Cheyenne riss das Handy ruckartig auf und hielt es sich wütend ans Ohr. »Ja.«
»Halbblut.« Major Sir Carsons Stimme war tief, kratzig und fast zögerlich.
Er ist wegen irgendetwas sauer und ruft mich als Plan B an. Schon wieder.
Sie wartete darauf, dass er ihr wie üblich Befehle erteilte und wusste nicht, was sie tun sollte, als er es nichts sagte. »Ich nehme an, Sie haben mich aus einem bestimmten Grund angerufen. Ich warte.«
»Du musst deinen Arsch sofort auf das Gelände bewegen. Wir haben ein Problem.«
»Was Sie nicht sagen?«
Sir räusperte sich. »Ich kann deinen Sarkasmus schmecken, Mädchen. Nicht mein Lieblingsgeschmack.«
Cheyenne runzelte die Stirn. »Ja, mir gefällt es nicht, dass Sie diesen Anruf hinauszögern und mir keinen Grund geben, warum ich an einem Samstagmorgen alles für Sie fallen lassen soll.«
Am anderen Ende der Leitung wurden gemurmelte Worte ausgetauscht, gefolgt von einem kurzen ›Verdammt‹. Die Leitung knisterte und Sirs Stimme meldete sich laut und deutlich. »Sheila hat neunundfünfzig der sechzig entführten Kinder zu ihren Eltern zurückgebracht. Das letzte will uns aber nichts sagen.«
»Haben Sie immer noch eins von ihnen bei sich?« Die Hitze der Drowmagie wäre schon längst ihren Rücken hinaufgekrochen, wenn sie nicht diesen verdammten Anhänger getragen hätte.
»Ich will sie genauso wenig hier haben wie du. Da du der Kinderflüsterer bist, komm hier runter und hilf uns, die Letzte wieder dahin zu bringen, wo sie hingehört. Und zwar sofort, Halbdrow.«
Cheyenne legte auf und klappte das Handy zu. »Was zum Teufel machen die da?«
»Ich nehme an, das war kein Glückwunschtelefonat mit einem Dankeschön.« Ember beobachtete ihre Freundin mit einem besorgten Stirnrunzeln.
»Ich habe nur eines davon bekommen. Irgendwie.« Die Halbdrow schüttelte den Kopf. »Ich muss gehen, Em. Anscheinend reichen all die Ausrüstung und die schicken Fellwaffen nicht aus, um ein letztes Kind zu seiner Familie zurückzubringen.«
»Die, die du gerettet hast?« Ember rollte durch das Wohnzimmer und wich ruckartig geöffneten Kisten und unordentlichem Verpackungsmaterial aus.
»Ja. Scheiße, wenn sie von Anfang an auf mich gehört hätten, wäre sie jetzt mit all den anderen zu Hause.« Cheyenne schnappte sich ihren schwarzen Kapuzenpulli und zog ihn sich über den Kopf. Dann griff sie sich beide Handys, ihren Schlüsselanhänger und ihren Geldbeutel und steckte sie in verschiedene Hosentaschen. »Zwei Tage. Zwei . Das Kind muss jetzt schon durchdrehen.«
»Kann ich irgendetwas tun?« Ember schenkte ihr ein zaghaftes Lächeln.
»Warte einfach ab, Em. Anscheinend bin ich die einzige Person, die hier helfen kann.« Die Halbdrow blinzelte und schaute sich in der Wohnung um. »Tut mir leid, dass ich einfach so abhauen muss.«
»Halt die Klappe. Da ist ein Kind, das mit einem Haufen Arschlöchern in Schwarz eingesperrt ist, das irgendwo eine magische Familie hat, die sich große Sorgen macht.« Das Fae-Mädchen zuckte mit den Schultern. »Ich komme schon klar, wenn ich ein paar Stunden allein bin.«
»Okay. Ich habe mein Handy dabei, also wenn du etwas brauchst …«
»Sie ist ein Kind, Cheyenne. Ich sitze nur im Rollstuhl. Ich bekomme das hier schon hin.«
Mit einem leichten Lächeln ging die Halbdrow auf die Tür zu und drehte sich um, um auf ihre Mitbewohnerin zu zeigen. »Ich weiß, dass du das kannst, Em. Selbst wenn Matthew Thomas wieder an die Tür klopft. Du hast dir das alles gut überlegt, oder?«
»Zwing mich nicht, dich hier rauszuschubsen. Wenn ich drin sitze, hat der Stuhl ordentlich Wucht.«
Lachend öffnete Cheyenne die Tür und trat hinaus in den Flur. »Ich werde nicht zu lange weg sein.«
»Okay, tschüss.«
Die Tür schloss sich hinter ihr und Cheyenne zupfte ihren Kapuzenpulli nach unten, während sie zum Aufzug ging. Wenn Sir Rhynehart noch nicht den Arsch aufgerissen hat, weil er mich zurückgelassen hat, dann werde ich das jetzt ganz sicher tun.
