Kapitel 31

V erdammt!« Cheyenne knallte mit dem Oberkörper gegen einen Baum, sodass ein Regen aus Tannennadeln auf ihren Kopf prasselte. Sie stieß sich von der rauen Rinde ab und wirbelte herum, um den abfallenden Wald abzusuchen. Er hat immer noch mehr Tricks auf Lager, was? Wo bist du, du hinterhältiger Mistkerl?

Ein schnelles Rascheln von Blättern kam von hinter dem Baum, dann knackte ein Zweig weiter links. Die Halbdrow trat rückwärts auf ihren nackten Füßen. Sie hatte ihre Schuhe ausgezogen, als sie gemerkt hatte, dass Corian das Spiel ›im Wald herumschleichen‹ spielte. Trotz der Dunkelheit im Wald und der Bäume, die das ganze Sternenlicht verdeckten, brauchte sie ihre Augen nicht, um den Nachtpirscher zu finden. Sie konnte ihn hören. Und ich weiß, dass er mich nicht hören kann.

Etwa sechs Meter vor ihr fielen Tannennadeln auf den Waldboden. Cheyenne trat auf die andere Seite des Baumes, den sie nach Corians letzter Attacke fast umgeworfen hatte und blickte dann auf den nächsten Felsblock. Nur einen Katzensprung entfernt. Das könnte nach dieser Sache eine ganz neue Bedeutung haben.

Sie konzentrierte sich auf die schwirrende Magie, die sie durchströmte und in ihren Gedanken rief sie das Bild des Nimlothar-Samens auf. Ein weiterer Schauer von Tannennadeln fiel vom Baum vor ihr und die Halbdrow streckte ihre Hand nach dem Felsbrocken aus. Ein unsichtbarer Druck stieß gegen ihre Finger und sie ergriff ihn, bevor sie den gesamten Felsen – Moos, Erde, Wurzeln und alles andere – halb in den Baum schleuderte.

Ein lautes Explosionsgeräusch ertönte, als Stein auf Holz und die obere Hälfte des Baumes auf den Waldboden krachte. Ein silberner Lichtstreifen prallte von dem fallenden Baum ab und alle Nadeln, Äste und Blätter sprühten in die Luft. Cheyenne wirbelte herum und stieß in die Luft. Ein Haufen spitzer Steine brach aus dem Waldboden hervor und schoss hinter dem sich zurückziehenden Silberlicht her.

Kurz, bevor die Steine einschlugen, trat Corian zur Seite, wechselte zurück in die normale Geschwindigkeit und schleuderte einen silbernen Blitz auf die Halbdrow.

»Wie zum Teufel …?« Sie wich dem Angriff aus und der Baum hinter ihr, der stattdessen getroffen wurde, war nun sehr kurz davor, umzufallen.

»Du wirst keine weitere Fähigkeit freischalten, indem du Steine gegen Bäume wirfst, Mädchen.«

»Steine ? Hast du gesehen …?« Ein ohrenbetäubendes Krachen ertönte unter ihnen, gefolgt von einem langen Echo, als der Felsblock den Abhang hinunterstürzte. »Hast du so was schon mal gehört?«

»Steinoger werfen mit Steinen, Cheyenne. Du bist eine Dunkelelfe. Kämpfe gegen mich, als wärst du eine Dunkelelfe.«

»Das tue ich !« Sie schleuderte ihm eine weitere schwarze Energiekugel entgegen und der Nachtpirscher verschwand in einem silbernen Lichtblitz. Mit einem frustrierten Brüllen folgte die Halbdrow dem Licht. Dann wechselte sie in erhöhte Geschwindigkeit und sah ihn über den Hügel über ihr joggen.

Als er sie sah, zwinkerte der Nachtpirscher ihr zu und beschleunigte sein Tempo abermals.

Das reicht. Cheyenne stieß den Boden erneut an und schickte eine weitere Welle aus spitzen Erdklumpen den Hügel hinauf zu ihm, die sich genauso schnell bewegte, wie er rannte. Dann verlangsamte sich die Zeit wieder und Cheyenne streckte die schwarzen Ranken aus, die aus ihren Händen peitschten. Corian wich den sich windenden Seilen der Drow-Magie aus, aber sie zielte nicht auf ihn. Die Ranken wickelten sich um den am weitesten entfernten Erdspeer, der aus dem Boden auftauchte und rissen Cheyenne mit sich.

