Kapitel 28

C heyenne kehrte zu der Trollfamilie zurück und steckte sich den letzten Bissen der Grillwurst am Spieß in den Mund. R’mahrs hoffnungsvoller Blick löste sich in Luft auf, als er sah, dass ihre Hände leer waren.

»So, viel besser«, sagte sie, während sie kaute, dann saugte sie die Gewürzkrümel von ihren Fingern ab. »Ich habe versucht, schnell zu sein.«

»Vielleicht zu schnell.« R’mahr kicherte, als seine Frau ihn in die Rippen stupste. »Sollen wir zurückgehen?«

»Ich bin bereit, wenn ihr es seid.«

»Ausgezeichnet.« Zögernd lenkte der Trollmann seine Familie zurück durch die Menge zum anderen Ende der Allee. »Das war eine augenöffnende Erfahrung für uns, Cheyenne. Danke, dass wir mitkommen durften.«

»Ihr seid diejenigen, die mich herumführen, also sollte ich mich bei euch bedanken.« Die Halbdrow versuchte, die seltsamen Blicke zu ignorieren, die ihr wieder von den Verkäufern und Kunden zugeworfen wurden, die es wagten, sie anzuschauen. Eine Koboldfrau wich ihr aus und stellte sich gut zwei Meter entfernt hin. Das ist neu.

»Cheyenne, wir können dir gar nicht sagen, wie schön es ist, dich bei uns zu haben. Es fühlt sich an wie unsere eigene phér móre .« Yadje drehte sich um und schenkte der Halbdrow ein aufrichtiges Lächeln. »Eine Drow

»Ja, Freunde sind ziemlich toll, oder?«

»Oh, ja. Aber wir meinen das nicht nur als Freunde, Cheyenne.« R’mahr erreichte die geschlossenen Aufzugtüren als Erster und wartete darauf, dass die anderen nachkamen. »Das ist natürlich toll für uns, aber denk daran, was das für den Rest von uns bedeutet, die die Überfahrt gemacht haben.«

Das Trollpaar schaute sie erwartungsvoll an.

Tu so, als ob du wüsstest, was vor sich geht. »Ja, ich denke daran.« Cheyenne nickte und griff nach unten, um Bryl den Korb aus den Armen zu nehmen. »Danke, dass du dich um meine Sachen gekümmert hast, Kleine.«

Das Mädchen lächelte breit.

»Wir wussten, dass du etwas Besonderes bist, als du das erste Mal durch unsere Haustür kamst«, fügte Yadje wehmütig hinzu. Cheyenne lachte fast. »Aber wenn ich dich jetzt mit den anderen hier sehe, wie du mit diesen … diesen …«

»Schurken«, sagte ihr Mann.

Die Trollfrau seufzte. »Ja, wie du mit diesen Schurken umgehst. Es gibt noch eine Chance, Cheyenne, dass einige der alten Prophezeiungen von Ambar’ogúl endlich wahr werden.«

Die Halbdrow riss den Kopf hoch, als sie Bryl anlächelte. »Prophezeiungen?«

»Nun, sie sind alle durcheinander und vermischt, nicht wahr?« R’mahr schüttelte den Kopf. »Aber die großen, ja.«

Die Fahrstuhltüren ächzten, als sie sich öffneten und Cheyenne wartete, bis die Trollfamilie eintrat, bevor sie ihr folgte. »Ich habe nicht viel Erfahrung mit Prophezeiungen. Was sagen sie denn? Die großen.«

Der Trollmann lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand des Aufzugs, als sich die Türen wieder schlossen. Der glänzende Metallkasten fuhr mit einem kleinen Ruck nach oben. »Oh, das Übliche. Wir haben sie alle schon mal gehört, sie werden bei Versammlungen und Zeremonien herumerzählt. Ein Ambar’ogúl, das in zwei Hälften gespalten wurde und von innen nach außen verrottet. Ein Außenstehender, der durch Blut verbunden ist und seinen Platz im Herzen einnimmt.«

Cheyenne runzelte die Stirn. »Verworren und durcheinander kommt hin.«

»Es geht darum, dass die Krone ihr eigenes Verderben ist und gleichzeitig der Retter eines Reiches.« R’mahrs Augen verengten sich. »Lange Zeit schien es so, als würden nur die Teile einer Prophezeiung wahr werden, die niemand wirklich hören wollte.«

