Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern.
Elfte These über Feuerbach
In der philosophischen Avantgarde der Hegel-Schüler, den sogenannten Jung- bzw. Linkshegelianern, ragt nach rhetorischer Begabung, intellektueller Statur und maßlosem Machtwillen, nicht zuletzt nach seiner Wirkungskraft Karl Marx heraus. Gemäß seiner elften und letzten These über Feuerbach will er mehr, als die Welt bloß neu zu interpretieren – er nimmt sich nichts Geringeres vor, als die Welt zu verändern. Der Wille selbst ist unter Philosophen nicht neu. Neu ist, dass Marx sein Ziel mit seinen philosophischen Überlegungen direkt erreichen will. Die bloße Theorie, von ihm «Kritik» genannt, soll unmittelbar in eine revolutionäre Praxis umschlagen, in eine notfalls gewaltsame Revolution der Gesellschaft. Misst man den Einfluss seines Denkens an dem des Marxismus, so kommt Marx, dem gegenüber Mill nur wenige Jahre jüngeren Denker, ein weltgeschichtlicher Rang zu.
Schaut man sich die einzelnen Elemente seines Denkens an, so findet man kaum eines, zu dem es nicht bei Vorläufern und Zeitgenossen Entsprechungen gibt. Zweifellos originär ist jedoch seine Fähigkeit, mit Mitteln der bei Hegel gelernten Dialektik und einem ebenfalls von Hegel inspirierten Geschichtsdenken den sozialistischen Ansichten seiner Zeit zu einem angeblich zwingenden, in der Herrschaft des Proletariats gipfelnden Geschichtsprozess auszuarbeiten.
Sprachlich pflegt Marx eine zuspitzende, nicht selten hochpolemische Rhetorik. In ihr herrschen die scharfen Gegensätze von negativen und positiven Superlativen vor, die an eine religiöse Bewegung um die Zeitenwende, an die Schwarzweißmalerei der Gnosis, denken lassen, nämlich an deren Kontrast einer schlechthin schlechten Welt zu einem paradiesischen Guten. Marx’ visionäres Denken, nicht minder sein Porträt, erinnern auch an einen alttestamentarischen Propheten.
Die Anfänge von Marx’ Leben fallen in die Restaurationszeit nach dem Wiener Kongress (1814/15). Die deutschen Befreiungskriege gegen die Herrschaft Napoleons liegen erst wenige Jahre zurück. Unter Vorsitz des österreichischen Staatskanzlers Metternich wurden die europäischen Verhältnisse im Wesentlichen nach dem vorrevolutionären Prinzip monarchischer Legitimität geordnet. Seit der Pariser Juli-Revolution von 1830 gewinnen bürgerlich-liberale Kräfte, seit der Februar-Revolution von 1848 die Arbeiterbewegung und Forderungen nach Vereins- und Pressefreiheit an Bedeutung.
Der Journalist, Politiker und Philosoph sowie Kritiker der politischen Ökonomie Karl Marx wird am 5. Mai 1818 in Trier als Sohn eines angesehenen, wenige Jahre zuvor vom Judentum zum evangelischen Christen konvertierten Anwalts am Trierer Appellationsgerichtshof geboren. Sein zu einem kleinen Museum ausgebautes Geburtshaus ist bis heute ein Pilgerort für Marxisten und Sozialisten aus aller Welt.
In Marx’ Elternhaus herrscht ebenso wie am Gymnasium, das er besucht, ein liberaler Geist vor. Von seinem künftigen Schwiegervater, mit dem er die Liebe zu Homer und Shakespeare teilt, soll Marx mit den Lehren des französischen Frühsozialisten Saint-Simon vertraut geworden sein. Nach dem Abitur (1835) beginnt er in Bonn ein Jura-Studium, verlobt sich im Jahr darauf mit Jenny von Westphalen, die er aber erst sieben Jahre später heiratet. Er setzt sein Studium in Berlin fort, wo Hegel, obwohl vor fünf Jahren gestorben, noch das geistige Klima der Universität beherrscht.