Der Nachtpirscher wich wieder nach links aus und Cheyenne schwang sich um die gegenüberliegende Seite des Felsspeers. Corian verließ ebenfalls die erhöhte Geschwindigkeit und runzelte verärgert die Stirn. Sie streckte die Hand aus und spürte, wie der Boden auf ihr Kommando reagierte: Ein gewaltiger Riss durchzog den Waldboden, zog Corians Aufmerksamkeit auf sich und schnitt ihm den Weg ab. Dann tauchte die Halbdrow zurück in die Hypergeschwindigkeit und ihre nackten Füße rutschten auf den losen Tannennadeln und Blättern, während sie ein paar Meter höher als ihr eingefrorener Mentor war. Ihre Ranken zogen sich zurück und sie rannte auf Corian zu, wobei sie eine Faust nach hinten streckte.

Er schloss sich ihr ein weiteres Mal dem Reich der Supergeschwindigkeit an und drehte sich um, um zu ihr aufzuschauen. Gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie die lila-graue Faust durch die Luft sauste, bevor sie ihn am Kiefer erwischte. Cheyennes Schlag zwang den Nachtpirscher in die Knie und ließ ihn rückwärts über die lockere Erde rutschen. Seine tödlichen, silbernen Klauen zerrten durch den Dreck und bremsten ihn, bevor er den massiven Spalt erreichte, den sie hinter ihm geöffnet hatte. Sie fielen beide in die normale Geschwindigkeit zurück und Cheyenne machte einen taumelnden Schritt, um nicht den Berghang hinunterzurutschen.

Einen Moment lang war das einzige Geräusch im Wald das Rauschen von Blättern und Nadeln, die den Berg hinunterfielen und das gelegentliche Klopfen von Steinen gegen einen Baum. Corians gesenkter Kopf bewegte sich nicht, während er sich auf Händen und Knien an den Berghang klammerte und schwer atmete.

Oh, Scheiße. Ich habe ihn verdammt noch mal getroffen.

Dann ertönte ein leises Kichern aus dem Mund des zusammengekauerten Nachtpirschers. Zwei Sekunden später warf er den Kopf zurück und lachte laut und herzlich.

Cheyenne machte einen weiteren Schritt den Hügel hinauf. Das gibt’s doch nicht! Ich habe die Vernunft aus ihm herausgeprügelt.

»Gut gemacht, Cheyenne. Das war …« Corian nickte und zeigte ihr wieder sein raubtierhaftes Lächeln. Seine silbernen Augen funkelten, während er heftig blinzelte. »Sehr gut gemacht. Wie bist du nur darauf gekommen?«

Die Halbdrow zuckte mit den Schultern. »In vier von fünf Fällen bist du nach links abgehauen.«

»Wenn du meinst, dass ich berechenbar geworden bin, habe ich dich enttäuscht.«

»Nicht wirklich. Ich habe es einfach vermutet.«

Er lachte wieder und stemmte sich auf die Beine. Sein Mundwinkel war durch ihren Schlag aufgerissen worden und in der Dunkelheit des Waldes war es unmöglich, die Farbe des Blutes zu erkennen, das in Richtung seines Kinns rann.

Es würde mich nicht überraschen, wenn es silbern wäre.

Der Nachtpirscher tupfte sich mit zwei Fingern den Mundwinkel ab, blickte auf das Blut und ließ dann die Hand fallen. »Du kämpfst immer noch nicht, als wärst du eine Drow.«

»Du hast recht.« Die Halbdrow lächelte und breitete die Arme aus. »Ich habe gekämpft wie Cheyenne Summerlin.«

»Hm.« Seine silbernen Augen verengten sich für den Bruchteil einer Sekunde und sein Lächeln wurde breiter. »Ich glaube, du könntest recht haben.« Corian atmete tief ein. »Es ist lange her, dass ich so geschlagen wurde.«

»Ja, das glaube ich.«

Er zeigte auf sie. »Jetzt legst du es aber wirklich darauf an, dass ich mich räche, Kleine.«