»Die dunkelsten Stellen, ja?« Yadje nickte langsam und zog ihre Tochter mit einem Arm um die Schulter des Mädchens näher heran. »Drow sind nicht gerade für ihren Altruismus bekannt, weißt du? Oder für ihren Heldenmut. Aber du hast etwas an dir …« Das Lächeln der Trollfrau wurde wieder breiter. »Etwas an dir lässt es möglich erscheinen. Dass es so sein könnte. Eine Halbdrow, die den Zyklus ihrer Art durchbricht, um den Spalt zu heilen.«

»Der Zyklus meiner Art?« Cheyenne rückte die Ledertasche unter ihrem Arm zurecht. Neuer Zyklus des Aufstiegs. Das hatte er gesagt. »Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht genug über meine Art, um einen Zyklus zu durchbrechen und es gibt nicht viel Literatur, um meine Drow-Geschichte aufzufrischen.«

Die Trolle schenkten ihr nur ein dünnes, mitleidiges Lächeln.

»Also, wer trägt jetzt die O’gúl-Krone?«

»Ich hasse sie«, murmelte Bryl.

»Vorsichtig, meine Liebe.« Ihre Mutter zog sie ein wenig näher heran.

Cheyenne nickte dem Mädchen zu. »Weil sie der Grund ist, warum ihr die Überfahrt machen musstet, richtig?«

Bryl nickte langsam. »Sie will nicht …«

»Das haben wir hinter uns gelassen, als wir uns für ein Leben hier entschieden haben«, unterbrach R’mahr sie und legte seinen Arm um die Schultern seiner Frau. Die Hoffnung war nicht aus ihren Augen gewichen, aber sie sahen viel beunruhigter aus als noch vor einer Minute. »Es ist am besten, nicht über solche Dinge zu reden. Außerdem ist dieses ganze Gerede über Prophezeiungen nur Spekulation. Bitte vergiss, dass wir es erwähnt haben.«

Die Halbdrow schenkte ihnen ein kleines Lächeln und drängte sie nicht. Auf keinen Fall werde ich diese s kleine Informationshäppchen vergessen.

»Oh.« Yadje kramte in ihrer riesigen Tasche nach ihrem Illusionsring und dem Armreif ihres Mannes. In dem Moment, in dem sie den Schmuck anlegten, verwandelten sich zwei erwachsene Trolle in blonde, blauäugige Menschen mit passendem Lächeln. R’mahr murmelte etwas und schnippte mit den Fingern in Richtung seiner Tochter. Bryls Illusion schimmerte und überkam sie dann ganz. »Wenn du willst, halte ich das für dich.«

»Danke.« Cheyenne übergab ihren Korb mit den Zutaten und zog dann das Herz der Mitternacht aus ihrer Tasche, um die Kette wieder um ihren Hals zu legen. Im Nu war das vibrierende Rauschen ihrer Drow-Magie verschwunden, erloschen wie eine Kerze unter einem Glas. Das war schlimmer, als ein Niesen zu unterdrücken. Das blasse, schwarzhaarige Goth-Mädchen zuckte mit den Schultern. »Man muss tun, was man tun muss, oder?«

»Nur so kann man weitermachen.« Yadje gab den Korb zurück und strich mit einer Hand über Bryls blonden Kopf. »Was auch immer du tun musst, Cheyenne, ich glaube, du wirst es schaffen.«

»Weißt du, ich habe das Glück, dass es mir in meinem Leben nicht an solchen Gefühlen mangelt.« Cheyenne rümpfte die Nase und lächelte das Trollmädchen an. »Es tut trotzdem gut, das zu hören.«

Der Aufzug kam mit einem dumpfen Geräusch zum Stehen und die Türen öffneten sich. Die als Menschen verkleideten magischen Wesen und die Halbdrow traten aus dem Aufzug. Tony stand hinter seinem Tresen und beobachtete sie ausdruckslos.

»Hab noch einen schönen Tag, Tony.« Cheyenne winkte, als sie vorbeiging.

»Wahrscheinlich nicht.« Tony schaufelte einen riesigen Löffel Frozen-Yogurt in seinen Mund.