Marx gerät unter den Einfluss der Gruppe um den Linkshegelianer Bruno Bauer und vor allem den des Philosophen Ludwig Feuerbach (1804–1872). Er rühmt Feuerbachs Kritik der Hegelschen Dialektik mit ihrem Potential für eine theoretische Revolution. Wenig später gibt er sich aber mit einer theoretischen Revolution nicht mehr zufrieden. Er fordert eine revolutionäre Praxis, für deren wissenschaftliche Grundlegung er sich einer Kritik der Ökonomie, sowohl der wirtschaftlichen Verhältnisse als auch deren Theorie, zuwendet. Dabei stellt er nach eigenem Bekunden Hegels spekulativen Idealismus vom Kopf auf die (materialistischen) Füße, wonach alles Wirkliche den Charakter von Materie, Stoff hat.
Marx, der nach Aussage von Zeitgenossen «mit dem tiefsten philosophischen Ernst den schneidensten Witz» vereinigt, wird im Jahr 1841 aus politischen Gründen nicht in Berlin, sondern in Halle mit einer Arbeit zur «Differenz der demokratischen und epikuräischen Naturphilosophie» promoviert. Seit 1841 Mitarbeiter, später Chefredakteur der liberalen Rheinischen Zeitung, lässt er sich auf ökonomische Fragen ein. In Paris, seit 1843, nimmt er Kontakt zu sozialistischen Organisationen der Arbeiterbewegung auf und gibt zusammen mit Arnold Ruge (1803–1880) die Deutsch-Französischen Jahrbücher heraus. Hier schreibt er die vielzitierten Worte: «Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist». Die Fortsetzung ist zu einem geflügelten Wort geworden: «Die Religion ist das Opium des Volkes.»
Später, weil auf Wunsch der preußischen Regierung aus Paris ausgewiesen, geht Marx nach Brüssel, wo er den französischen Sozialismus, namentlich Pierre-Joseph Proudhon, studiert. Er verfasst Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), die aber erst 1932 veröffentlicht werden und dann den undogmatischen Marxismus eines Georg Lukács und Herbert Marcuse prägen. Zusammen mit dem Fabrikantensohn Friedrich Engels (1820–1895), der ihn bald finanziell unterstützt, schreibt er Die heilige Familie, oder Kritik der kritischen Kritik (1845). Gemeinsam untersuchen sie hier die Möglichkeit, die einer spekulativen Philosophie nach Feuerbachs Hegel-Kritik noch verbleiben. Es folgt die ebenfalls zusammen mit Engels verfasste Deutsche Ideologie (1845, erst 1932 veröffentlicht): eine scharfe Kritik an den führenden Linkshegelianern, mit denen er in Berlin befreundet war, also an Feuerbach, Bruno Bauer und Max Stirner.
Im Auftrag des «Bundes der Kommunisten» verfasst Marx, erneut mit Engels, das Manifest der Kommunistischen Partei (1848). In der Erwartung, dass die Welle der bürgerlichen Revolution von 1848, die die europäischen Länder überschwemmt, sich im proletarischen Umsturz der bestehenden Gesellschaftsverhältnisse fortsetzt, entwickeln die beiden Autoren das dafür nötige Programm. Ihr Manifest wird zwar zunächst noch nicht politisch wirksam, später aber weltweit zur Grundlage sozialistischer und politischer Parteiprogramme geadelt.
Marx, mittlerweile ein politisch gefürchteter Revolutionär, wird aus Brüssel ausgewiesen und gelangt über Paris nach Köln, wo ihm, der auf die preußische Staatsangehörigkeit verzichtet hatte, die Wiedereinbürgerung verweigert und er stattdessen als Ausländer, der die Ruhe und Ordnung stört, ausgewiesen wird. Von Paris, wo er erneut des Landes verwiesen wird, geht er nach London. In diesen Jahren arbeitet Marx, jetzt allein, an der Schrift Zur Kritik der politischen Ökonomie (1859) und vor allem an seinem dreibändigen Hauptwerk Das Kapital mit dem gleichnamigen Untertitel «Kritik der politischen Ökonomie». Die Bände II und III werden von Engels aus dem Nachlass herausgegeben.
