A ls Cheyenne nach Hause kam, rief sie noch einmal das Borderlands-Forum auf. Das bestätigte ihr gutes Gefühl, dass alle geretteten Kinder zu ihren Familien zurückkehren würden. Zwanzig weitere User hatten ein Update über die Rückkehr eines weiteren verschwundenen Minderjährigen gepostet, aber keiner von ihnen erwähnte, wie sie gefunden worden waren oder wer sie zurückgebracht hatte.
Selbst wenn sie es wissen, will niemand offen posten, dass die FRoE den Helden der Nachbarschaft spielt.
Sie schaute auf die Uhr. »Fast ein Uhr nachts. Ja, ich wette, die Rückkehr jedes einzelnen dieser Kinder ist hier veröffentlicht, bevor ich morgen zur Uni gehe. Oh, Scheiße.«
Die Halbdrow zuckte zusammen, als sie ihren Schreibtischstuhl mit etwas zu viel Enthusiasmus näher an den Tisch rückte. Sie loggte sich in ihre VCU-Studierenden-E-Mail-Adresse ein, um die eingehenden E-Mails zu überprüfen. Mattie wird es egal sein, dass ich heute nicht aufgetaucht bin, aber das wird nicht bei allen gut an gekommen sein.
Die einzige E-Mail, die sie erhalten hatte, kam jedoch von Professor Mattie Bergmann, was sie innehalten ließ, bevor sie sich zwang, wenigstens die Betreffzeile zu lesen.
Dringend: Akademisches Treffen mit Cheyenne Summerlin .
»Oh, Mann.« Die Halbdrow klickte die E-Mail an und schloss ein Auge. Jetzt kommt die nächste Hiobsbotschaft. Lies sie einfach.
Liebe Miss Summerlin,
wir sind darauf aufmerksam geworden, dass Sie Schwierigkeiten haben, Ihre Kurse in diesem Semester wie geplant zu besuchen. Daher sind die Professoren und Mitarbeitenden, die an Ihrer persönlichen Ausbildung beteiligt sind, zu dem Schluss gekommen, dass eine alternative Methode zur Erlangung von Credits für Ihren Abschluss im besten Interesse aller Beteiligten sein könnte, falls Sie weiter studieren möchten. Sie sind an diesem Freitag von allen drei geplanten Kursen entschuldigt und müssen stattdessen am Samstagabend um 18:00 Uhr an einer Besprechung im Konferenzraum A des Informatikgebäudes auf dem Campus teilnehmen.
Mit freundlichen Grüßen
Prof. Dr. Mathilda Bergmann
Professorin für Informatik
Virginia Commonwealth Universität
Cheyenne hatte gar nicht bemerkt, dass sie die ganze E-Mail über ängstlich das Gesicht verzogen hatte, bis ihre Stirn und Oberlippe anfingen, zu krampfen. »Das hört sich nicht gut an.«
Sie scrollte zurück an den Anfang der E-Mail und ihr fiel die Kinnlade herunter. »Hersh steht in CC. Und LePlant auch.« Die Halbdrow klickte sich hastig durch die hinzugefügten E-Mail-Adressen, bis sie sie alle geöffnet hatte. »Alle meine Dozierenden. Ein Treffen mit jedem einzelnen von ihnen.«
Mit einem Seufzen ließ sie sich in ihren Schreibtischstuhl zurückfallen und bemerkte kaum den dumpfen Schmerz in ihrer Schulter. Warum nur?
Die E-Mail, die um 15:24 Uhr an diesem Nachmittag verschickt worden war, hatte eine zweite Antwort am Ende. Cheyenne scrollte langsam nach unten. Es würde mich nicht überraschen, wenn Hersh dachte, dass dies der perfekte Zeitpunkt war, um auf ›allen antworten ‹ zu klicken und es mir noch mehr unter die Nase zu reiben.
Aber die zweite E-Mail war auch von Mattie. Sie war um 15:27 Uhr verschickt worden und war nur an Cheyenne gerichtet.
Das solltest du nicht verpassen!!!!
Die Halbdrow schnaubte. »Kursivschrift und vier Ausrufezeichen. Irgendetwas sagt mir, dass sie es ernst meint.«
Cheyenne seufzte, loggte sich aus ihren Universitäts-E-Mails aus und stand von dem Stuhl auf. Ihr Knie knackte wieder und sie sah es an. Es musste einfach ein Samstag sein. Wenigstens schmeißen sie mich nicht aus dem Programm raus. Noch nicht. Ich habe etwas mehr Zeit, um mich zu erholen, denke ich.
Nachdem sie den Monitor ausgeschaltet hatte, holte sie ihr Handy aus der Vordertasche ihres Rucksacks und nahm es mit ins Schlafzimmer. Ein Splitter ihrer zerbrochenen Schlafzimmertür fiel auf den Teppich, als sie sie berührte. Ich werde mir von Corian zeigen lassen, wie ich auch das reparieren kann. Das ist kein Problem.