Als sie in den sonnigen Nachmittag hinaustraten, drehte sich R’mahr um und reichte der Halbdrow die Hand. »Ich wünsche dir einen schönen Nachmittag, Cheyenne.«

»Oh. Ja.« Sie schüttelte seine Hand und lächelte. »Danke für die ganze Hilfe.«

»Wir haben sehr wenig gemacht. Aber gern geschehen.«

»Oh. Das hätte ich fast vergessen.« Yadje kramte wieder in ihrer Handtasche und holte ein kleines, braunes Glasgefäß mit einem unkenntlichen, mit Bleistift eingekratzten Symbol auf dem Deckel heraus. »R’mahr meinte, du suchst nach Heilsalben und so weiter. Nimm das.«

»Wow. Ich brauche nicht das ganze Ding …«

»Ich habe gerade eine neue Ladung zu Hause gemacht.«

Bryl rümpfte die Nase. »Sie bewahrt sie in meinem Zimmer auf.«

»Das liegt daran, dass dein Zimmer das beste Sonnenlicht bekommt, weißt du?« Die Trollfrau blinzelte die Halbdrow an und deutete auf das Glas, das sie Cheyenne in den Korb gelegt hatte. »Iss es nicht, aber es wirkt sehr gut bei den meisten nicht lebensbedrohlichen Wunden.«

»Alles, was weniger als eine Messerwunde ist, so ziemlich.«

Yadje stieß ihren Mann in die Rippen und blickte schnell zu ihrer Tochter. »Was redest du da über Messerwunden? Seit wann ist das Teil der täglichen Unterhaltung?«

»Das ist nur ein Beispiel.« R’mahr ließ die Schultern hängen, deutete auf Cheyenne und kicherte. »Du glaubst doch nicht, dass eine Freundin wie sie schon mal das falsche Ende eines Messers gesehen hat?«

»Was soll das denn heißen?«

Cheyenne lachte. »Bis jetzt noch keine Messer, aber es ist ein guter Rat. Ich weiß das auch zu schätzen.« Sie deutete mit einem Nicken auf das Glas in ihrem Korb und wandte sich dann dem Parkplatz zu. »Kann ich euch mitnehmen?«

»Oh, nein. So weit haben wir es nicht, Cheyenne. Wir haben heute nur noch ein paar Dinge zu erledigen. Viel Spaß bei deiner … Arbeit.« R’mahr deutete auf ihren Korb und legte dann wieder seinen Arm um die Schultern seiner Frau.

»Okay. Danke. Wir sehen uns später.«

»Tschüss, Cheyenne.« Bryl winkte und ihre Eltern taten es ihr gleich.

Die Halbdrow überquerte die Straße in Richtung Parkplatz, während die verschiedenen Zutaten in ihrem überquellenden Korb herumklapperten. Sie musste ihn abstellen, um ihren Schlüssel herauszuziehen und das Auto aufzuschließen, dann stellte sie alles auf den Rücksitz.

Als sie sich hinter das Steuer setzte, schnippte sie gegen den Anhänger mit dem Herz der Mitternacht , der auf ihrer Brust ruhte. Dann stopfte sie ihn unter ihren Hoodie und startete das Auto. Heute geht es Schlag auf Schlag.

* * *

Die Halbdrow hörte die Stimmen, die aus ihrer Wohnung drangen, sobald sie aus dem Aufzug trat. Es war hauptsächlich Embers Lachen. Ein Kerl, der sie zum Lachen bringt.

Als sie die Tür öffnete, fand sie Ember neben einem der schwarzen Ledersessel sitzen. In ihm saß ihr neuer Nachbar Matthew. Sie drehten sich beide zu ihr um und Matthew lächelte sie freundlich an. »Hey, Cheyenne.«

»Was geht?« Mit einem kurzen Nicken wandte sich die Halbdrow nach links und eilte zu ihrem Schlafzimmer am anderen Ende der Wohnung. Klar. Als ob ein Korb mit verrücktem magischem Zeug und diese Ledermappe unter meinem Arm nicht die Aufmerksamkeit des Kerls erregen würden.

Ember und Matthew murmelten etwas vor sich hin, aber Cheyenne war zu sehr damit beschäftigt, die Schlafzimmertür ruckartig zu öffnen, um darauf zu achten. Dann war sie zu sehr damit beschäftigt, überrascht ihr Zimmer anzustarren. »Ist nicht wahr.«

Der Korb mit den Vorräten landete behutsam auf dem polierten Hartholzboden, gefolgt von dem Umschlag mit dem magischen Netz. Cheyenne machte noch ein paar Schritte in den Raum und lachte. »Sie hat es verdammt noch mal geschafft

Schwarze Vorhänge hingen über dem einzigen Fenster auf der rechten Seite. In der rechten Ecke stand eine schwarze Kommode mit silbernen Totenköpfen an den Schubladen statt Knöpfen oder Griffen. In der linken Ecke stand ein massiver viktorianischer Ohrensessel, dessen Armlehnen mit silbernen Knöpfen besetzt waren und dessen restliche Polsterung an den Rändern mit schwarzer Spitze verziert war. Daneben stand eine hohe Stehlampe und der Lampenschirm war ein umgedrehter Kronleuchter, über dem purpurner Stoff drapiert war. Das große Bett war nicht ausgetauscht worden, aber ein Baldachin aus schwarzem Satin und schwarzem Tüll hing von der Decke über die Seite des Bettes.