Zur wissenschaftlichen Arbeit gesellt sich der politische Erfolg, der sich nicht in der Übernahme eines hohen Amtes, sondern in der Anerkennung seitens der sozialistischen Gruppierungen zeigt. In seiner führenden, mit dem überwältigend suggestiven Michail Alexandrowitsch Bakunin (1814–1876), einem russischen Revolutionär und Anarchisten, allerdings konkurrierenden Mitarbeit an der Ersten Internationale erreicht Marx den Höhepunkt politischer Wirksamkeit. Trotzdem beklagt er jahrelang eine «Verschwörung des Schweigens». Tatsächlich beherrscht seine zum Teil mit Friedrich Engels ausgearbeitete umfassende Gesellschafts- und Wirtschaftstheorie zunächst die Internationale Arbeiter-Assoziation (IAA), die Erste Internationale, die 1864 in London gegründet wird und 1872 ihren Sitz nach New York verlegt. Später, nach der russischen Oktoberrevolution (1917), wird Marx’ und Engels’ Theorie in der dogmatisierten Form des sogenannten Marxismus nach und nach eine halbe Welt dominieren. Mills Alternative, ein zum Sozialen geöffneter Liberalismus, wird wenig beachtet.
Am 2. Dezember 1882 stirbt seine Frau, wenige Wochen später seine Tochter Jenny und, von diesen Todesfällen erschüttert, zwei Monate später, am 14. März 1883, Marx selbst. Engels sagt in seiner Grabrede: «Der Kampf für die Befreiung der Klasse der Lohnarbeiter von den Fesseln des modernen kapitalistischen Systems der Produktion war seine wahre Berufung. Und niemals gab es einen aktiveren Kämpfer als ihn.»
In den frühen, noch weniger auf die Wirtschaft fokussierten Ökonomisch-philosophischen Manuskripten (1844), auch als Pariser Manuskripte bekannt, sucht Marx zu zeigen, wie eine Nationalökonomie, die vom Standpunkt der die Produktionsmittel besitzenden Kapitalisten entworfen ist, unter den eigenen Annahmen ihr behauptetes Ziel nicht erreicht. Während Smith gemäß dem Titel seines Werkes den «Wohlstand der Nationen» verspricht, findet in Wahrheit laut Marx das krasse Gegenteil statt: eine Verarmung, schließlich Verelendung des Arbeiters. Die auf Profitsteigerung zielende Kapitalverwertung begünstige nämlich zum einen das große Kapital, denn es zerstöre das kleine Kapital und bemächtige sich des Grundbesitzes. Zum anderen führe es zu einem Überfluss an Arbeit, wodurch der Arbeiterlohn unter das Existenzminimum gedrückt werde. Später verabschiedet Marx den Gedanken einer absoluten Verelendung. Er behauptet nur noch, der Arbeitslohn halte nicht mit dem wachsenden Reichtum der Kapitaleigner Schritt, was man heute eine eventuell wachsende Schere zwischen Reich und Arm nennt.
