Kapitel 4

E mber hatte ihren Burger und die Süßkartoffelpommes nach der Hälfte von Cheyennes Geschichte aufgegessen und wusste jetzt alles über die Bombe auf der Baustelle, den Haufen Kinderkleidung und den zweiten Aufenthalt der Halbdrow in der medizinischen Abteilung der FRoE. Die Fae stürzte den Himbeereistee herunter, als hätte sie tagelang nichts mehr getrunken, als Cheyenne zu dem Teil kam, in dem sie L’zar ein zweites Mal im Chateau D’rahl besucht hatte.

»Klingt, als hätte er dort den Verstand verloren.«

Die Halbdrow schüttelte den Kopf. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass er schon so war, bevor sie ihn eingesperrt haben. Ich bin immer noch nicht überzeugt, dass er zurechnungsfähig ist.«

»Aber er wusste von dem Kobold, der sich als FRoE-Agent ausgegeben hat, oder?« Ember wischte ihre Hände an einer Serviette ab, warf sie in die Plastiktüte und schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht glauben, dass ich diesen Satz gerade ausgesprochen habe.«

Cheyenne kicherte und zuckte mit den Schultern. »Es ist schon komisch, von diesem ganzen FRoE-Insider-Mist zu hören, wenn du dein ganzes Leben lang versucht hast, dich von ihnen fernzuhalten, oder? Vielleicht bin ich deshalb in dieses Schlamassel geraten. Ich hatte keine Ahnung, wer sie sind.«

»Vielleicht. Oder du bist einfach eine knallharte Type, die mit jedem fertig wird.«

»Ja, klar.« Schmunzelnd aß die Halbdrow den letzten Rest ihres Burgers auf und wandte sich ihren Beilagenpommes zu. »Und L’zar wusste nicht, wer der Verräter war.«

»Wirklich? Wie kommst du denn darauf?«

»Woher sollte er das denn wissen? Er ist seit Jahrzehnten da drin eingesperrt. Okay, abzüglich der drei Tage Urlaub, als er meine Mutter kennengelernt hat.«

Ember lachte leise.

»Ich glaube, es ist eher so, dass L’zar wusste, dass ich es wusste und er hat nur versucht, die Teile auszugraben, damit ich alles klar sehen und alles andere ignorieren kann. Das ist total seltsam, wenn ich so darüber nachdenke.«

»Kein Scherz. Ein entfremdeter Häftlingsvater, der deinen Kopf besser kennt als du selbst? Ja, Cheyenne, ich wette, das ist ziemlich gruselig.«

Die Halbdrow stopfte noch mehr Pommes in sich hinein. »Aber es hat funktioniert. Wir haben die Arschlöcher gefunden, die die Kinder entführt haben. Wir haben sie alle sicher rausgeholt und sie werden heute Abend wieder zu Hause sein.« Sollten sie zumindest.

»Eine Sache verstehe ich allerdings nicht«, sagte Ember und leerte den letzten Schluck ihres Eistees.

»Was, habe ich dich nicht ausführlich genug informiert?« Cheyenne lachte.

»Nein, es war großartig. Super effizient. Aber die Halbdrow, die ich kenne, würde nicht von einem Haufen verängstigter Kinder weglaufen, die gerade aus einer Entführervilla befreit wurden.« Die Fae runzelte die Stirn und lächelte ein wenig verwirrt. »Warum zum Teufel bist du zu mir gekommen, anstatt mit den Kindern zu gehen?«

Seufzend lehnte sich Cheyenne gegen die Lehne des Sessels und stöhnte auf wegen der dumpfen Schmerzen in ihren Unterarmen. »Wir hatten ein bisschen Hilfe in dem Haus. Von einem Nachtpirscher-Freund.«

»Im Ernst?«

»Der anscheinend wirklich sauer ist, dass ich diese blöde Halskette abgenommen habe, um all diese Kinder zu retten. Niemand weiß von ihm.«

»Hm.«

»Ja, ich hatte also die Wahl, die einzige Person, die ich kenne, die L’zar Verdys kennt, zu verraten oder mich aus dem Staub zu machen. Ich wurde vorerst von dem FRoE-Gelände verbannt.«