* * *
Die erste Fahrt zum FRoE-Gelände, die sie allein unternahm, war so einfach zu finden, dass man denken könnte, sie hätte sie schon hundertmal gemacht. Als Cheyenne auf die unmarkierte Zufahrtsstraße einbog und die Tortürme vor sich sah, schmunzelte sie. »Der Orientierungssinn der Drow und Bianca Summerlins unheimliches Gedächtnis ergeben eine Halbdrow, die nie etwas vergisst. Dafür muss ich mich bei ihr bedanken.«
Der Panamera rollte auf den riesigen Parkplatz voller FRoE-Nutzfahrzeuge, Vans und Rhyneharts Jeep, die alle schwarz und glänzend waren, genau wie Cheyennes neues Auto. Es war leicht, Sirs leuchtend orangefarbenen Kia zu erkennen.
Sie konnte ein Kichern nicht zurückhalten, als sie erkannte, wie beschissen Sir geparkt hatte. Der Rio stand schräg hinter Rhyneharts Jeep, als wäre der Mann seinem Stellvertreter in Eile gefolgt und hätte sich nicht die Mühe gemacht, sich ordentlich in die Reihe der anderen Fahrzeuge einzureihen. »Es ist, als hätte er das extra für mich getan.«
Cheyenne fuhr um das Ende der aufgereihten Fahrzeuge herum und stellte den Panamera neben Rhyneharts Jeep ab. Sie schaute auf die glänzende hintere Stoßstange direkt vor der Fahrertür, schaltete in den Parkmodus und stellte den Motor ab.
Genug Platz für mich, um auszusteigen. Sie öffnete die Tür und schlüpfte hinaus in die kühle Morgenluft. Der Panamera piepte, als sie abschloss und sie gab dem Dach ihres Wagens einen liebevollen Klaps, bevor sie Rhyneharts Jeep den Mittelfinger zeigte und auf den Eingang des Gebäudes zuging. Mal sehen, wie er sich da rauswinden will.
Die unmarkierte Tür öffnete sich schnell, als sie an der Klinke rüttelte und dann stand sie in der Eingangshalle der Geheimorganisation. Wieder leer. Warum gibt es diesen Raum überhaupt?
Die Halbdrow machte sich auf den Weg durch die Lobby und den kurzen Flur hinunter in den Gemeinschaftsraum. Leise Gespräche und gellendes Lachen drangen zu ihr durch, bevor sie den größeren Raum betrat, der zur Hälfte mit FRoE-Agenten in schwarzen Kampfanzügen, schwarzen Sparringsuniformen und Zivilkleidung gefüllt war.
Bhandi saß auf demselben Stuhl an demselben Tisch wie an dem Tag, an dem sie Cheyenne mit Gefangenschaft gedroht hatte. Die scharlachroten Zöpfe der Trollfrau waren zu einem Zopf geflochten, aber einige Strähnen hingen über die Schultern des schwarzen T-Shirts, das in eine schwarze Kampfhose gesteckt war. Ihre Füße hatte sie übereinander geschlagen und die Beine gerade vor sich ausgestreckt. »Na, sieh mal an, wer da ist.«
Cheyenne blieb stehen und konnte nicht anders, als das breite Lächeln der Agentin zu erwidern. »Höchstpersönlich, nicht wahr?«
Bhandi hielt ihr Handy hoch und wackelte damit vor der Halbdrow. »Ich habe gesehen, dass du dir ein neues Auto gekauft hast.«
»Was?« Die Halbdrow trat vor und schaute auf das Handy der Trollfrau. »Warum hast du die Überwachungskameras auf dem Parkplatz mit deinem Handy synchronisiert?«
»Äh, das war ein abteilungsweiter Alarm. Das System sendet ihn jedes Mal aus, wenn jemand durch die Tore kommt. Jedes verdammte Mal.«
»Ihr spioniert euch also gerne gegenseitig aus, hm?«
Bhandi zuckte mit den Schultern. »Ich passe nur auf, wenn es interessant ist. Ich musste zweimal hinschauen, als ich den glänzenden, neuen Panamera vorfahren gesehen habe. Dann habe ich festgestellt, dass du ausgestiegen bist und hey! Das war interessant.«
Cheyenne kicherte. Sie haben alle eine persönliche Aufnahme davon bekommen, wie ich Rhynehart meine Liebe schicke. Ja, das werde ich mir anhören müssen. »Ich bin einfach ein interessanter Mensch.«
»Aha.« Die Trollfrau legte ihr Handy mit dem Bildschirm nach unten auf den Tisch und verschränkte die Arme. »Einen schönen Satz Räder hast du da gekauft. Aber jetzt passen du und dein Auto nicht mehr zusammen, was? Sieht so aus, als bräuchte die Goth-Drow ein neues Outfit.«
»Leck mich, Nacktarsch.«
Jemand lachte laut auf der anderen Seite des Gemeinschaftsraums, dann stimmten einige andere mit ein und begannen, Sticheleien gegen Bhandi durch den Raum zu rufen.