In einem nächsten Argumentationsgang weiten die Pariser Manuskripte die Kritik der Nationalökonomie zu einer philosophischen Anthropologie über die Natur des Menschen und seiner Arbeit aus. Leitbegriff ist der von Rousseaus Gesellschaftsvertrag und Hegels Phänomenologie des Geistes bekannte Begriff der Entfremdung: dass der Mensch seinem Wesen fremd wird. Für Hegel ist die Entfremdung, die der Knecht in Auseinandersetzung mit dem Herrn, der Natur und sich selbst erfährt, eine notwendige Phase in der Bildung des Bewusstseins. Marx hingegen spielt Hegels komplexe Dialektik für die «materielle», wirtschaftliche Grundbeziehung durch, für den «feindlichen Kampf zwischen Kapitalist und Arbeiter». Wie Hegel, so spricht auch Marx dem zunächst Unterlegenen, dem Knecht, jetzt dem Arbeiter, die größere Möglichkeit zu, sich von der Entfremdung zu befreien. In einer bestechenden Analyse macht er das Haupthindernis für eine bessere Gesellschaft, das Privateigentum an den Produktionsmitteln, für eine vierfache Entfremdung verantwortlich: für eine Entfremdung vom Produkt der Arbeit, von der Natur der Arbeit, von sich als Arbeitendem und von der Gesellschaft:
Erstens entfremdet sich der Arbeiter – in abgewandelter Form auch der Kapitaleigner – von seinem Produkt, da er die Ware nicht selbst genießt; außerdem steht ihm die Natur als feindliche Welt gegenüber. Der Arbeiter entfremdet sich zweitens von sich selbst, von seiner Lebenstätigkeit, denn da er die Arbeit nicht bejaht, fühlt er sich «außer der Arbeit bei sich und in der Arbeit außer sich», seine Arbeit ist ihrem Wesen nach eine Zwangsarbeit. Mit dem Hinweis, dass der Arbeiter bis zum Hungertod «entwirklicht» wird, spielt Marx auf die damalige Situation der Fabrikarbeiter an. Wenn man aber mit Hegel die Arbeitswelt zur bürgerlichen Gesellschaft erweitert, dabei die Situation der Arbeiterschaft verbessert, dann kann man in der Arbeitswelt nicht lediglich den Nachteil einer Entfremdung, sondern auch einen strukturellen Gewinn, einen wesentlichen Beitrag zur Freiheit, wahrnehmen.
Marx übernimmt eine traditionelle Dichotomie (Zweiteilung): die Trennung eines der Arbeit unterworfenen Reiches der Notwendigkeit von einem der Arbeit enthobenen Reich der Freiheit. Vom Elend der damaligen Fabrikarbeiter überwältigt, sucht er nicht nach den in der Arbeit innewohnenden Freiheitschancen, die in der Ausbildung und Fortbildung sowie der in die Arbeit eingesenkten Möglichkeiten der Kommunikation und wechselseitigen Anerkennung liegen. Vielmehr konstatiert er, nicht zu Unrecht, das zur Arbeit gehörende Moment des Zwanges. Wenn er jedoch moniert, dass die Arbeit nicht die eigenen Bedürfnisse befriedigt, sondern über die Waren nur die Bedürfnisse anderer, berücksichtigt er nicht, dass auch der Arbeiter Waren benötigt, die er sich über das Tauschmedium des Geldes, wenn er denn genug davon hat, beschaffen kann. Ferner beanstandet Marx, dass der Arbeiter für den Arbeitgeber zu einer Ware wird und genau deshalb, als Ware, nicht mehr das ist, was er als Mensch zu sein verdient: Er gehört nicht mehr sich selbst, sondern einem anderen, eben dem Kapitalisten.
Laut Marx entfremdet sich der Mensch drittens von seinem Gattungswesen, da er sich im Werk der Gattung, der bearbeiteten Natur, nicht wiederfindet. Schließlich entfremde er sich noch von seinen Mitmenschen, da diese ihm nicht als Menschen, sondern lediglich als Arbeiter, mithin als Mittel für das eigene, individuelle Leben entgegentreten.
Der spätere Marx zielt wie erwähnt auf nichts Geringeres als eine Revolution der Gesellschaft. Die Untersuchung dieses Ziels und der Bedingungen, um es zu erreichen, nennt er Kritik. In deren Kern verbindet er drei Elemente: eine Auseinandersetzung mit der bisher vorherrschenden, insbesondere britischen Nationalökonomie, einer «bürgerlichen» Volkswirtschaftslehre, mit dem Sozialismus und methodisch mit der Hegelschen Dialektik, die laut Marx «unbedingt das letzte Wort aller Philosophie» darstellt. Diese Verbindung dient einem einzigen Ziel, der Aufhebung der menschlichen Entfremdung. Die Situation, dass dem Menschen seine eigene Tat als fremde Macht gegenübersteht, augenfällig in dem die Gesellschaft beherrschenden Widerspruch von Kapital und Arbeit, soll auf dem Weg einer Emanzipation der Arbeiterschaft aufgehoben werden.