Ember schnaubte. »Ihr Verlust.«

»Ja. Und Corian ist stinksauer auf mich. Ich werde heute Abend nicht zu ihm gehen, nachdem er mir erklärt hat, dass ich keine Halbdrow-Idiotin sein soll. Ich habe darüber nachgedacht, die Borderlands-Foren zu besuchen und die Familien wenigstens wissen zu lassen, dass ihre Kinder in Sicherheit sind, aber der Typ ist auch einer der Administratoren dort. Ich glaube, ich habe einfach keine Lust, so zu tun, als hätte er mich nicht als Idiotin bezeichnet, damit wir so tun können, als wäre nichts passiert.«

»Er wird sich wieder beruhigen.« Ember fuhr sich mit der Hand durchs Haar und zuckte mit den Schultern. »Du brauchst ihn. Das weiß er. Und es hört sich so an, als ob er viel in deine Drowprüfungen oder was auch immer investiert hat.«

»Erinnere mich nicht daran.« Cheyenne lachte ein wenig. »Es ist trotzdem seltsam. Ich habe eine Nachtpirscher-Professorin, die mir beibringt, nicht durchzudrehen, wenn ich wütend bin und jetzt habe ich einen Nachtpirscher-Mentor, der mehr über diese blöden Prüfungen weiß als ich. Weil er L’zar kennt.«

»Und er hat dich in diesem Haus aufgespürt .« Ember rümpfte die Nase. »Das ist gruselig. Deswegen heißt es Nachtpirscher ; er pirscht sich unbemerkt an einen ran.«

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass er mich schon lange beobachtet hat. Er hat darauf gewartet, dass ich bereit bin. Gott, ich habe es so satt, dass man mir sagt, ich müsse warten, bis ich bereit bin.«

Mit einem kleinen Lachen lehnte sich Ember gegen das erhöhte Krankenhausbett und richtete das platte Kissen hinter ihrem Rücken. »Du bist die einzige Person, die entscheiden darf, wann du bereit bist, Cheyenne. Jeder weiß das.«

Die Halbdrow betrachtete die langen Schnitte in ihren Armen und stieß einen weiteren schweren Seufzer aus. »Und trotzdem versuchen alle, die Halbdrow zurückzuhalten.«

»Sie versuchen es und scheitern. Irgendwann werden sie es kapieren.«

Das Grinsen der Fae war ansteckend und Cheyenne musste mit ihrer Freundin lachen. »Danke, Em. Ich bin froh, dass ich nicht die Einzige bin, die es kapiert.«

»Dafür bin ich doch da, oder? Deine Handlangerin, eingepfercht in …«

Es klopfte an der Tür und ohne eine Antwort abzuwarten, betrat Doktor Andrews den Raum, mit einem Stapel Papiere in der Hand. Er hielt inne, als er das Goth-Mädchen erblickte, das aussah, als wäre es gerade von einer Abrissbirne getroffen worden und schloss dann die Tür hinter sich. »Wie ich sehe, ist deine mysteriöse Freundin für einen weiteren Besuch zurückgekommen.«

»Hey, Doc.« Cheyenne schenkte ihm ein festes Lächeln. »Wie geht’s denn so?«

»Nun, ich kann mit absoluter Sicherheit sagen, dass meine Nacht viel weniger aufregend war als Ihre.«

Die Halbdrow zuckte mit den Schultern und warf ihrer Freundin einen wissenden Blick zu. »Wenn Sie das sagen.«

»Aber ich habe aufregende Neuigkeiten für Sie , Frau Gaderow. Ich nehme an, Sie möchten, dass Ihre Freundin hier bleibt, um sie zu hören?«

»Das ist eine ziemlich akkurate Annahme, ja.« Ember lächelte, als Doktor Andrews sich dem Fußende ihres Krankenhausbettes näherte; ihre Augen waren interessiert auf den Papierkram in seinen Händen gerichtet.

»Okay, na dann. Wir haben alles vorbereitet, damit Sie morgen entlassen werden können, Ember. Im Moment können wir hier im Krankenhaus nicht mehr viel für Sie tun, also können Sie nach Hause gehen. Wenn Sie dazu bereit sind, habe ich eine Überweisung, damit Sie am Montag mit der Physiotherapie beginnen können.«

»Ernsthaft?« Embers Gesicht erhellte sich und sie drehte sich zu Cheyenne um, um ihrer Freundin einen albernen, überraschten Blick mit aufgerissenem Mund zuzuwerfen. »Ich komme raus

»Morgen, ja.« Doktor Andrews warf einen Blick auf die Freundinnen und rückte seine Brille zurecht. »Sie werden jemanden brauchen, der Ihnen hilft, nach Hause zu kommen und sich an eine etwas andere Routine zu gewöhnen.«

