Kapitel 30

W arte, warte, warte. Sie wollen dich …?« Ember lachte laut, schlug sich dann eine Hand vor den Mund und schüttelte den Kopf. »Entschuldigung. Sie wollen, dass du Vorlesungen hälst?« Das Lachen kehrte zurück, sobald sie die Frage ausgesprochen hatte.

»Leck mich am Arsch, Em. Du stehst vor VCUs neuester und schlimmster Studentin-Dozentin.«

»Oh, so schlimm wirst du nicht sein.« Ember biss sich auf die Lippe und schaffte es, einen weiteren Lachanfall für vielleicht fünf Sekunden zu unterdrücken. »Nein, nein. Das ist gut. Es bringt dich aus deiner Komfortzone heraus. Du musst nur deine soziale Kompetenz ein wenig auffrischen.«

»Ich habe soziale Kompetenz. Ich setze sie nur nicht so oft ein, wie andere es vielleicht gerne hätten.«

»Ja, aber du musst den Summerlin-Charme drei Tage die Woche im Hörsaal einsetzen.«

Cheyenne schüttelte den Kopf. »Wenn ich das nicht tue, könnte ich jeden Studenten dazu bringen, den Kurs zu verlassen. Dann bin ich frei.«

Die Fae warf ihr einen spitzen Blick zu und verschränkte die Arme.

»Ein Scherz. War nur ein Scherz. Das heißt aber nicht, dass ich mir nicht ein bestimmtes Ergebnis wünschen kann.«

»Komm schon, Cheyenne. Du bist durch deine Kurse gerauscht. Es ist das Nichtauftauchen, das dich in diese Situation gebracht hat.«

»Kannst du es mir verübeln?«

Ember schob den Papierhandtuchhalter über die Kochinsel zu ihrer Freundin und wartete darauf, dass Cheyenne sich die Marinarasoße vom Kinn wischte. »Ich kann dir nichts verübeln. Das erklärt sich schon fast von selbst. Außer vielleicht, dass du die Spaghetti isst, als ob du noch nie eine Gabel benutzt hättest.«

»Ich bin am Verhungern, okay? Ein seltsames, nach Orange schmeckendes Stück O’gúleesh-Fleisch am Stiel reicht nicht aus, um mich auf Trab zu halten.« Cheyenne wickelte eine weitere Gabel auf und schaufelte sie in ihren Mund. »Danke übrigens, dass du eine ganze zweite Portion davon bestellt hast.«

»Ich habe gelernt, keine Mahlzeiten mit dir zu teilen, ungefähr zwei Wochen, nachdem wir uns kennengelernt haben.«

Die Halbdrow kicherte und musste noch mehr Soße abwischen. »Ja, ich habe dir gegenüber irgendwie die Fassung verloren, was?«

»Na ja, es war nicht so, dass du völlig durchgedreht wärst, aber ein kleiner Teil von mir dachte, du würdest mir mit den Stäbchen ein Auge ausstechen.«

»Siehst du? Das ist eine viel bessere Unterhaltung.«

Ember schnappte sich die Wasserflasche aus ihrem Schoß und stürzte die Hälfte davon in einem Zug herunter. »Aber ich habe immer noch nicht gesagt, was ich meine, nämlich dass du wirklich keine Ausrede hast, um drei Tage die Woche nicht für eineinhalb Stunden zum Kurs zu erscheinen. Machst du Witze?«

»Aber es ist kein Kurs. Es ist eine Vorlesung .« Cheyenne schluckte. »Die ich halte.«

»Ja, eine Vorlesung, die du von Grund auf aufbauen kannst. Hör zu, ich wurde angeschossen und habe trotzdem nicht so ein Angebot bekommen.«

Die Halbdrow sah langsam von ihrem Essen auf und lächelte, als sie sah, dass Ember ein weiteres Lachen unterdrückte. »Das kannst du schon ganz gut. Ich dachte schon, du wärst sauer.«

»Das werde ich sein, wenn du es vermasselst. Glaubst du, dass magische Kriminelle und deine FRoE-Feinde jetzt mit deinem besonders offenen Zeitplan umgehen können?«

»Das hoffe ich sehr.« Ein weiterer Bissen Spaghetti ging hinein, dann ließ Cheyenne die Gabel in den Behälter fallen und nickte. »Genau das Richtige. Habe ich dir in letzter Zeit schon gesagt, dass du die beste Mitbewohnerin bist?«

»Ja. Aber ich fange an, mich mehr wie deine persönliche Assistentin zu fühlen.«

Sie lachten beide und Ember drehte sich um, bevor sie ins Wohnzimmer rollte.

