D ie Halbdrow schaute sich in der Zelle ihres Drow-Vaters im Chateau D’rahl um und biss die Zähne zusammen. »Was ist das?«
»Der Don’adurr-Faden. Ich kann nur vermuten, dass Corian ihn für dich gemacht hat«, antwortete L’zar, wobei sich sein locker gebundenes, weißes Haar löste und ihm um die Schultern fiel. »Das ging schnell. Das muss ich dir lassen.«
»Du erzählst mir Mist, den ich schon weiß.« Cheyenne versuchte, vom Boden aufzustehen, aber anscheinend konnte sie sich nicht so viel bewegen, wie sie wollte. »Du musst mir sagen, wie ich in deine Gefängniszelle gekommen bin. Warum ich mich nicht bewegen kann.«
Der lächelnde Drow kicherte. »Der Don’adurr erlaubt es uns, etwas freier miteinander zu sprechen. Du weißt schon, ohne dass ein Schwachkopf in einer Kabine jedes Wort mithört. So ist es mir lieber.«
Als er ihr zuzwinkerte, explodierte ein Schwall violetter Funken in den Händen der Halbdrow. Beide sahen auf ihren Zauber hinunter, der immer wieder aufflammte. Cheyenne runzelte die Stirn und hob die Hand zu ihrem Gesicht, bis die Funken versiegten – nicht, weil sie ihre Magie unterbrochen hatte, sondern weil sie nicht besonders deutlich zu sehen war. Die Halbdrow drehte ihre Hand um und konnte durch ihre Handfläche die Risse im Steinboden sehen.
Ich weiß, dass ich in menschlicher Gestalt blass bin, aber das geht ein bisschen zu weit.
»Corian hat mich dazu gebracht, das Zeug zu trinken, für eine Art … Drow-Astralprojektion?«
»Wenn du es so am besten verstehst, klar.« L’zar setzte sich auf und stützte sich mit den Unterarmen auf der grauen Gefängnis-Jogginghose ab, die er anhatte. »Es ist ein alter Trick, aber er funktioniert immer. Es freut mich zu sehen, dass dein Drowblut im Inneren genauso echt ist wie im Äußeren.«
»Blut verbindet sich mit Blut und so weiter, hm?«
Das Grinsen des Drowgefangenen verschwand und er blinzelte einmal, bevor er sein verrücktes Lächeln wieder aufsetzte. »Darauf können wir ein andermal zurückkommen. Ich glaube, du willst mich jetzt wieder fragen, wie du deine Prüfungen beschleunigen kannst. Deshalb bist du heute Abend hier.« Sein leises Kichern hallte ein wenig in der engen Zelle wider. »Nun, so kann man es zumindest ausdrücken.«
»Klar. Drücken wir es so aus.« Das ist das Letzte, was ich erwartet habe, aber es ist ein Anfang, denke ich. Cheyenne holte tief Luft und starrte ihren inhaftierten Vater an, bis sie merkte, dass er darauf wartete, dass sie dieses verrückte Gespräch vorantrieb. »Okay. Wie kann ich die Sache beschleunigen?«
»Wie viele Schichten des Cuil Aníl hast du schon entschlüsselt?«
»Zwei.«
L’zar legte den Kopf schief und runzelte ein wenig die Stirn. »So wenige, hm? Ja. Gut, dass du gekommen bist, um um Hilfe zu bitten.«
Cheyenne presste ihre geballten Fäuste auf ihre Oberschenkel.
»Das ist in Ordnung, Cheyenne. Jeder fängt irgendwo an. Du hast also schon zwei hinter dir und es sind fünf. Jedenfalls für die meisten von uns. Welche anderen Fähigkeiten sind aus dem Nichts aufgetaucht?«
Wenn er nichts von den Drow-Prüfungen wüsste, könnte ich schwören, dass er mich verfolgt. Von einem magischen Gefängnis aus. Die Halbdrow biss sich auf die Unterlippe und zwang sich, sich auf das Gespräch und die Antworten zu konzentrieren, die sie endlich erhalten würde. »Na ja, ich kann den Boden aufreißen.«
»Oh.« L’zars dünne, weiße Augenbrauen hoben sich. »Eine Verbindung mit der Erde ist viel subtiler, als die meisten glauben wollen. Das lässt sich nicht kontrollieren, nehme ich an.«
»Offensichtlich.«
»Hmm.« Sein Lächeln war jetzt schmallippig und grimmig.
Gut. Endlich habe ich einen Nerv getroffen.