Vor allem von Frankreich und England aus gewinnt die Kritik an der damals vorherrschenden liberalen und kapitalistischen Wirtschaft und Gesellschaft zunehmend an Bedeutung. Der bunte Strauß von «Sozialismus» genannten Gegenentwürfen fordert in unterschiedlichen Programmen, den nach Adel, Kirche und Bürgertum vierten Stand, die Arbeiterschaft, aus der Lage einer wirtschaftlich und gesellschaftlich entrechteten Schicht zu befreien.
In rhetorisch scharfem Gegensatz zu anderen Arten beansprucht Marx einen wissenschaftlichen Sozialismus. Mit ihm will er sich nicht nur inhaltlich, sondern vor allem auch methodisch von allen alternativen Theorien absetzen. Gegen den Verdacht einer erfahrungsfernen Spekulation behauptet er sogar, seine «Resultate durch eine ganz [!] empirische, auf ein gewissenhaftes kritisches Studium der Nationalökonomie gegründete Analyse gewonnen» zu haben (Marx-Engels Werke, kürzer: MEW 40, 467).
Inhaltlich gibt Marx sich im Gegensatz zu dem als «utopisch», «kleinbürgerlich» und «doktrinär» herabgewürdigten Sozialismus Proudhons nicht mit einer «utopistischen Auslegung» der bisherigen Nationalökonomie zufrieden. Er übernimmt zwar von Proudhon das Leitziel, die klassenlose Gesellschaft. Nach dem zusammen mit Engels verfassten Manifest der Kommunistischen Partei (1848) besteht die «Geschichte aller [!] bisherigen Gesellschaft in der Geschichte von Klassenkämpfen», die an Hegels Theorem von Herrschaft und Knechtschaft erinnern. Unter dem Titel «Bourgeois und Proletariat» werden die früheren Gegensätze aufgezählt, die von «Freien und Sklaven, von Patrizier und Plebejer, von Grundbesitzern (Baronen) und Leibeigenen und von selbständigen Handwerkern und ihren Gesellen». Erstaunlicherweise werden hier die zumindest die frühe Neuzeit beherrschenden religiösen Gegensätze nicht erwähnt.
Das Manifest nennt dann als wesentliche Gemeinsamkeit den Gegensatz von Unterdrücker und Unterdrückten und behauptet einen ununterbrochenen Kampf, «der jedesmal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete». Für die eigene Zeit ist es der Kampf zweier Klassen, der «Bourgeois» genannten tragenden Wirtschaftsbürger, der Kapitalisten, und der als Proletarier bezeichneten Lohnarbeiter. Dieser zeitgenössische Kampf soll der weltgeschichtlich letzte sein, da der bestehende Gegensatz nicht von einem neuen Gegensatz abgelöst werde. Mit dem Sieg der Lohnarbeiter über die Kapitalisten sollen nämlich alle – nur denkbaren? – Klassenschranken überwunden werden, womit Einheit, Harmonie und Frieden in die Welt einkehre. Als Mittel, das den Erfolg garantieren soll, als notwendiges und zugleich hinreichendes Instrument, gilt die Aufhebung des Privateigentums. Das Leitziel, die klassenlose Gesellschaft, trägt daher den Namen der kommunistischen Gesellschaft (von lat. communis: gemeinsam).
Auf die Frage, die sich unvermeidlich aufdrängt, wie man sich die kommunistische Gesellschaft vorstellen soll, findet man im umfangreichen Œuvre fast keine Antwort als diese aus der Deutschen Ideologie: «Heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden» (MEW 3, 17).
Von dieser Beschreibung abgesehen, begnügt sich Marx zusammen mit Engels und im Gegensatz zum methodischen Vorbild, Hegels Dialektik, die zu positiven Synthesen führt, mit einer lediglich «negativen Dialektik». Für den Philosophen, Soziologen und Musikwissenschaftler Theodor W. Adorno (1903–1969) wird sie zum methodischen Vorbild, das er in einem seiner Hauptwerke zum Buchtitel erwählt: Negative Dialektik (1966).