Es war mühsam, ihre Klamotten auszuziehen, aber als sie alles auf einen Haufen geworfen hatte, kletterte sie in ihr Bett und streckte sich unter der Decke aus. Dreimal musste sie den Anhänger um ihren Hals neu justieren, indem sie ihn von ihrer Brust oder unter ihrem Kopfkissen hervorzog. »Ich werde eine Party feiern, wenn ich das Ding nicht mehr brauche.«
Als sie endlich eine bequeme Position gefunden hatte, fielen ihr die Augenlider zu. Alles tat weh, aber unter all dem lullte sie die summende Präsenz des Nimlothar-Samens, den sie selbst entzündet hatte, schnell in den Schlaf.
* * *
Wie an jedem Wochentag klingelte der Wecker ihres Handys um 6:30 Uhr morgens. Stöhnend musste Cheyenne mehr als einmal versuchen, ihren schmerzenden Arm von der Matratze zu heben. Dann schlug sie mit der Hand auf ihr Handy und zerrte es vom Nachttisch ins Bett.
Geh einfach in den Schlummermodus für so … zwei Stunden.
In dem Moment, als sie den Wecker zum Schweigen brachte, summte ihr Handy mit einer neuen SMS von Ember.
Also, alles super hier . Ich wurde fast vo n meinem eigenen Mundgeruch ausgeknockt und merke, dass ich alle Krankenschwestern im Krankenhaus gelassen habe. Besteht die Möglichkeit, dass du vor der Uni vorbeikommst und mir aushilfst?
Cheyenne kicherte, dann hielt sie sich den Mund zu. »Nicht lustig.«
Sie blinzelte und schickte sofort eine Antwort.
Ich schätze, wir haben das nicht ganz durchdacht, was? Mach dir keine Sorgen. Heute ist keine Uni, also gehöre ich ganz dir. Kannst du noch 30 Minuten durchhalten?
Ember schickte ihr ein Daumen-nach-oben-Emoji als Antwort und die Halbdrow stieß sich von der Matratze ab. Sie ließ das Handy fallen, um sich das Gesicht zu reiben, dann rutschte sie aus dem Bett und wäre fast auf den Boden gefallen.
»Woah.« Cheyenne fing sich an der Bettkante ab und brauchte noch ein paar Sekunden, bis ihre Beine wieder normal funktionierten, dann stand sie vorsichtig auf. Vielleicht übertreibe ich es mit dem Training. Ich tue Ember auch keinen Gefallen, wenn ich nicht laufen kann.
Sie humpelte in Richtung ihrer Schlafzimmertür und des Badezimmers auf der anderen Seite des kurzen Flurs, dann stöhnte sie und schüttelte den Kopf. Nicht-laufen-Kommentare sind auch vom Tisch. Das ist die Realität für sie. Sie braucht keine Klugscheißerin, die es noch schlimmer macht.
Der Anblick ihres Spiegelbildes ließ die Halbdrow erneut innehalten. Sie verzog das Gesicht wegen der dunkler werdenden blauen Flecken, die ihre rechte Schulter übersäten und die linke komplett bedeckten. Ihr ganzer Oberkörper war voll von dunklen, violett-roten Flecken. Auf ihrem Rücken waren noch mehr und der größte Teil ihres rechten Oberschenkels war ein einziger riesiger Bluterguss.
Ständig halb im Drowmodus. Das ist der Look, den ich jetzt trage. Stirnrunzelnd schnappte sich Cheyenne ihre Bürste und fing an, sich durch ihre Haare zu kämpfen. Nimm auch Heilsalben in die Liste der Sachen auf, die ich in den Zauberstunden lernen möchte.
* * *
Etwas mehr als eine halbe Stunde später ging Cheyenne auf ihren Panamera auf dem Parkplatz zu, der fröhlich piepte, als sie ihn aufschloss, wodurch sie sofort ihre Schmerzen vergaß, die sie eigentlich bei jeder Bewegung spürte. Sie ging den Außenflur von Embers Wohnkomplex entlang, schloss die letzte Tür links auf und trat ein. »Schatz, ich bin zu Hause.«
»Sehr lustig«, rief Ember aus ihrem Schlafzimmer. »Näher werde ich wohl nie an einen Sugardaddy herankommen. Und das zählt nicht, weil du es bist.«
Lachend zog die Halbdrow die Tür hinter sich zu und schloss sie ab. Dann ging sie in das Schlafzimmer und fand ihre Freundin im Bett vor, wo sie sich auf den riesigen Haufen Kissen stützte, den sie in der Nacht zuvor an das Fußende des Bettes geworfen hatten. »Du siehst aus, als hättest du es gemütlich.«
»Viel besser als ein Krankenhausbett. Das kann ich mit Sicherheit sagen.« Ember fuhr sich mit der Hand durch die Haare und holte tief Luft. »Aber ich habe genug von Betten, Cheyenne. Bitte sag mir, dass du mich nicht in meiner Wohnung einsperrst und es ›ausruhen‹ nennst. Ich bin keine Stubenhockerin.«
»Ja, das weiß ich.« Cheyenne schnappte sich den Rollstuhl und brachte ihn so nah wie möglich an das Bett. »Noch ein Grund mehr, warum es gut sein könnte, dass wir beide eine Weile zusammen wohnen.«