»Gibt es noch andere?«
Cheyenne hob ihr Kinn und antwortete: »Ich habe ein paar Kobolde an die Decke geworfen, ohne einen Zauber zu sprechen.«
»Nützlich.«
»Und ich habe einem Oger fast den Kopf von den Schultern geschlagen, als meine Faust in schwarze Flammen aufgegangen ist. Das konnte ich aber nicht nutzen.«
L’zars Augen weiteten sich und er grinste wieder so gruselig. »Da ist es. Das! Das würde ich sehr gerne sehen.«
»Dann sag mir, wie ich es beschleunigen kann.« Cheyenne warf ihm einen Seitenblick zu. »Und hör auf, mich anzuschauen, als wäre ich ein halbes Kilo schweres Steak.«
Er kicherte, schüttelte den Kopf und fuhr sich mit der Hand über die Schulter und das weiße Haar. »Das heben wir uns besser für später auf.«
»Du hast keine Ahnung, wie sehr ich es leid bin, das zu hören. Warum hebst du dir das für später auf? Du freust dich doch offensichtlich schon darauf.«
Der Drow hob den Kopf und schaute sie unter den dünnen Augenbrauen an. »Wenn du dort ankommst, Cheyenne, wirst du wissen, warum. Hast du noch andere verborgene Kräfte, bevor wir mit dieser Vater-Tochter-Ratschlag-Nummer weitermachen?« Seinen letzten Satz fragte er, während er abwertend lachte.
Er ist wahnsinnig. Aufgeregt und wütend zugleich. Cheyenne schloss ihre Augen und zwang sich, ihre Gedanken nicht zu verraten. Okay, zugegeben, das trifft auch auf mich zu.
»Ich sehe, dass sich die Räder wieder drehen. Gibt es etwas, das du dir von der Seele reden willst?« L’zar lehnte sich näher heran, seine goldenen Augen analysierten ihr Gesicht und nahmen jedes Detail auf.
»Ich habe doch schon gesagt, dass du mich nicht so ansehen sollst, oder?« Normalerweise wäre sie an dieser Stelle rausgestürmt und hätte ihn seinen verworrenen Gedanken überlassen, aber sie blieb, wo sie war und schlug die Beine übereinander. Drow r itual, von wegen. Ich könnte genauso gut in diesem Gefängnis eingesperrt sein, direkt neben ihm. Ein leichter Schauer lief ihr den Rücken hinunter.
»Ich habe einundzwanzig Jahre lang darauf gewartet, dich zu sehen, Cheyenne.« L’zars Lächeln blieb, aber seine Stimme war tief und bedrohlich. »Wenn ich ein paar Minuten damit verbringen will, den Anblick meiner Tochter zu genießen, dann werde ich genau das tun.« Er wich ein wenig zurück, als hätte er sich soeben aus der Wut befreit, die sich unter dem angespannten Lächeln aufgestaut hatte. »Außerdem bin ich ein hervorragender Multitasker.«
»Dann multitask mal und sag mir, wie ich die Dinge beschleunigen kann.« Die Halbdrow schluckte. Er mag es genauso wenig wie ich, wenn man ihm sagt, was er tun soll. »Bitte.«
»Ah, ja. Das war ein guter Anfang.« Der Drowgefangene lehnte sich zurück, stützte sich mit den Händen hinter sich auf der Matratze ab und kreuzte seine langen Beine übereinander. »Fang entweder mit der Telekinese oder dem Erdaufreißen an, je nachdem, was dir am leichtesten fällt. Während du daran arbeitest, solltest du dich auf den Nimlothar-Samen konzentrieren. Ich bin mir sicher, Corian hat dir schon gesagt, was das ist.«
»Ja. Der Baum, der mit der Magie der Drow verbunden ist.«
»Sehr simpel ausgedrückt. Ich denke, auch dafür gibt es eine Zeit und einen Ort.« L’zar neigte seinen Kopf zur Seite, während er sie musterte. »Zieh die Kräfte des Samens heran, um deine Fähigkeiten zu steigern, ja? Wenn du lernst, das Potenzial des Nimlothar anzuzapfen, setzt du viel mehr frei als nur die Prüfungen. Jahrhunderte an Magie und Wissen wachsen auf diesen Bäumen, Cheyenne. Genauso wie in dem Blut, das wir beide teilen.«
»Das war’s?« Die Halbdrow beäugte den apathischen Gesichtsausdruck ihres Vaters. »Ich soll die Kraft eines Samens, den ich geschluckt habe, anzapfen, während ich versuche, mich auf das Training mit neuen Fähigkeiten zu konzentrieren?«
»Nun, es ist eine gewisse Kunst, aber es wird zur zweiten Natur. Irgendwann.«
»Hast du Tipps, wie man das macht?«
Er grinste. »Ich habe gehört, meditieren hilft.«
Cheyenne schnaubte und schloss ihre Augen. Das ist reine Zeitverschwendung. Aber v ielleicht muss es das gar nicht sein.
