg. Wenn Hegel dabei von Weltgeist spricht, so meint er keine abstruse Kraft, sondern die gesamte, namentlich das Recht, die Familie, die Wirtschaftswelt und die Gemeinwesen umfassende sittliche Welt der Menschheit.

Der Abschnitt über die Weltgeschichte endet mit der dialektisch interpretierten Abfolge von vier «welthistorischen Reichen»: dem orientalischen, dem griechischen, dem römischen und dem germanischen Reich. Hegel fängt dabei noch einmal von unten an. Denn das orientalische Reich erfüllt nicht die Kriterien, die für den vorausgehenden Teil, das «innere Staatsrecht», gelten. Weil im «orientalischen Reich» die Staatsverfassung und Gesetzgebung mit Religion verquickt und die «individuelle Persönlichkeit rechtlos» ist, werden selbst die Bedingungen des systematisch ersten Teils, das «abstrakte Recht», nicht erfüllt (§ 355).

Auf der zweiten Stufe, in der «schönen sittlichen Individualität» des «griechischen Reiches», findet der Weltgeist «zur individuellen Geistigkeit, zur Schönheit und zur freien heiteren Sittlichkeit» (§ 356). Auf der nächsten Stufe, der «abstrakten Allgemeinheit» des «römischen Reiches», wird das sittliche Leben «in die Extreme persönlichen privaten Selbstbewusstseins und abstrakter Allgemeinheit zerrissen» (§ 357). Beim «germanischen Reich» schließlich, dem «nordischen Prinzip der germanischen Völker» – man würde heute von der westlichen Welt sprechen –, ist die wahrhafte Versöhnung laut Hegel objektiv geworden (§ 358). Denn hier, so schließen die Grundlinien, entfaltet sich der Staat zum «Bilde und zur Wirklichkeit der Vernunft» (§ 360).

Hegel ist ein Philosoph des Universalismus, er verkürzt aber, lässt sich einwenden, das im Universalismus liegende Potential. Zu den Gründen gehört ein enger, man darf sagen: verengter Begriff von Kosmopolitismus, da er sich auf den Gegensatz zum konkreten Staatsleben fixiert. Zu Recht erklärt Hegel, der Rechtsstaat sei auf dem Boden von Nationen, neutraler formuliert: von Einzelstaaten, entstanden und habe sich damals ausschließlich, selbst heute wesentlich in geschichtlich und gesellschaftlich konkreten Gemeinwesen verwirklicht. Muss man aber deshalb jedes Weltbürgertum und alle Weltstaatlichkeit grundsätzlich verwerfen?

Den Gedanken einer globalen Herrschaft des Rechts lehnt Hegel selbst in der von Kant vertretenen bescheidenen Gestalt vehement ab. Selbst ein Völkerbund, der den Einzelstaaten ihr volles Bestands- und Selbstbestimmungsrecht lässt, sich trotzdem in Form eines Weltbürgerrechts in einer globalen Rechtsstaatlichkeit fortsetzt, geht für Hegel entschieden zu weit. Nach seinem gegen Kant gerichteten Argument gibt es keine öffentliche Gewalt; zwischen den Staaten kann es höchstens Schiedsrichter und Vermittler geben. Selbst wenn es gemäß Kants Vorstellung eines ewigen Friedens zu einem Staatenbund käme, sei er an die einstimmige Einwilligung aller Staaten gebunden, die wiederum Zufälligkeiten ausgesetzt bleibt.

Hegel geht in seiner Kant-Kritik noch weiter. Statt dem Krieg jede Legitimität abzusprechen, hält er den Krieg seit seiner Differenzschrift als Wert für «die sittliche Gesundheit der Völker» für notwendig. Er vergleicht den Krieg mit der für Seen segensreichen Wirkung von Wind. Denn wie ohne ihn das Wasser in Fäulnis übergehe, so würde auf «die Völker ein dauernder oder gar ein ewiger Frieden» wirken. Dass es wie bei Seen durch Zufluss von Schmelzwasser, Bächen und Flüssen so bei Völkern gemäß Kants Gedanken der «ungeselligen Geselligkeit» in Form von Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht, generell durch vielfältigen Wettstreit auch innere, das Erstarren verhindernde Bewegungskräfte gibt, wird nicht erwogen.