»Weißt du, du wärst ziemlich gut darin.«

»Halt die Klappe. Ich würde nie so hart für jemanden arbeiten, der mich dafür bezahlt.«

Die Halbdrow gesellte sich zu ihrer Freundin ins Wohnzimmer und legte den Kopf schief. »Ich glaube nicht, dass deine Definition von beruflichem Anreiz mit der tatsächlichen Definition übereinstimmt.«

»Hey, wenn ich das alles für jemand anderen machen würde, müsste ich erst herausfinden, was er mag und mir das Okay für alles holen und meine ganze Zeit damit verbringen, Sachen für jemand anderen zu machen, bevor ich Feierabend mache und … was? Ins Bett gehe? Ich mache das nicht nur für dich . Du magst doch nicht einmal die Bilder da oben.« Ember schnaubte und deutete auf die abstrakten Gemälde von was auch immer.

Cheyenne rümpfte die Nase. »War es so offensichtlich?«

»Transparent.«

»Ich habe wirklich nichts gegen sie. Ganz im Ernst. Es ist ja nicht so, dass ich viel Zeit damit verbracht habe, Wände anzustarren. Oder Kunst. Außerdem habe ich dir gesagt, du sollst die Zügel in die Hand nehmen und das hast du getan.«

Ember wälzte sich am Rand des Teppichs hin und her und wartete darauf, dass die Halbdrow sich in einen der Ledersessel fallen ließ. »Und ich kann dir gar nicht sagen, wie viel Spaß es mir gemacht hat, in den letzten zwei Tagen die Rechnungen auf deiner Karte zu verbuchen.«

Cheyenne winkte ab und schlug die Beine übereinander. »Du hast die Goth-Box aber nicht für dich gemacht.«

Die Fae lachte leise und hörte auf zu rollen. »Das war ein Volltreffer, oder?«

»Ich will es mal so sagen, Em. Wenn ich Spaß am Shoppen hätte, hätte ich das Schlafzimmer nicht besser einrichten können als das, was du da reingestellt hast.«

»Und das Kissen, hm?« Ember zeigte ihrer Freundin den Mittelfinger und sie lachten.

»Du verstehst mich einfach.«

»Ja, du bist nicht so schwer zu lesen.«

Sie saßen einen Moment lang da, dann schaute Cheyenne über die Sessellehne zu ihrer Schlafzimmertür. »Du hast dir doch nicht etwa von Matthew Thomas dabei helfen lassen, oder?«

»Pshh. Nein. Ich habe Profis für dein Zimmer geholt. Matthew hat zwei Kunstwerke aufgehängt, dann hat er sich einfach hingesetzt und angefangen zu reden.«

»Das macht er doch gerne, oder?«

Ember verdrehte die Augen. »Ich habe es nicht übers Herz gebracht, ihn zu bitten, zu gehen. Der Kerl ist wirklich einsam.«

»Ach, sag mir bitte, dass du nicht auf den Quatsch reingefallen bist.«

»Ich bin auf nichts reingefallen. Ich habe hier nur gesessen.« Die Fae klopfte auf die Armlehnen des Rollstuhls. »Ich weiß es nicht. So schlimm ist er nicht.«

»Sag das in einer Woche noch einmal.«

»Nein.«

»Ich meine ja nur. Wenn er glaubt, dass es auch nur eine winzige Chance gibt, dass du ihn irgendwie magst, wird er nicht aufgeben.«

Ember seufzte. »Wie auch immer. Neues Thema.«

»Ich weiß nicht mehr weiter.« Cheyenne lachte über das Stirnrunzeln ihrer Freundin und breitete ihre Arme aus. »Ich weiß. In meinem Kopf geht immer irgendetwas vor sich. Vielleicht zu viel heute. Vielleicht habe ich ein paar Schaltkreise durchgeschmort.«

»Ich wette, dieser Satz wäre ein Hit vor deinen neuen Studenten.«

Die Halbdrow räusperte sich und schüttelte langsam den Kopf. »Neues Thema.«

»Neue Netflix-Serie?«

»Gerne. Oh . Ich habe vergessen, dass deine …« Ein leises Summen kam von der Wand neben der Tür. Der robust aussehende, lange, schwarze Schrank unter dem seltsamen Kunstwerk war nicht nur ein Schrank. Die Oberfläche hob sich langsam und enthüllte einen riesigen Flachbildfernseher im Inneren. Cheyenne drehte sich wieder zu Ember um, die eine glänzende, schwarze Fernbedienung aus ihrer Tasche gezogen hatte und sie nun hochhielt. »Du bist unglaublich.«

