N ach dem sechsten Trip zu ihrem Auto hatte Cheyenne endlich ihre Kleidung und alle Teile von Glen im Kofferraum und auf dem Rücksitz ihres Panamera verstaut. Sie wischte sich die Hände ab und schaute zu dem Gebäude hinauf, das sie seit einigen Jahren ihr Zuhause nannte. Ich könnte den Mietvertrag kündigen, wenn ich wollte. Aber es ist besser, die Wohnung als Köder zu behalten. Zumindest für den Moment.
Sie setzte sich auf den Fahrersitz, startete das Auto und umschloss mit beiden Händen das Lenkrad. »Ich werde diesen Ort nicht einmal ein bisschen vermissen.«
Glücklich verließ sie den Parkplatz und machte sich auf den Weg zu ihrer schicken, neuen Wohnung mit einer richtigen Mitbewohnerin, während sie alles, was sie brauchte, auf dem Rücksitz ihres schicken, neuen Autos transportierte.
* * *
»Okay, ich weiß, dass ich schon den ›Schatz, ich bin zu Hause‹-Spruch benutzt habe, also sage ich dieses Mal einfach ›wow‹.« Cheyenne drehte sich um, nachdem sie die Wohnungstür geschlossen hatte und fand Ember in ihrem Rollstuhl in der Mitte des Wohnzimmers sitzend vor, umgeben von mindestens einem Dutzend großer Kartons. »Du bist beim Online-Shopping durchgedreht, was?«
»Wusstest du, dass es Leute gibt, die deine Sachen in jedem Laden in der Gegend abholen und zu dir bringen?« Ember strahlte und machte mit einem Arm eine ausladende Geste durch das mit Kisten gefüllte Wohnzimmer. »Also, das ist tatsächlich deren Arbeit.«
»Für jeden, der es will?«
»Ja, ich denke schon. Ich habe nicht daran gedacht, zu fragen.« Ember lachte. »Ich meine, ich werde doch nicht einen Haufen Anrufe machen und sagen: ›Hallo, ich bin Ember. Ich sitze im Rollstuhl. Können Sie das für mich tun?‹«
Cheyenne biss sich auf die Unterlippe und quetschte sich am nächsten Kistenstapel vorbei. »Natürlich, das musst du ja auch nicht.«
»Ich weiß, oder? Ich schätze, wir müssen morgen sowieso eine Menge auspacken.«
»Äh …« Cheyenne ging auf die Kücheninsel zu und zeigte ihrer Freundin den Becher Ben & Jerry’s, den sie mitgenommen hatte, bevor sie ihn auf der Granitarbeitsplatte abstellte. »Bezüglich morgen.«
»Was ist denn jetzt passiert?« Ember rollte sich den Gang zwischen den Kisten hinunter und durchsuchte die Küchenschubladen.
»Nichts Großes. Ich habe dir doch von meinen Trollnachbarn erzählt, oder? Na ja, Ex-Nachbarn, denke ich.«
»Ja, die Unterwäscheschneider.« Ember kicherte. »Heilige Scheiße. Als sie meinten, voll möbliert, meinten sie wirklich voll.« Sie schloss die Schublade und hielt zwei Löffel hoch. »Silberbesteck und alles.«
»Sieh dir das an.« Die Halbdrow trat um die Kücheninsel herum, um den ihr angebotenen Löffel zu nehmen, dann öffnete sie den Eisbecher und reichte ihn weiter. »Meine Trollfreunde versuchen schon seit einer Weile, mich dazu zu bringen, mit ihnen nach Peridosh zu gehen und ich muss sowieso bald dorthin, um ein paar Zutaten für Zaubersprüche zu holen, von denen ich noch nie gehört habe und denen ich nicht ganz traue.«
»Hm.« Ember nahm sich einen zweiten großen Löffel Eiscreme und reichte den Becher zurück. »Klingt aufregend.«
»Ja, vielleicht. Ich habe sie eingeladen, morgen nach dem Mittagessen mit mir zu kommen.«
»Oh, Mann . Wie lange bin ich jetzt schon in Richmond? Etwas mehr als vier Jahre? Ich wollte schon immer mal hinfahren, um zu sehen, wie es dort ist.«
»Dann komm mit uns.« Cheyenne zuckte mit den Schultern und trotzte dem drohenden Gehirnfrost mit einem weiteren riesigen Bissen Eiscreme.
