H ast du irgendwelche Fortschritte zu berichten, bevor wir anfangen?« Corian schritt auf die steil abfallenden Erdwälle zu, die in die Insel geschnitten waren. »Es scheint, als hättest du gestern viel Übung in dem riesigen Haus gehabt.«
»Ja, das hatte ich tatsächlich.« Cheyenne drehte die Drowschachtel in ihren Händen um, beugte sich dann vor und legte sie auf das trockene Gras, das in Flecken auf der Erde wuchs. »Ich habe noch ein Teil von dem Ding befestigt und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich den Schild gemeistert habe.«
»Gemeistert ist ein starkes Wort. Im Moment verstehst du, wie und wann du ihn einsetzen kannst.«
Die Halbdrow seufzte genervt. »Ich habe genug verstanden , um ihn perfekt zu nutzen, als wir hinter diesen Kindern her waren.«
»Gut zu hören.« Der Nachtpirscher räusperte sich. »Wenn wir schon beim Thema sind, wer hat sie gefunden?«
»Die Kinder?«
Er hob sein Kinn und blickte sie mit weit geöffneten Augen an, während er darauf wartete, dass sie fortfuhr.
»Das war ich.«
»Du hast sie gefunden?«
Cheyenne lachte ohne jeglichen Humor. »Weißt du, für jemanden, der mir beibringen soll, wie man besser wird, klingst du nicht gerade so, als hättest du Vertrauen in mich.«
»Es ist kein Mangel an Vertrauen, Cheyenne. Nur Überraschung.« Er kratzte sich an seinem Ohrbüschel und ließ seinen Blick über das dünne Gras und die trockenen Sträucher schweifen. »Und ich sollte meine Fähigkeiten überdenken, wenn du etwas im Dark Web gefunden hast, das ich nicht gefunden habe.«
»Das ist nicht passiert, also mach dir keine Sorgen. Dein Ruf ist nicht in Gefahr.«
Der Nachtpirscher begegnete ihrem Blick wieder und runzelte die Stirn. »Nicht im Netz?«
»Ich habe es versucht, aber nein. Ich habe mir einen weiteren Besuch bei L’zar ausgehandelt.«
Corians silberne Augen verengten sich. »L’zar Verdys weiß eine Menge Dinge, Mädchen. Ich glaube aber kaum, dass er den Aufenthaltsort einer Gruppe entführter magischer Wesen wusste, mit denen er nichts zu tun hat.«
»Er hat mir nicht gesagt, wo sie sind.« Cheyenne blickte in den Himmel und holte noch einmal tief Luft. Er glaubt nichts, was er nicht mit eigenen Augen sehen kann, oder? »Es war eher so, dass er mir geholfen hat, es herauszufinden.«
»Klingt immer noch komisch.«
»Da sagst du was. Das war eine der seltsamsten Unterhaltungen, die ich in letzter Zeit geführt habe.«
Corian verschränkte wieder die Arme und betrachtete sie. »Nun, ich nehme an, all diese Kinder und ihre Eltern haben das euch beiden zu verdanken.«
»Ich glaube nicht, dass einer von uns beiden auf ein Dankeschön wartet. Die FRoE hat sich nur an mich gewandt, weil sie keine andere Wahl hatten und ich habe getan, was ich tun musste.«
»Wie hat er deinem Gedächtnis auf die Sprünge geholfen?«
Die Halbdrow verdrehte die Augen. »Er hat hauptsächlich auf Eisenstangen eingeschlagen. Wie ein Drow-Affe im Zoo.«
Das brachte den Nachtpirscher zum Kichern. »Hast du wenigstens daran gedacht, ihm zu sagen, dass wir mit deinen Prüfungen begonnen haben?«
Cheyenne presste ihre Lippen aufeinander und starrte ihren Mentoren an. »Ja, ich habe daran gedacht. Das hat ihn ziemlich begeistert und das war wahrscheinlich der einzige Grund, warum er mir geholfen hat, das Puzzle mit diesen Kindern zusammenzusetzen. Wenigstens damit hattest du recht. Der Kerl hat nur sein eigenes Wohl im Sinn.«
»Dazu gehört auch, dass er sich um dich kümmert, Cheyenne. Auch, wenn er hinter Gittern ist.«
»Weißt du, wenn er jemals aus Chateau D’rahl herauskommt und mir bei einem neuen Problem hilft, könnte ich das glauben. Er hat mir allerdings einen Zauber gegeben, der die ganze Sache beschleunigen soll. Don’adurr-Faden, glaube ich?«
»Der Don’adurr-Faden?«
»Sag ich doch.«
Corians Belustigung verschwand und er rieb sich mit einer fellbedeckten Hand über den Mund, bevor er den Kopf schüttelte. »Dieser gerissene Mistkerl.«
»Darüber werde ich nicht mit dir streiten.«
»Er hat dir mehr als einen einfachen Zauberspruch gegeben, Cheyenne.« Stirnrunzelnd rieb Corian seine Hände aneinander, schüttelte sie aus, um sich auf einen weiteren Zauber vorzubereiten und legte dann den Kopf schief. »Aber wenn L’zar meint, dass du bereit dafür bist, dann kann ich ihm nicht widersprechen.«
Schlechte Nachrichten, wenn ein Nachtpirscher anfängt, sich unwohl zu fühlen. »Was ist los?«
»Ich kann dir den Anfang zeigen, aber die Arbeit musst du selbst machen.«
»Lass mich raten.« Cheyenne verschränkte die Arme. »Weil ich nicht bereit bin.«
»Eher, weil ich nichts anderes tun kann. Es ist ein Drowritual, Mädchen. Ich habe nicht das Zeug dazu, dir zu zeigen, wie man das macht.« Er schüttelte erneut den Kopf, als ob das seine Verwunderung vertreiben würde, murmelte einen Zauberspruch und öffnete ein neues Portal direkt vor sich. Dieses war viel kleiner und er duckte sich durch die Öffnung in seinen Keller, um etwas aus dem Gerümpel in den Wandregalen zu nehmen.