»Du bezahlst die Rechnung.«

»Verdammt richtig. Ich tue es gerne.« Die Halbdrow drehte sich auf dem Stuhl zur Seite und warf beide Beine über die Armlehne. »Mach an, was immer du schauen willst. Ich treffe mich gleich mit Corian, also muss ich bis dahin abschalten.«

»Ja, denn das ist vielleicht der letzte Samstag, den du frei hast, bevor du an deinem Schreibtisch hockst und Klausuren korrigierst.«

»Dann ruiniere den Abend nicht.«

* * *

Zweieinhalb Stunden später hielt Cheyenne vor der Mietwohnung ihres Nachtpirscher-Mentors an. Mit ihrem Rucksack über der Schulter brauchte sie ein wenig mehr Zeit, um den Korb mit den Zauberutensilien und den Lederkoffer vom Rücksitz zu ziehen. Dann schloss sie die Tür und schaute über die Wiese. Wenigstens steht er dieses Mal nicht hier draußen und beobachtet mich.

Sie ging schnell über den Rasen und die feuchten Betonstufen hinunter zu Apartment D. Die Metalltür leuchtete orange auf und öffnete sich schnell, bevor sie sich entscheiden konnte, wie sie am besten klopfen sollte.

»Beeil dich.« Corian nickte ihr zu und schloss die Tür, bevor er die Schutzvorrichtung wieder hochzog. Dann blickte er auf den Korb in ihrer Hand hinunter und blinzelte. »Was zum Teufel hast du da mitgebracht?«

»Zauberzutaten. Erinnerst du dich?«

»Verdammt. Erinnere mich daran, dich niemals meine Einkäufe für mich erledigen zu lassen.«

»Ich werde niemals deine Einkäufe für dich erledigen. Weiter geht’s.«

»Mmhmm.« Der Nachtpirscher runzelte die Stirn, während er ihre Zutaten ansah und deutete dann mit einem Nicken in Richtung der Regale. »Stell es einfach da drüben hin. Erst die Prüfungen. Schon vergessen

»Welche Prüfungen?«

Corian blinzelte nur, ohne einen Ausdruck auf seinen katzenhaften Zügen.

Mit einem Seufzer stellte die Halbdrow alles vorsichtig neben den überfüllten Metallregalen ab, öffnete dann ihren Rucksack und zog die Rätselkiste heraus. »Wohin gehen wir heute Abend?«

»Weißt du, ich mag es irgendwie, dir dabei zuzusehen, wie du es herausfindest, wenn wir dort sind.« Corian schob sich an ihr vorbei und blieb vor dem Kerzenkreis in der Mitte des Bodens stehen. »Beeil dich.«

»Ja, okay. Stehst du unter Zeitdruck oder so?«

»Du nicht? Je schneller wir dich durch deine Prüfungen bringen, desto einfacher wird es für uns alle sein.« Er hob die Hände vor sich und wartete darauf, dass die Halbdrow an seiner Seite stehen blieb. Einige geflüsterte Worte auf O’gúleesh und schnell ausgeführte Gesten später öffnete sich ein Portal in der Mitte des Kreises.

»Ich bin so froh, dass es keine Insel ist.« Cheyenne trat über die Kerzen und ging durch das dunkle, schimmernde Portal auf Bäume, Unterholz und Felsbrocken zu, die auf einem Hügel verstreut lagen. Ihre Vans rutschten auf einem Teppich aus Tannennadeln aus und brachten sie für eine Sekunde aus dem Gleichgewicht, bevor sie sich wieder fing. Dann schritt Corian hindurch, das Portal verschwand und die Halbdrow drehte sich um, um ihm einen ungläubigen Blick zuzuwerfen. »Wir trainieren auf dem Hang eines Berges?«

»Glaubst du etwa, dass jedes Terrain, auf dem du kämpfen musst, flach ist?«

»Du hast recht. Das ist kein Problem. Wenn ich den Berges hinunterfliege, hoffe ich nur, dass ich schnell genug bin, um mich abzufangen, bevor ich mit dem Kopf gegen einen der Felsbrocken da unten knalle.«

»Du bist schnell genug.«

Die Halbdrow warf einen zweiten Blick auf den steilen Hügel und die großen, mit Moos bewachsenen Felsbrocken darunter. »Apropos Gelände, wo sind wir denn dieses Mal?«