»Weißt du, du hast sonst immer so tolle Ideen, Cheyenne.« Ember schnappte ihrer Freundin den Becher aus der Hand. »Aber die gehört nicht dazu.«
Die Halbdrow schmunzelte. »Warum nicht?«
»Zunächst einmal habe ich absolut keine Magie.« Ember nahm noch einen Bissen, dann zeigte sie mit dem Löffel auf ihre Freundin, während sie weitersprach. »Wenn wir also in Schwierigkeiten geraten, wäre ich nicht sehr nützlich. Von der Sache mit dem Rollstuhl mal ganz abgesehen.«
»Ich war neulich in einer Kneipenschlägerei mit fünf Idioten. Ganz allein.« Cheyenne verschränkte ihre Arme und lehnte sich gegen den Tresen. »Da ist es kein Problem, wenn du keine Magie hast, um mich zu beschützen.«
»Okay, aber ich habe nicht mit dem wichtigsten Grund angefangen, oder?« Die Fae schaufelte noch mehr Eis in ihren Mund und reichte den Becher zurück. »Ich kann nicht gehen, weil ich wie ein Mensch aussehe, Cheyenne. Das ist sicher nützlich, um meine Identität als magisches Wesen ohne Magie geheim zu halten. Nicht so gut an einem Ort, an dem jeder Mensch, der hineingeht, wahrscheinlich nicht wieder herauskommt.«
Cheyenne blinzelte. »Hm. Daran habe ich gar nicht gedacht.«
»Ja, ich weiß. Du hast versucht, deine Drowseite geheim zu halten. Nun, ich habe auch versucht, meine magielose Seite geheim zu halten. Das ist jede Seite. Ich kann sie offen zeigen und es einen Illusionszauber nennen. Außerdem hat man mir gesagt, dass Fae einen ziemlich ausgeprägten Geruch haben, also denke ich, dass das immer noch für mich spricht.«
Die Halbdrow hätte fast die ganze Theke mit Eis bespritzt, als sie lachte. Sie reichte ihrer Freundin schnell das Eis, damit sie sich konzentrieren konnte. »Einen Geruch ?«
»Ja. Einen Fae-Geruch. Ich weiß es nicht.«
»Den habe ich nie bemerkt. Dass die Drow einen sehr ausgeprägten Geruchssinn haben, stimmt nämlich.«
Ember zuckte mit den Schultern. »Vielleicht liegt es daran, dass du bis letzte Woche nicht wusstest, dass ich eine Fae bin. Du dachtest, ich würde einfach so riechen.«
»Wir können jederzeit aufhören, über deinen Fae-Duft zu reden.«
Lachend breitete Ember ihre Arme aus. Ein Klecks Eiscreme tropfte von ihrem Löffel, aber sie bemerkte es nicht. »Ich will es dir nur verständlich machen, Cheyenne. Wenn es keine Möglichkeit für mich gibt, wie eine Fae aus zusehen , kann ich da nicht runtergehen.«
Cheyenne runzelte die Stirn und hob einen weiteren Bissen Eiscreme auf Höhe ihres Mundes. »Vielleicht gibt es das.«
»Ich meine keine Gesichtsbemalung, Goth-Mädchen.«
»Sehr witzig.« Jetzt steckte sich die Halbdrow den Löffel in den Mund. »Ich spreche von Illusionszaubern. Es ist nicht so, dass sie spezifisch für menschliche Illusionen sind. Ich wette, wir könnten herausfinden, wie wir dich so verzaubern können, dass du von außen genauso aussiehst wie von innen.«
»Was du siehst, ist, was du bekommst, Halbblut.«
»Das ist übrigens mein Satz.«
Ember lachte. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass er allen gehört.«
»Ja, aber ich sage ihn schon viel länger als du.«
»Du hast ja keine Ahnung.«
Schnaubend blickte Cheyenne auf den fast leeren Becher im Schoß ihrer Freundin und drehte sich um, um ihren Löffel in die Spülmaschine zu stecken. »Mann, schöne Küche, was?«
»Ja, das war wirklich eine gute Wahl.« Ember aß den Rest des Eises auf und rollte dann rückwärts von der Kochinsel weg, um den Rest der Küche zu durchsuchen. »Daher weiß man also, dass es nur eine Modellwohnung ist. Kein Mülleimer.«
»Hm. Du hast die Schwachstelle gefunden.«
»Scheint so. Na gut. Die erste leere Kiste ist unser vorläufiger Mülleimer, denke ich.« Die Fae stellte den Behälter auf den Tresen und Cheyenne nahm ihr den Löffel ab, bevor das Mädchen die Gelegenheit hatte, sich durch die Küche zu bewegen. »Ich kann einen Löffel in die Spülmaschine stecken, Cheyenne.«
»Ich weiß.«
»Okay, du bist also morgen bei deinem tollen Abenteuer in Peridosh mit einer Trollfamilie und ich werde einfach …« Ember leckte sich über die Lippen, rief etwas auf ihrem Handy auf und schmunzelte. »Was hältst du davon, wenn jemand vorbeikommt und mir hilft, alles einzuräumen?«
»Wer denn?« Besser nicht Trevor oder einer der anderen Feiglinge.