»Und dieses Ritual wird meine Prüfungen schneller vorantreiben?«
»Das müsst ihr beide selbst herausfinden. Ich bin im Moment nur der Bote. Lieferant. Alchemist. Der verdammte Babysitter.«
»Da wird jemand mürrisch.« Die Halbdrow trat um das Portal herum und sah ihm zu, wie er wahllos Gegenstände aus den Regalen nahm, die er hinter sich in den Dreck auf die Insel Alcatraz warf. Ich weiß nicht, ob mir das gefällt.
»Ich habe Hunderte von Jahren darauf gewartet, L’zars Halbdrowkind durch die Drowprüfungen zu führen.« Corian holte eine kunstvoll verzierte Silberschachtel mit der Gravur eines Baumes auf dem Deckel hervor und klemmte sie unter seinen Arm. »Ich hätte nie gedacht, dass ich mal einen Don’adurr-Faden auftreiben müsste, aber das ist meine eigene Schuld.«
Als er zurücktrat, verschwand das kleine Portal mit einem weiteren leisen Geräusch und Corian ließ sich mit all den Sachen, die er aus seinem Keller am anderen Ende des Landes geholt hatte, auf den Boden sinken.
Cheyenne trat auf ihn zu und betrachtete die kleinen, verkorkten Fläschchen und getrockneten Kräuter, die auf dem spärlichen Gras verstreut lagen. »Ich würde es begrüßen, wenn du mir etwas mehr erklären würdest, bevor ich mich darauf einlasse. Ganz im Ernst.«
»Gib mir eine Minute.« Er legte die getrockneten Kräuter auf einen Haufen und rümpfte die Nase. »Das ist übrigens das letzte Flusskraut. Wir wären in einer anderen Situation, wenn ich das früher benutzt hätte, aber zu deinem Glück stehen Drowtränke nicht auf meiner Liste der Mittel, die ich normalerweise brauche.«
»Oh, ja. Ich fühle mich richtig glücklich.«
Der Nachtpirscher sah sie mit einer hochgezogenen Augenbraue an und befahl: »Setz dich. Und sei still, damit ich mich konzentrieren kann.«
Ich bewege mich hier auf dünnem Eis. Hoffentlich ist es das wert. Sie zwang sich, keine weiteren schlauen Bemerkungen zu machen. Stattdessen setzte sie sich auf den Boden, schlug die Beine übereinander und beobachtete ihren Mentor bei der Arbeit.
Sie erkannte keine der Zutaten, aber Corian bewegte sich so schnell, dass es ohnehin keine Rolle gespielt hätte. Er zerkleinerte getrocknete Kräuter in einem alarmierend fleckigen Mörser und kippte dann winzige Fläschchen mit lilafarbener und klarer Flüssigkeit in die Mischung und rührte sie um. Als er den Deckel der schicken Silberschachtel mit dem knorrigen Baum in der Mitte beiseite schob, erhellte ein sanftes, goldenes Leuchten seine katzenhaften Züge.
»Was ist …?«
»Psst!« Corian griff in die Kiste und zog eine weitere Phiole heraus. Sie war lang und dünn, mit einer komplizierten Umwicklung aus Kupferspiralen. Was auch immer sie enthielt, war die Quelle des goldenen Lichts. Er entkorkte sie vorsichtig und kippte den Inhalt der Phiole langsam in den Mörser. Zwei Tropfen, das war’s. Dann verschloss er das Fläschchen wieder und legte es zurück in die silberne Schachtel. Er versuchte, es zu verbergen, aber Cheyennes Gehör registrierte seinen kleinen Seufzer der Erleichterung, als das goldene Licht verblasste.
Mit dem Stößel rührte er die ganze seltsam glühende Mischung noch einmal um, dann ließ er das Steinwerkzeug auf den Boden fallen.