Wieder lachend ging Cheyenne zuerst zum Bett, dann steckte sie ihren Kopf unter den Baldachin. Das Kopfende des Bettes war mit schwarzen und silbernen Kissen aus Spitze, Samt und Satin bedeckt. Auf einem war ein Dolch aufgedruckt. Auf einem anderen war eine ausgefallene Zeichnung einer körperlosen Hand, die den Mittelfinger zeigte. Kichernd breitete die Halbdrow ihre Hände auf der Bettdecke aus. Weihnachten kam früh, nicht wahr?

»Verdammter lilafarbener Samt. Ha.« Sie drehte sich um, ging zurück zur Tür und streckte die Hand aus, um den Lichtschalter umzulegen. Das kompliziert geschwungene Lichtschaltergehäuse mit weiteren Totenköpfen darauf ließ sie innehalten, dann schaltete sie das Licht ein. Der lilafarbene Kronleuchter leuchtete nur so stark, dass er bestätigte, was sie bereits wusste.

»Em. Du hast mich wirklich …« Cheyenne hielt inne, als sie sah, wie Matthews Kopf über die Lehne des Sessels ragte. Oh Mann ! Ich mag es wirklich nicht, wenn fremde Leute in meiner Wohnung sind.

»Gefällt es dir?« Ember drehte sich vom Sessel weg, damit sie die Reaktion ihrer Freundin besser sehen konnte.

»Das ist eine Untertreibung und wir können später darüber reden.« Die Halbdrow konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Sie bewegte sich weiter durch das Wohnzimmer, um Matthew anzuschauen und eine Augenbraue zu heben. »Sieht aus, als hättet ihr ein nettes Gespräch.«

»Ich dachte nur, ich komme vorbei und schaue, ob ich helfen kann.«

»Er hat geholfen, die Bilder aufzuhängen.« Ember zeigte auf die Wand neben der Eingangstür.

»Die sind irgendwie cool.« Cheyenne neigte ihren Kopf erst zur einen und dann zur anderen Seite und sah sich die schwarzen, grauen und gelben Farbkleckse an. »Was ist das?«

»Abstrakte Kunst.« Ember zuckte mit den Schultern. »Ich mag sie.«

»Das ist das Einzige, was zählt, wenn du diejenige bist, die alles auf die Reihe kriegt, hm?« Die Halbdrow lächelte ihre Freundin an, warf einen Blick auf Matthew, zuckte dann zusammen und zog ihr Handy aus der Tasche. »Verdammt. Ich habe in zwanzig Minuten diese Besprechung.«

»Oh, ja. Viel Glück dabei.« Ember zeigte ihr einen Daumen nach oben.

»Ich bin mir nicht sicher, ob mir das Glück dabei hilft, aber ich nehme es trotzdem.« Cheyenne hob ihren Rucksack vom Boden neben der Couch auf und vergewisserte sich, dass die kupferne Vermächtnisbox noch drin war.

»Wer hat samstags um sechs Uhr eine Besprechung?«, fragte Matthew.

Den Rucksack über die Schulter geworfen, breitete die Halbdrow ihre Arme aus und ging rückwärts zur Tür. »Diese Frage stelle ich mir schon seit zwei Tagen, Matthew. Ich kann es einfach nicht herausfinden. Iss ruhig ohne mich zu Abend, Em. Heb mir etwas auf, wenn du willst. Ich war heute seltsam beschäftigt.«

»Kein Problem.«

Cheyenne drehte sich um und öffnete die Tür, dann schaute sie über ihre Schulter und murmelte: »Sei brav.«

Embers Lachen drang durch die Tür, auch nachdem die Halbdrow sie geschlossen hatte. Dann war Cheyenne wieder weg. Vielleicht sollte ich darüber nachdenken, eine Goth-Box auf Rädern zu bauen. Dieses Hin und Her bringt mich noch um.