»Das meine ich ernst, Cheyenne. Ein bisschen Meditation und Zentrierung würden dir sehr helfen.«
»Ja, ich mache mir Notizen. Danke.« Als sie die Augen wieder öffnete, lachte er sie an und wippte nervös mit seinem Bein auf und ab. »Da wir jetzt freier reden, kannst du mir vielleicht eine andere Frage beantworten.«
»Ooh. Wir öffnen uns, ja?«
Übertreibe es nicht. »Was hat es mit dem Stierkopf auf sich?«
L’zars Bein hörte auf zu wippen. »Du musst schon genauer sein. Die Erde ist ein relativ großes Reich. Es gibt viele Stiere.«
Sie biss die Zähne zusammen und zwang sich, nachzuhaken. »Genauer gesagt, die, die von mehr Arschlöchern getragen werden, als ich zählen kann, die mich jagen und versuchen, einen Haufen Portale um mich herum zu öffnen. Klingelt’s da?«
Zum ersten Mal sah der Drowgefangene so aus, als wolle er sie nicht hier haben. L’zar schluckte und presste seine Lippen zusammen, aber sein Lächeln verlor jede Spur von Belustigung. »Portale.«
»Ja. Niemand will mir sagen, was diese Leute von mir wollen. Sie sind überall. Einer von ihnen hat heute Morgen mein Auto in die Luft gejagt und ich bin mir ziemlich sicher, dass es derselbe Idiot war, der ein blutiges Symbol an meine Haustür gemalt hat. Das Gleiche gilt für die Scheißkerle, die all diese Kinder für ihr krankes Ritual entführt haben und dann gefangen hielten. Ich kann weitermachen, wenn du die ganze Liste brauchst.«
»Du hast die Kinder also gefunden?«
»Ja, indem ich einem Typen gefolgt bin, der sich als … Weißt du was? Das ist alles Zeug, das ich schon weiß. Ich habe dich gefragt, was der Stierkopf ist und warum diese Verrückten mir sagen, ich solle einfach aufgeben und Treue schwören, damit irgendeine Tussi endlich ihren Willen bekommt oder so.« Cheyenne holte tief Luft und strich sich die Haare aus dem Gesicht. »Ich weiß auch, dass es etwas mit den Drow-Prüfungen zu tun hat. Sogar Corian hat gesagt, dass jemand nicht will, dass ich sie beende …«
»Ja, da kann sich jemand ins Knie ficken!« L’zar stürzte wieder nach vorne, seine Augen loderten.
Der Häftling auf der anderen Seite von L’zars Zelle schlug eine riesige Faust gegen die Wand, die sie trennte. »Sei verdammt noch mal leise, Verdys. Ich habe genug von deinem Scheiß.«
Der Drow schaute langsam über seine Schulter, um die Wand anzustarren und riss sich mit einem tiefen Atemzug wieder zusammen.
Cheyenne starrte ebenfalls die Wand an. Sie können alle hören, wie er mit sich selbst spricht.
Langsam drehte er sich wieder um und blinzelte schnell, als wäre die Unterbrechung für ihn ein Dorn im Auge. »Darüber musst du dir keine Gedanken machen, Cheyenne. Das ist nicht der Grund, warum ich die Grenze so oft überquert habe und es wird dich nicht davon abhalten, die Person zu werden, zu der du bestimmt bist. Nichts wird das beeinflussen können.«
»Es ist etwas, worüber ich mir Sorgen machen muss, wenn diese Leute wissen, wo ich wohne .«
»Dann zieh um. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du nicht die Mittel hast, zumindest das zu tun.«
Die Halbdrow spürte kaum, wie sich ihre Fingernägel in ihre Handflächen gruben. Entweder hatte sie bereits die Fähigkeit verloren, etwas zu spüren, oder die Empfindungen waren auf der Astralebene nicht so stark. »Ich brauche etwas mehr als das. Bitte.«
»Mit der Zeit wirst du noch viel mehr als das haben.« L’zars Spott war nicht an sie gerichtet, aber der Magen seiner Tochter krampfte sich trotzdem zusammen. »Nicht jetzt. Behalte den Anhänger einfach an, bis ich etwas anderes sage.«
Sie lachte spöttisch. »Soll ich mit einem Anruf rechnen?«
»Niedlich.« Seine Nasenflügel blähten sich, während er sie anlächelte. »Diese Verbindung kannst du übrigens jederzeit nutzen, um mich wieder zu erreichen. Ich werde …«
Schritte donnerten über das Metallgitter der Wege, die sich über den Alpha Block erstreckten und unverständliche Rufe folgten.
L’zar ließ sich zurück auf das Bett fallen und setzte einen wütenden Gesichtsausdruck auf, als er auf die vergitterte Tür seiner Zelle blickte. »Die haben ein Händchen für schlechtes Timing, das muss ich ihnen lassen. Eine willkürliche Zellendurchsuchung muss man einfach lieben, oder?«
»Was?«
»Unsere Zeit heute Abend ist um, Cheyenne. Die beste Zeit, um mich zu erreichen, ist nach zehn Uhr abends. Es sei denn, irgendein Arschloch will alle aufwecken, nur um uns auf Trab zu halten«, sagte der Drow, »nachdem die Lichter hier ausgehen, kommt eigentlich niemand mehr vorbei. Ich werde hier sein, wenn du bereit bist, zurückzukommen.«
Das rote Licht vor seiner Zelle erlosch, bevor sich der Raum dahinter mit hellem Licht füllte. Das gedämpfte Gejammer der anderen Insassen folgte und L’zar zwinkerte der Halbdrow noch einmal zu, bevor er seine Beine wieder auf die Pritsche legte und sich mit hinter dem Kopf verschränkten Händen zurücklegte.
Die Gefängniszelle im Chateau D’rahl und L’zar Verdys verschwanden und Cheyenne wurde ohne ein weiteres Wort in ihren Körper zurückgezogen.