Hegelfreunde werden den Vorwurf eines verkürzten Kosmopolitismus nicht anerkennen, lieber von größerem Realitätssinn sprechen. Denn die Wirklichkeit werde so anerkannt, wie sie sei und vermutlich bleiben werde: dass die Staaten ihre Souveränität eifersüchtig hüten, folglich sich auf die für eine Weltrechtsordnung erforderlichen Souveränitätsverzichte nicht einlassen. Die erste Hälfte dieses Realitätssinns trifft in der Tat zu. In Hegels Zeit gab es weder Souveränitätsverzichte noch waren sie für die nahe Zukunft absehbar. Heute sieht es jedoch anders aus:

Ein Staatenbund wie die Vereinten Nationen hat zwar die Souveränität seiner Staaten zur Voraussetzung. In den großen Pakten, etwa der Verpflichtung auf die Menschen- und Grundrechte, wird die Souveränität zwar noch nicht formal, wohl aber de facto eingeschränkt. Ähnliches trifft auf das immer dichtere Völkerrecht, Ähnliches für das Bestehen von Weltgerichten zu. Überdies gibt es größere regionale Zusammenschlüsse wie die Europäische Union. Auch wenn deren genauer staatstheoretischer Charakter umstritten bleibt, überdies einige Mitgliedsstaaten auf ihre volle nationale Souveränität pochen, lässt sich weder das Wesen noch die Wirklichkeit der Europäischen Union ohne jeden Souveränitätsverzicht begreifen.

Derartige Unterschiede der heutigen Gegenwart zu der Zeit von damals erlauben, gegen die zweite Hälfte von Hegels angeblich größerem Realitätssinn Zweifel zu äußern. Die sich da und dort schon anbahnende Bereitschaft zu mindestens kleineren Souveränitätsverzichten erschwert es, für die Zukunft ein höheres Maß an politischem Kosmopolitismus auszuschließen, ohne deshalb alle einzelstaatliche Souveränität aufgeben zu müssen.

Trotz dieser und anderer berechtigter Einwände lässt sich nicht bestreiten, dass Hegel mit seinem philosophischen System, zu einem beachtlichen Teil auch mit seiner Rechtsphilosophie, die gewaltigste rein philosophische Synthese der Neuzeit hervorgebracht hat.

In seinen Berliner Jahren steigt Hegel zur mächtigsten geistigen Figur seiner Zeit auf. Vor allem auf die jungen Intellektuellen übt er einen enormen Einfluss aus, der sich im politischen Denken allerdings in unterschiedliche und sich rasch befehdende Richtungen entfaltet. Der Grund liegt im mittleren Weg, den Hegels Rechtsphilosophie zwischen dem Freiheitsideal der Französischen Revolution und einer politischen Restauration einschlägt, die mit den damaligen Beschlüssen von Karlsbad (August 1819), ihren scharfen Maßnahmen gegen «demagogische Umtriebe» und ihrer Überwachung der Universitäten und mit strenger Zensur einhergeht. Der Streit, der deshalb bei seinen «Schülern» ausbricht, dauert bis heute an:

Sind die Grundlinien als Werk der Restauration zu lesen, zumindest konservativ einzuschätzen, so Rechtshegelianer wie Johann Eduard Erdmann (1805–1892), Adolf Lasson (1832–1917) und Julius Binder (1870–1939)? Oder sind sie liberal als Beitrag zu dem im damaligen Preußen noch nicht realisierten Konstitutionalismus zu verstehen, der aber aus Gründen der Zensur seine Liberalität versteckt, wie Karl Rosenkranz (1805–1879) annimmt? Ähnlich denkt später Joachim Ritter (1903–1974). Oder enthalten die Grundlinien mit Eduard Gans (1797–1839), Ludwig Feuerbach (1804–1872), Max Stirner (1806–1856), Karl Marx (1818–1883) und Friedrich Engels (1820–1895) sogar ein revolutionäres Potential, das über den Marxismus in der russischen Oktoberrevolution und den sozialistischen Staaten eine tiefe Spur in der Weltgeschichte zieht?

Hegels politisches Denken beeinflusst freilich auch weniger revolutionäre, vor allem nicht auf Gewalt setzende Strömungen wie bei Ferdinand Lassalle die Sozialdemokratie, ferner Ernst Bloch, Georg Lukács, Herbert Marcuse und sowohl die ältere als auch die neuere «kritische Theorie» der Frankfurter Schule. Obwohl im Kern ein Kantianer, schätzt John Rawls an Hegel dessen «markant institutionsbezogene Vorstellung von Sittlichkeit». Von Hegelianern wird neuerdings ihr Vorbild gern prozedural verstanden, die Vernunft des Rechts nämlich aus ihrer Verankerung in der kommunikativen oder diskursiven Praxis der dem Recht unterworfen. Diese Praxis ist allerdings nur dann vernünftig, wenn sie sich schon Vorgaben, «Prinzipien des Diskurses», unterwirft.

Lektüreempfehlung  Man beginne mit der «Einleitung», insbesondere den Paragraphen 1–4, der Grundlinien der Philosophie des Rechts, schließe die «Vorrede» an. Zur Vertiefung lese man die Einleitungsparagraphen der «Sittlichkeit» (§§ 142 ff.), ferner § 209 und §§ 257–259, sowie aus der Phänomenologie des Geistes die Abschnitte «Herrschaft und Knechtschaft» und, zum Jakobinerterror, «Die absolute Freiheit und der Schrecken».