»Könnte, hm?« Ember legte einen Arm um die Schultern ihrer Freundin und hielt sich fest, während die Halbdrow sie halb zog, halb auf den Stuhl hob. »Ich dachte, wir hätten schon beschlossen, dass das ein perfektes Arrangement ist? Aua ! Ich kann immer noch meinen oberen Rücken spüren, weißt du.«
»Tut mir leid.« Cheyenne versuchte, nicht zu lachen und stemmte ihren Fuß gegen die Außenseite eines der Räder, um den Stuhl zu stabilisieren und das Fae-Mädchen in die richtige Position zu bringen. »Notiz an mich selbst. Die Räder für so etwas sperren.«
Ember drückte sich an den Armlehnen hoch, um eine angenehme Position im Stuhl zu finden und versuchte, sich die plötzlich aufkommenden Schmerzen nicht anmerken zu lassen, aber man konnte es in ihrem Gesicht sehen. »Für eine Halbdrow, die mich von Jackson Ward ins Krankenhaus getragen hat, scheint es dir heute Morgen an Armstärke zu fehlen.«
»Dir nicht.«
»Ich schätze, das kommt vom vielen Klettern.« Ember winkte ab und zuckte mit den Schultern. »Gut, dass ich damit damals angefangen habe, stimmt’s?«
Cheyenne betrachtete ihre Freundin und biss sich auf die Unterlippe. »Ich weiß wirklich nicht, ob du Witze machst oder es ernst meinst und versuchst, es mit Sarkasmus zu überspielen.«
Ember schnaubte. »Wahrscheinlich beides. Ich teste die Gewässer mit selbstironischem Humor. Das solltest gerade du verstehen.« Sie warf dem Halbwesen einen Seitenblick zu und lächelte ein wenig, dann packte sie beide Räder und versuchte, sich vorwärtszuschieben. Der Stuhl bewegte sich nur ein paar Zentimeter, bevor sie aufgab. »Ich hasse Teppich!«
»Du bist ein bisschen weiter gekommen als bei dem einen Versuch gestern.«
»Ich habe ihn auch schon vorher gehasst und jetzt behindert er mich bei allem, was ich tun will. « Die Fae ließ die Hände in den Schoß fallen und starrte auf die gegenüberliegende Wand ihres Schlafzimmers.
Cheyenne ließ sie einen Moment gewähren. Wir wussten beide, dass es ein bisschen holprig werden könnte. »Em?«
Ember schloss ihre Augen und seufzte. »Ja.«
»Ich werde nicht fragen, ob es dir gut geht, denn darauf gibt es keine einfache Antwort.« Die andere Frau schüttelte frustriert den Kopf, ihre Augen waren immer noch geschlossen. »Aber ich werde dich fragen, ob du bereit bist, dich ins Bad schieben zu lassen, weil ich wette, dass deine SMS heute Morgen ein kleiner Notfall war.«
Ein kleines, atemloses Lachen entwich Ember und sie nickte. »Im Moment ist alles ein kleiner Notfall.«
»Na gut. Ich bin bereit, mich einem nach dem anderen zu stellen, wenn du es auch bist.« Die Unterlippe der Fae begann zu zittern, also trat Cheyenne an die Rückseite des Rollstuhls und griff nach den Griffen. Sie wird weinen oder auch nicht. Ich werde nicht da stehen und auf eine Show warten. »Sag einfach Bescheid.«
»Bescheid, Cheyenne.« Die andere Frau nickte und schniefte, dann hob sie einen Finger in Richtung ihrer offenen Schlafzimmertür. »Vorwärts, Halbdrow. Auf geht’s!«
»Okay, ich lasse den Schlachtruf dieses Mal in die Kategorie ›passabel‹ fallen. Es könnte sich lohnen, dein Wissen über Schlachtrufe aufzufrischen.«
»Ich bin erst seit einem Tag zu Hause, okay? Gib mir etwas Zeit.« Ember schniefte wieder, wischte sich die Nase ab und lachte ein wenig. »Ich muss ein paar Dinge im Bad erledigen.«
»Oh, ja?« Cheyenne kramte in der Reisetasche ihrer Freundin auf dem Boden neben dem Bett und zog Embers Waschbeutel heraus. Darin befanden sich Zahnbürste und Zahnpasta, die die Halbdrow mit einem Lächeln ihrer Freundin überreichte. »Ohne deine Waffen kannst du nichts erschlagen.«
»Genau.« Ember nickte und zeigte mit ihrer Zahnbürste auf die Schlafzimmertür. »Vorwärts.«
Kichernd packte Cheyenne wieder die Griffe des Rollstuhls und schob ihn viel schneller als nötig durch den Raum, hinaus in den Flur und in das Badezimmer auf der anderen Seite. Die magielose Fae stieß ein Quieken aus, das eigentlich ein Kampfschrei sein sollte und sie lachten, als der Rollstuhl quietschend neben dem Waschbecken zum Stehen kam. »Daran müssen wir noch arbeiten.«
Ember öffnete die Zahnpasta und winkte damit ihrer Freundin zu. »Ganz oben auf meiner Liste, Halbdrow.«