»Es gibt eine Firma, die uns die Kartons vom Laden bis zur Haustür bringt. Wenn ich hundert Dollar mehr hätte, würde ich wetten, dass es eine Firma gibt, die speziell für Menschen da ist, die Hilfe beim Ausrollen von Teppichen und Aufhängen von Gardinen benötigen.«
Cheyenne warf einen Blick auf die riesige Fensterwand. »Bitte sag mir, dass du nicht für die ganze Wand Vorhänge bestellt hast.«
»Nein, nur für mein Schlafzimmer. Ich mag Vorhänge.«
»Klar. Stell jemanden ein, der dir mit den Vorhängen hilft.«
»Oh, das werde ich. Es wird einfach fantastisch sein.«
»Woah. Beruhige dich, Faemädchen.« Mit einem kurzen Lachen ging Cheyenne durch die Wohnung zurück zur Tür. »Ich werde meine Sachen aus dem Auto holen. Wahrscheinlich muss ich wieder ein paar Mal hin und her gehen. Ich liebe den Aufzug in dieser Wohnung, das kann ich dir sagen.«
»Kein Problem. Ich werde hier sein.« Ember nickte, als die Halbdrow aus der Wohnung trat und die Tür hinter sich schloss. Dann rollte sie zufrieden zurück ins Wohnzimmer, um sich die Kisten mit den Sachen anzusehen, die sie in den letzten Stunden bestellt hatte. Die Physiotherapie wird toll werden. Doktor Andrews hätte auch eine Shopping-Therapie auf die Liste setzen sollen.
* * *
Anderthalb Stunden später ließen sich die magielose Fae und die Halbdrow vor dem Couchtisch nieder, während Cheyenne Netflix auf ihrem Laptop laufen ließ. »Und du bist in der Stimmung für …?«
Ember zuckte mit den Schultern und nippte an ihrer dritten Flasche Wasser des Tages. »Vollkommen egal. Es ist mir sogar egal, dass es auf deinem Laptop läuft. Das ist millionenmal besser als die lächerlich schlechte Auswahl an Kanälen im Krankenhaus.«
»Man sollte meinen, mehr Unterhaltungsmöglichkeiten würden den Leuten helfen, sich zu erholen, was?«
»Oder? Ich schätze, sie wollen nicht, dass ihre Patienten von der harten Arbeit abgelenkt werden, da zu liegen und gesund zu werden.«
»Nun, damit bist du fertig, Mitbewohnerin.« Cheyenne lächelte, als ihre Freundin auf den Laptop-Bildschirm blickte und schüttelte den Kopf. »Wenn du willst, kann ich morgen deinen Fernseher holen. Und den Surround-Sound anschließen. Hier drin wird es ganz anders sein.«
»Was ist mit deinem Schreibtisch?«
Beide Mädchen warfen einen Blick auf die schmale Eisentreppe hinauf zum Mini-Loft über der Waschküche. »Ja, ich habe nicht daran gedacht, wie ich das Ding die Treppe hochkriege.«
»Vielleicht mit Drow-Superkräften?«
»Klar, wenn ich den ganzen Schreibtisch da hochwerfen und hoffen will, dass er perfekt landet, ohne etwas kaputtzumachen.«
Ember lachte so sehr, dass sie sich verschluckte und husten musste. »Das würde ich gerne sehen. Nicht in dieser Wohnung, aber ich würde es trotzdem gerne sehen.«
»Wenn wir das nächste Mal eine Wohnung finden, in der ein Schreibtisch so nach oben muss, werde ich dir Bescheid geben. Ich schätze, die Ausstellungsmöbel, die schon da oben stehen, müssen für Glen reichen. Fürs Erste. Er ist wie ich – anpassungsfähig, fast unverwüstlich und kann die Arbeit von fast überall aus erledigen.«
»Solange es eine Internetverbindung gibt.«
»Okay, das ist nur halb richtig.«
»Ich hab’s kapiert. Spiel einfach etwas auf dem verdammten Laptop ab, damit ich mein Gehirn ausschalten und mich für eine Minute auf die Geschichte von jemand anderem konzentrieren kann.«