»Ich weiß es nicht. Irgendwo im Yellowstone.«

»Nationalpark?«

»Du weißt, wie es geht.« Der Nachtpirscher lief über den Boden und richtete seinen Körper gekonnt auf die steile Neigung aus. »Ich werde warten.«

»Ja, ja.« Genau das, was wir brauchen. Einen Nationalpark in die Luft jagen und noch mehr Bigfoot-Geschichten aufleben lassen. Cheyenne löste zum millionsten Mal den Knoten in der Kette um ihren Hals und steckte den Anhänger in ihre Tasche. Dann ließ sie die Drow-Vermächtnisbox auf die Tannennadeln und Blätter neben sich fallen und wechselte in ihre Drowgestalt. »Oh, Mann!«

»Geht es dir gut?«

»Oh, ja. Fühlt sich an, als hätte ich in einer Kiste gesteckt und wäre jetzt endlich freigekommen.«

»Hmm. Normale Nebenwirkung. Wahrscheinlich.«

Die Halbdrow schnaubte. »Vielen Dank für die Beruhigung. Apropos besagter Anhänger, hat das Ding eigentlich eine Belastungsgrenze?«

»Wie zum Beispiel?«

»Zum Beispiel, wenn mir ein Teil meiner Magie in einer Situation durchrutscht, in der ich sie wirklich benutzen will?«

Corian strich sich bedächtig über sein pelziges, breites Kinn, seine silbernen, durchdringenden Augen blickten aufmerksam auf seine Halbdrow-Auszubildende. »Das ist Teil des Zeitdrucks.«

»Oh, wirklich ?« Cheyenne strich sich die weißen Haare aus dem Gesicht. »Wie?«

»Der Zauber an diesem Anhänger ist eher ein Countdown. Wenn du ihn trägst, während du aktiv durch die Drow-Prüfungen gehst, wird die Wirkung beeinträchtigt.«

»Du meinst es ernst.«

»Natürlich meine ich es ernst. Deshalb müssen wir dich so schnell wie möglich durch den Rest deiner verborgenen Fähigkeiten und die letzten paar Schichten dieses Puzzlespiels bringen.« Er zuckte mit den Schultern. »Wenn ich es richtig getimt habe, bin ich mir ziemlich sicher, dass das Herz der Mitternacht dich relativ gut versteckt halten wird, bis sich das Ding öffnet.«

»Das Ding?« Cheyenne zeigte auf die Rätselkiste.

»Ja, Cheyenne.«

»Und du hast es nicht für wichtig gehalten, mir zu sagen, dass die einzige Sache, die mich schützt, einen Timer hat?«

»Nun, du hast es trotzdem herausgefunden.«

»Komm schon, Corian. Wenn ich gewusst hätte, dass es mich sowieso nicht komplett versteckt, hätte ich mich nicht tagelang in diese magische Dämpfungsbox gestopft.«

»Denk nicht mal dran.« Er zeigte warnend auf sie und rümpfte seine flache, katzenartige Nase zu einem Knurren. »Ich habe dir in der Villa gesagt, dass ich nicht noch einmal komme, um deinen Arsch zu retten und das habe ich auch so gemeint. Es geht hier um viel mehr als nur um dich, Cheyenne. Wir alle müssen Opfer bringen.«

»Wer denn?«

Der Nachtpirscher ließ seine Hand fallen und schaute finster drein.

»Nein, ernsthaft? Wer bringt sonst noch Opfer, damit ich diese Prüfungen überstehen kann, bevor die Halskette bumm macht und mich aus dem Versteck wirft?«

»Wir sind hierhergekommen, um auf einem Berg zu trainieren, Mädchen. Das größere Bild kann warten.«

Ja, so wie alles andere auch. »Lass mich raten, wir reden darüber, wenn ich bereit bin.«

Corian kraxelte den Berghang hoch.

»Ich hoffe, dass diese Versuche nicht mehr lange dauern. Ich bin es so leid, das zu hören.«

»Du bist diejenige, die das gesagt hat.«

»Lass es einfach.«

Der Nachtpirscher grinste und ging in die Hocke. Seine Finger zuckten ein wenig an seinen Seiten. »Lass uns an die Arbeit gehen, damit wir beide aufhören können, es zu sagen.«

Cheyenne beschwor eine knisternde Kugel aus schwarzer Energie in ihrer Handfläche und hob sie hoch. »Mit Vergnügen.«