Gemäß der elften Feuerbachthese ist Marx vom Auftrag und zugleich der Macht einer Theorie, selbstverständlich «seiner» Theorie, überzeugt. Mit ihrer Hilfe glaubt er sein Ziel, die klassenlose Gesellschaft, zu erreichen und den dafür notwendigen Weg, die revolutionäre Umgestaltung der bisherigen Gesellschaft, zustande zu bringen.
Der Kern von Marx’ Theorie besteht aus einer wissenschaftlichen Analyse der die Gesellschaft, insbesondere die ihre Wirtschaft bestimmenden Gesetze. Die Analyse nennt sich wissenschaftlich, weil sie eine gründliche methodische Untersuchung vornimmt. Das in mehreren Anläufen unternommene Vorhaben gipfelt in dem monumentalen Werk Das Kapital. Es trägt den Untertitel «Kritik der politischen Ökonomie», weil es die bisherige politische Ökonomie, also Volkswirtschaftslehre, ablehnt und gegen sie – die Theorien vor allem von Adam Smith und David Ricardo – eine Alternative entwickelt. In einem Punkt stimmt Marx jedoch mit seinen liberalen Gegnern überein: Wie bei Locke soll sich der Arbeitslohn nach dem Arbeitseinsatz richten (Gothaer Programm).
Marx wirft seinen Gegnern eine ungeschichtliche Betrachtungsweise und die aus ihr resultierende, in Wahrheit aber unzulässige Extrapolation vor: Die von Smith und Ricardo behaupteten Entwicklungsgesetze der Wirtschaft sind laut Marx keine ewig gültigen Naturgesetze. Sie treffen nur auf die moderne, nämlich kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftsform zu. Dieser vom Standpunkt der «bürgerlichen Klasse», der Kapitaleigner, vorgenommenen «bürgerlichen» Nationalökonomie stellt Marx eine neue, sozialistische Theorie entgegen, die vom Standpunkt der im Elend lebenden Arbeiterklasse, des Proletariats, ausgeht. Er gesteht der überlieferten Nationalökonomie zu, den Mechanismus der Produktionsverhältnisse aufgeklärt zu haben: den Zusammenhang des Privateigentums mit der Trennung von Arbeit und Kapital, mit der Arbeitsteilung, Konkurrenz usw. Er wirft ihr aber eine «fatalistische Ökonomie» vor, die sich nicht mit den Entstehungsbedingungen der Produktionsverhältnisse befasse und deshalb das Gesetz ihrer Veränderung nicht erkenne. Dem stellt er entgegen, was man später den historischen Materialismus («Histomat») nennt.
Marx nennt sein (unabgeschlossenes) Hauptwerk Kapital, weil dieses «die alles beherrschende ökonomische Macht der bürgerlichen Gesellschaft» ist (MEW 13, 638). Er beginnt mit der Analyse von Ware und Geld als den sachlichen Voraussetzungen und formalen Elementen. Er gesteht dem Kapital die welthistorische Aufgabe zu, alle Produktivkräfte der Arbeit zu entwickeln. Andererseits verhindere es aber, was für eine wahrhaft humane Wirtschaft unverzichtbar sei: dass die Arbeit bzw. der Arbeiter zum Subjekt der gesellschaftlichen Prozesse werde.
In freier Anleihe bei Hegels Geschichtsphilosophie denkt Marx deterministisch. Denn seines Erachtens erfolgt die angeblich schwerlich zu leugnende «Verelendung der Massen» nach einem Mechanismus, der zwangsläufig in einer Selbstaufhebung des Kapitals mündet. Es komme nämlich zu einer wachsenden Konzentration des Kapitals, in dessen Verlauf mehr und mehr Kapitaleigner enteignet werden, was eine offensichtliche Folge haben soll: Mit zunehmendem Elend wächst die Empörung einer immer größeren organisierten Arbeiterschaft. Von niemandem aufhaltbar, wird schließlich die kapitalistische Hülle gesprengt, indem alles Privateigentum aufgehoben wird. Marx leugnet nicht die Errungenschaft der kapitalistischen Ära, die in ihrem Verlauf perfektionierte Produktionsweise und den durch sie möglich gewordenen ökonomischen Reichtum. Damit dieser aber nicht einigen Wenigen, sondern allen Menschen zugutekommt, muss der kapitalistische Rahmen der Wirtschaft und mit ihm alles Privateigentum abgeschafft werden.