Cheyenne schnaubte. »Ich habe schon Ärzte kennengelernt, die überhaupt kein Taktgefühl haben. Sie gehören nicht dazu.«

»Wenn das ein Kompliment ist, danke.«

»Gern geschehen.«

»Das sind Ihre Entlassungspapiere.« Doktor Andrews trat auf die andere Seite des Bettes und reichte Ember die Papiere. »Alles andere unterschreiben Sie morgen und dann geht es weiter.«

»Fantastisch.« Ember überflog die Papiere, blätterte sie schnell durch und schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich dachte, das würde viel länger dauern. Hey, Cheyenne, ich weiß, dass du im Moment viel zu tun hast, aber …«

»Ich kümmere mich darum.« Mit einem schiefen Lachen tätschelte die Halbdrow das Bein ihrer Freundin und nickte. »Was immer du brauchst, Em, ich bin da. Der ganze andere Kram, den ich am Laufen habe, kann warten.«

Ember versuchte, ihr Lächeln wieder unter Kontrolle zu bringen, was ihr nicht gelang. »Ich habe schon wirklich Glück, auch wenn ich in einem Krankenhausbett liege.«

»Kann man so sagen.«

»Dann sollten Sie gemeinsam die Entlassungsanweisungen durchgehen«, fügte Doktor Andrews hinzu. »Da stehen viele Informationen drin und noch viel mehr, wenn Sie mit Ihrer Physio beginnen, Ember.«

»Ja, kein Problem.« Die magielose Fae machte sich wieder daran, die zehn verschiedenen Dokumente zu überfliegen, die er ihr gegeben hatte.

Dann fiel der aufmerksame Blick des Arztes auf den Unterarm der Halbdrow. »Wie ich sehe, haben Sie noch mehr Kampfwunden.«

Lach nicht. Er hat keine Ahnung. »Ja, ich bin anfällig für Unfälle, schätze ich.«

»Ja, ich erinnere mich, dass Sie das beim letzten Mal erwähnt haben. Was ist da passiert?«

»Äh …« Cheyenne betrachtete die Wunden an ihrem Arm. »Rattenproblem.«

Ember wandte sich dem Nachttisch zu und griff nach ihrem leeren Eisteebecher, damit Doktor Andrews nicht sah, wie sie der Halbdrow einen warnenden Blick zuwarf.

Der Arzt runzelte die Stirn. »Das ist eine große Ratte.«

»Wachstumshormone im Essen oder so was, oder?« Cheyenne ließ ihre Hand wieder in ihren Schoß sinken und zuckte mit den Schultern. »Ich weiß, dass es gegen die Regeln verstößt, überhaupt zu fragen …«

»Das müssen Sie auch nicht.« Doktor Andrews zog eine Augenbraue hoch und schüttelte den Kopf. »Ich bin gleich zurück mit einer antibakteriellen Salbe und Verbänden. Es sei denn, Sie brauchen jemanden, der Ihnen ein weiteres Stück Sci-Fi-Technik aus Ihren Wunden zieht.«

Ember lachte laut und schlug sich die Hände vor den Mund.

»Nein, Doc. Diesmal gibt es nichts rauszuholen.« Die Halbdrow beugte sich ein wenig vor, während sie ihr Lachen unterdrückte.

»Okay. Sie fragen nicht, ich werde nicht fragen und dabei belassen wir es. Geben Sie mir ein paar Minuten.«

»Danke.«

»Es versteht sich von selbst, aber ich muss es trotzdem sagen. Frau Gaderows Genesung wird ohne umherfliegende Splitter und Rattenprobleme viel reibungsloser und schneller verlaufen. Wir sind uns doch einig, dass es am besten ist, wenn wir diese Sachen lieber vermeiden?«

»Auf jeden Fall.« Cheyenne hob eine Hand zu einem stillen Schwur.

Ember zuckte mit den Schultern. »Und ich hasse Ratten, also …«

»Aha.« Doktor Andrews warf den kichernden Frauen noch einen zweifelnden Blick zu und drehte sich dann zögernd zur Tür zurück, bevor er kopfschüttelnd auf den Flur hinaustrat.

Embers Lachen brach schließlich mit voller Wucht aus ihr heraus. »›Sci-Fi-Technik‹?«

Die Halbdrow schüttelte den Kopf und senkte ihre Stimme, um die Ernsthaftigkeit des Arztes nachzuahmen. »Das ist eine große Ratte.«

Sie brachen wieder in Gelächter aus und Cheyenne vergaß fast ihre schmerzenden Arme.