»Okay. Das ist für dich.«
Die Halbdrow starrte auf das wirbelnde Gebräu im Mörser, das ein paar Mal in goldenem und violettem Licht aufblitzte, bevor es sich beruhigte. »Um was zu tun?«
»Um es zu trinken. Das ist der Don’adurr.«
»Das trinke ich nicht.« Sie schüttelte den Kopf und lehnte sich mit einem angewiderten Blick zur Seite. »Nicht, bevor du mir sagst, was da drin ist und was es bewirken soll. Das Zeug riecht wie Grapefruit.«
»Du magst keine Grapefruit?«
»Nicht, wenn keine echte Grapefruit drin ist.«
»Das wirst du jetzt tun: Du sagst seinen Namen und trinkst es, dann wünsche ich dir viel Glück und wir warten, bis der Don’adurr seinen Lauf nimmt.«
Cheyenne betrachtete den geheimnisvollen Trank noch ein wenig länger. »Ich hätte den verrückten Drow nach einem Plan B fragen sollen.«
»Hey.« Als sie ihn ansah, beugte sich Corian zu ihr und hob die Augenbrauen. »Vertraust du mir?«
»Ich dachte, eigentlich schon, dass ich das tue.«
»Hör auf mit den dämlichen Bemerkungen. Ich meine es ernst.«
»Bis jetzt, ja.«
»Gut. Ich vertraue diesem verrückten Drow, auch wenn du es kaum glauben kannst.« Er zeigte auf den Mörser. »Trink es. Es wird nicht wehtun, falls du dich das fragst. Zumindest nicht, dass ich davon gehört hätte.«
»Siehst du, solche Kommentare bringen dir Minuspunkte auf der Vertrauensskala ein.« Trotz allem griff Cheyenne mit beiden Händen nach der Schale und nahm sie zu sich. »Wie viel davon muss runter?«
»Es ist am effektivsten, wenn du alles trinkst, oder so viel wie möglich.«
»Okay.« Mit einem zögerlichen Nicken und Blick auf die Steinschale, die sie in ihren Händen hielt, hob sie sie zum Mund und murmelte: »L’zar Verdys.«
Die Schüssel war zwar schon kalt an ihren Lippen, aber der Trank darin fühlte sich an wie geschmolzenes Eis. Sie trank so viel sie konnte, bevor der überwältigende, fruchtige Geschmack sie fast zum Würgen brachte. Sie stellte die Schale wieder auf das trockene Gras und Corian beugte sich zur Seite, um die Reste zu betrachten. »Gut genug. Viel Glück.«
Während der Trank immer noch eine eisige Spur in ihrer Kehle und in ihrem Magen hinterließ, sah Cheyenne ihren Nachtpirscher-Mentor mit großen Augen an. »Was jetzt?«
Eines seiner Ohren zuckte wieder. Fellfetzen flogen von seinem Gesicht weg und tanzten durch die Luft. Sie kicherte. Ich kichere nicht. Was zum Teufel?
Das Gras wuchs vor ihren Augen, als sie nach unten blickte und schrumpfte dann wieder auf seine normale Größe zurück. Eine Welle brach irgendwo vor der Insel und hallte hundertmal wider, bevor Cheyenne sich umdrehte, um auf den Ozean hinauszuschauen. Ein starkes Schwindelgefühl ließ sie schwanken, als sie ihren Kopf drehte. Das Sternenlicht pulsierte in ihrem Blickfeld, immer heller und heller und das nächste, was sie wusste, war, dass sie auf den Rücken sank und im Dreck auf Alcatraz Island lag.
Toll! Er hat mir gerade Drow-LSD gemacht. Nicht, dass ich etwas hätte, womit ich es vergleichen könnte, aber ich bin gerade auf einem Trip.
»Huch!« Das Wort entwich ihr in einem hohen Quietschen und die Halbdrow kicherte wieder. Reiß dich zusammen. Wer hat diese Gesichter in den Himmel gezeichnet?
Ihre Augenlider fühlten sich unglaublich schwer an, als sie sie schloss und ihr Kopf drehte sich von Sekunde zu Sekunde schneller. Dann hörten das Schwindelgefühl und das Gefühl, aus ihrem Körper zu schweben und sogar das Geräusch der rauschenden Wellen auf. Cheyenne hörte nicht einmal mehr das gedämpfte Rauschen von Autos und Fußgängern, die einen ganz normalen Donnerstagabend in San Francisco genossen. Da war nichts.
Als die Halbdrow ihre Augen wieder öffnete, fand sie sich auf dem Steinboden eines kleinen, dunklen Raumes wieder. Die Stahltür zu ihrer Rechten war gar keine Tür, sondern eine Wand aus Eisenstäben. Durch die Gitterstäbe hindurch sah sie Metalltreppen und Gänge, weitere Reihen von Eisenstäben, die sich über die hintere Wand erstreckten und glühendes, rotes Licht, das von irgendwo oben auf all das herab schien. Dann fiel ihr Blick auf die dünne Pritsche auf der anderen Seite des winzigen Raums.
»Was zum Teufel?«
L’zar Verdys Augen flogen auf und fixierten sie mit diesem beunruhigenden, goldenen Leuchten. »Cheyenne«, flüsterte er. Dann verzog sich sein stoisches Gesicht zu einem irren Grinsen. Er richtete sich auf und hielt sich am Rand der dünnen Matratze fest. »Das ist eine schöne Überraschung.«