»Ja, ha ha ha.« Bhandi zeigte allen den Vogel und blickte sich mit zusammengekniffenen Augen um, aber das Grinsen blieb auf ihren dunkelvioletten Lippen.
»Es ist an der Zeit, dass du dir ein bisschen mehr Spaß gönnst, Cheyenne.« An einem Tisch, der näher an den Sofas und dem Kamin stand, breitete Tate die Arme aus und legte den Kopf schief. »Ich meine, ich weiß, dass wir dich mit dem Leeren Fass entjungfert haben, aber mit dem Auto hast du es auf eine ganz neue Ebene gebracht.«
»Erwartet nicht, dass ich euer Chauffeur werde.« Die Halbdrow zeigte auf den Trollmann, der neben einigen anderen Agenten saß. Dann blickte sie wieder zu Bhandi. »Und nein, du kannst es auch nicht fahren.«
»Pah. Wenn ich mich hinter das Steuer dieses Dings setzen würde, würde mich keiner von euch Arschlöchern je wiedersehen.«
Cheyenne schaute sich im Raum um und nickte den anderen Agenten zu. »Wo ist Yurik?«
»Wen kümmert das schon?« Der Kobold, der mit zwei bulligen Orks Texas Hold’em spielte, lachte und gab eine weitere Karte aus.
»Wahrscheinlich sucht er im Internet nach einem weiteren dieser Pullover, nur damit wir anderen kotzen müssen, wenn er ihn anzieht.«
Daraufhin lachten wieder alle, jedoch wurde das Geräusch teilweise von Stiefeln übertönt, die schnell den Flur vom medizinischen Flügel hinunterstapften. Genauso schnell verstummte das Gelächter wieder und die Köpfe drehten sich in Richtung des Flurs jenseits des stehenden Kamins.
Cheyenne bemerkte den Wechsel in der Aufmerksamkeit ein wenig zu spät und drehte sich um, um den Blicken der Agenten mit einem Grinsen zu folgen. Ihr Lächeln verblasste, als sie sah, wie Rhynehart sie mit verschränkten Armen eindringlich ansah. Jemand räusperte sich. Eine weitere Karte wurde auf den Tisch gelegt.
Die Halbdrow blickte Rhynehart ebenso eindringlich an. Ich werde nicht mit eingezogenem Schwanz zu ihm gehen. Er kann es sagen oder wir können den ganzen Tag hier stehen.
Das kleine Patt dauerte nur einen Moment länger, bevor Rhynehart den Kopf schief legte. »Willst du dich bewegen oder nicht, Mädel?«
»Ich warte nur darauf, dass du nett fragst.«
Ein anderer Agent schnaubte, aber das war alles, was er zu lachen hatte.
Rhynehart breitete seine Arme aus und deutete den Gang hinter ihm hinunter. »Ja, schön. Da geht’s lang, bitte sehr. Los geht’s.«
Cheyenne warf einen Blick auf Bhandi, die ihre scharlachroten Augen weit aufriss und flüsterte: »Unangenehme Situation …«
Sie verdrehte die Augen, schüttelte den Kopf und ging durch den Raum. Ein paar der anderen Agenten warfen ihr kurze Blicke zu und lächelten teilnahmslos. Sie alle wissen, dass ich von Anfang an hätte hier sein sollen und niemand sagt etwas vor Rhynehart.
Als sie an den Stühlen und Sofas vor dem Kamin vorbeikam, stieß jemand ein lautes Furzen aus, woraufhin sofort leises Kichern und angewidertes Jammern zu hören waren. »Verdammt noch mal, Lunzi! Was zum Teufel isst du?«
Cheyenne presste die Lippen aufeinander und wich Rhyneharts Blick nicht aus. Als sie ihn erreichte, schaute er noch einmal kurz in den Gemeinschaftsraum, dann drehte er sich um und führte sie den Korridor hinunter.
»Wolltest du mir auf dem Parkplatz eine Nachricht schicken?«, murmelte er, während seine Stiefel laut über den Boden stapften.