Wie später Friedrich Nietzsche, aber auf grundlegend andere Weise ist Marx ein Kritiker der in die Krise geratenen modernen Welt. Setzt man Marx’ Wirkung mit dem des Marxismus gleich, so ist Marx nicht «nur» ein großer politischer Denker. Er ist auch das, was er fraglos selbst gewollt hat und kaum einem anderen Philosophen gelingt: eine Person von weltgeschichtlichem Rang.
Zu Recht stellen die Pariser Manuskripte die Lage der damaligen Arbeiterschaft als elend dar. Es ist auch nicht falsch, zwei Begriffe von Entfremdung miteinander zu verschränken: die sozialpsychologische Entfremdung, dass «jemand oder etwas einem fremd wird», und die wirtschaftsrechtliche Entfremdung, dass «jemand Eigentum veräußert». Marx vertritt aber die weitergehende These, beide Entfremdungen seien zwei Seiten ein und desselben Vorgangs. Weil diese These weder begründet wird noch einleuchtet, kann auch das gesellschaftspolitische Ziel nicht überzeugen, dass eine Veränderung der Wirtschaftsform, die Aufhebung des Privateigentums, die sozialpsychologische Veränderung, den nicht mehr entfremdeten Menschen, zustandebringt. Im Übrigen kommt eine Veränderung der Wirtschaftsform nur über eine Veränderung der Menschen zustande. In Begriffen von Hegel ist die «objektive Sittlichkeit», die Welt der Institutionen, zur «subjektiven Sittlichkeit», der menschlichen Verantwortung, nur ein Gegenstück, nicht ihr Ersatz.
Die Stärke von Marx’ Kritik der politischen Ökonomie liegt in der Analyse einer der modernen Wirtschaft innewohnenden Dialektik: Lässt man die kapitalistische Produktionsweise sich unkontrolliert entwickeln, so bringt sie einen vorher unvorstellbaren Reichtum von Gütern, auch von Dienstleistungen hervor. Überdies treibt sie einen ebenfalls bislang ungeahnten technischen Fortschritt voran. Dieser offensichtliche Gewinn hat aber den hohen Preis von Arbeiterelend, Arbeitslosigkeit und Zerstörung gewachsener Lebensverhältnisse und Ausbeutung der Natur. Die Möglichkeit, den Wirtschaftsprozess durch Rahmenbedingungen zu kontrollieren und die schädlichen Folgen durch einen den Umweltschutz integrierenden Sozialstaat aufzufangen, zieht Marx nicht in Erwägung. Generell überschätzt er in Hegelschen Begriffen im Rahmen der objektiven Sittlichkeit das Gewicht der Wirtschaft gegenüber dem von Recht und Staat.
Ferner unterschätzt er den Einfluss der subjektiven Sittlichkeit, also die Bedeutung, die die Individuen und Gruppen mit ihren Lebensentwürfen und Wertvorstellungen, nicht zuletzt die großen politischen Denker für die Entwicklung der Menschheit haben. Andererseits überschätzt er die Macht der Theorie: Selbst eine in argumentativer Hinsicht zwingende Theorie kann die entsprechende Praxis nicht selbst hervorbringen. Denn dafür braucht es ein seinem Wesen nach praktisches Moment: die Zustimmung zu der vorgeblich zwingenden Theorie, deren Anerkennung also. Diese muss sich überdies zu einem zweiten praktischen Moment erweitern, zur Bereitschaft, sich, wo erforderlich, für das, was man anerkennt, auch unter Mühen einzusetzen. Um die elfte Feuerbachthese abzuwandeln: Die Philosophen können die Welt nur verschieden interpretieren, es kommt aber darauf an, dass die Menschen ihre Welt gemäß den Interpretationsvorschlägen der Philosophen selbst verändern.
Lektüreempfehlung Man lese zuerst die Thesen über Feuerbach, dann das Manifest der kommunistischen Partei, schließlich die Pariser Manuskripte, hier besonders das erste Manuskript.