»Sieht aus, als hättest du sie bekommen.« Die Halbdrow warf ihm einen Blick von der Seite zu und der Agent schüttelte den Kopf.
»Ich habe einen Anruf getätigt, Cheyenne.«
»Ja, eine schlechte Entscheidung nach der anderen, was?«
Rhynehart sah verärgert aus. »Wenn du Geheimnisse hast, ist es verdammt schwer für mich, meinen Job zu machen.«
»Ich habe Geheimnisse?« Cheyenne lachte trocken und starrte auf das Ende des Ganges vor ihr. »Du hast die Messlatte von Anfang an hoch gelegt. Ich spiele nur dein Spiel mit.«
»Das ist alles kein Spiel, Cheyenne. Das weißt du.«
»Okay, du kannst aufhören, den großen Bruder zu spielen, der sich um die Halbdrow kümmert. Du hast mir einen Peilsender in die Schulter gesteckt, einen Einbruch inszeniert, um zu sehen, ob ich einen Unschuldigen töte, weil du es mir befiehlst, mich mit einem Drow-Betäubungsmittel angeschossen und nichts gesagt, als ich wusste, dass die Kinder verschwunden sind. Das ist die kurze Liste. Soll ich weitermachen?«
»Ja. Wie wär’s, wenn du mir erzählst, was zum Teufel in der Villa passiert ist?« Sie bogen am Ende des Flurs nach rechts ab und gingen die Reihen geschlossener Türen und die FRoE-Version der Krankenhauszimmer hinter sich ab.
»Nicht, bevor du mir sagst, dass du dich geirrt hast.«
»Geheimnisse bringen gute Leute im Einsatz um, Cheyenne.«
Sie blieb mitten in der Halle stehen und als Rhynehart das bemerkte, blieb er ebenfalls stehen. Er seufzte, aber er drehte sich nicht um.
»Das ist witzig, Rhynehart. Denn so wie ich mich erinnere, hat mein Geheimnis deinen Arsch in der Villa gerettet. Hast du eine andere Version gehört?«
Der Mann drehte sich so weit, dass er sie gerade so mit einem starren Blick aus den Augenwinkeln ansehen konnte. »Und was passiert, wenn sich dieses Geheimnis gegen uns wendet? Dann kann es uns ohne Vorwarnung angreifen und wir können uns nicht wehren.«
»Du meinst, so wie du dich gegen mich gewandt hast.«
»Das ist nicht …«
»Das ist genau das, was passiert ist.« Cheyennes Fäuste ballten sich an ihren Seiten. Dafür würde ich am liebsten zur Drow werden. »Du möchtest mir vertrauen können? Geh mit gutem Beispiel voran. So macht man das, wenn man das Sagen hat.«
»Hör zu, Mädel, wenn ich zwei Möglichkeiten vor mir habe und eine davon ist, Befehle zu befolgen, ist es egal, was die andere ist.«
»Ja, das ist dein Problem. Du ziehst die anderen Optionen nicht einmal in Betracht. So bist du bei einem O’gúleesh-Fleischkopf gelandet, der vorgegeben hat, Teil der FRoE zu sein.« Die Halbdrow zwang sich, auf ihn zuzugehen und zischte frustriert. »Und du hast mich gebraucht, um auch das herauszufinden. Wenn du nicht ohne Vorwarnung angegriffen werden willst, solltest du dafür sorgen, dir nicht unnötig viele Feinde zu machen.«
Rhyneharts Nasenflügel blähten sich, als er mit der Zunge über seine oberen Zähne fuhr. Er starrte einen Moment lang die Wand an, dann begegnete er ihrem Blick direkt. »Genau das versuche ich zu tun. Du machst das ziemlich schwierig.«
»Das ist Blödsinn und das weißt du. Deine Unwissenheit ist nicht meine Schuld und ich schulde dir gar nichts.«
Sein Kiefer arbeitete, während er seine Augen verengte.
Die Halbdrow konnte sein Aftershave und die Waffeln riechen, die er zum Frühstück gegessen hatte. Ja, er spürt den Schlag.
»Weißt du was? Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst, um das zu begreifen.« Cheyenne deutete den Flur hinunter. »Ich bin wegen des Kindes hier, nicht deinetwegen. Wir schulden ihr die Gewissheit, dass sie in einem Stück nach Hause kommt. Ich bin mir sicher, dass sie langsam daran zweifelt, nachdem du sie zwei Tage lang hier eingesperrt hast. Glaub mir, ich kenne das Gefühl.«
Der FRoE-Agent räusperte sich, dann drehte er sich um und ging wortlos den Flur hinunter. Kopfschüttelnd folgte die Halbdrow ihm.