Als er sich umdrehte, betrachteten sie beide den langen, tiefen Spalt, der den Berg in zwei Hälften hätte teilen können, wenn Cheyenne ihn weiter aufgerissen hätte. »Soll ich etwas dagegen tun?«

»Ich werde dich nicht aufhalten. Solange es nicht bedeutet, dass du mir die Faust ins Gesicht schlägst.«

Leise lachend konzentrierte sich die Halbdrow auf den violetten Nimlothar-Samen, holte tief Luft und öffnete ihre Hände. Fast augenblicklich spürte sie den magischen Druck in der Luft, den Widerstand, der nur darauf wartete, von ihr erfasst zu werden. Cheyenne hakte ihre Finger um die Ränder und ballte beide Hände wieder zu Fäusten.

Der Boden bebte. Ein weiterer Baum knickte irgendwo ab und kippte auf den Waldboden, bevor er den Berg hinunterrutschte. Der Spalt, der sich vor ihr erstreckte, schrumpfte langsam zusammen, wobei Tannennadeln und Zweige über den Rand der Spalte rutschten und in die Dunkelheit fielen.

Die Arme der Halbdrow zitterten und ihre Hände schmerzten, als hätte sie minutenlang an ihnen gehangen. Schließlich schloss sich der massive Riss mit einem dumpfen Aufprall und einem Ächzen von Erde und Felsen irgendwo weit unter ihren Füßen. Der Boden bebte und Corian und Cheyenne rutschten die lose Vegetationsschicht hinunter.

Sie stoppte sich selbst, indem sie auf ihren Hintern fiel und ihre Finger in den Boden grub. Besser als ohnmächtig zu werden. Das war knapp. Als der nächste Schwindelanfall nachließ, sah sie sich um und konnte die Stelle, an der eben noch der riesige Riss gewesen war, nicht finden.

»Ja.« Corian wischte sich erneut über den Mund und nickte. »Es ist viel einfacher, Dinge zu zerreißen, als sie wieder zusammenzusetzen, nicht wahr?«

Cheyenne zuckte mit den Schultern. »Ich schätze, man muss es wirklich ernst meinen.«

»Es gibt keine wahreren Worte, Kind.« Er reichte ihr die Hand und sie zögerte nicht, sie zu nehmen. »Ich glaube, das war’s für heute.«

»Ernsthaft? Du hast mich stundenlang durch ein Feld und Alcatraz und jetzt Yellowstone geschleudert und kannst nach einem Schlag ins Gesicht nicht weitermachen?«

»Es geht hier nicht um meine Drowprüfungen. Als derjenige, der dich durch deine führt, habe ich das Sagen.« Als der Nachtpirscher ein weiteres Portal an der Seite des Berges öffnete, fand Cheyenne ihre Vermächtniskiste in einem Laubhaufen.

Sie fühlte sich kalt an, ohne die erwarteten blinkenden Lichter oder surrenden, sich drehenden Teile. Wirklich? Endlich habe ich den Nachtpirscher getroffen und immer noch nichts? Sie entfernte die Blätter aus ihren schwarzen Vans und zog sie wieder an.

Corian beobachtete, wie sie mit einem Schmunzeln zu ihm und dem offenen Portal zurückkehrte und gab der Halbdrow ein Zeichen, weiterzugehen.

Cheyenne hob eine Augenbraue, dann schritt sie zügig durch das schimmernde Oval aus dunklem Licht.

Er schnaubte. »Ja, diesen Blick wirst du schon bald ständig benutzen.«

»Was?« Sie trat über den Kerzenring in seiner unfertigen Kellerwohnung und sah ihn über ihre Schulter an.

»Nichts.« Ein überraschtes Kichern entwich ihm. »Du hast mich wirklich hart getroffen, weißt du das?«

»Ganz oder gar nicht, hm?«

»Sieht so aus.« Corian schaute sich im Keller um, dann fiel sein Blick auf den Korb mit ihren magischen Vorräten und dem gehärteten Lederumschlag. Er nickte ihr zu und rieb sich erneut die Mundwinkel. »Es wäre wohl zu viel verlangt, wenn du dich mit einem Gutschein für die Zaubersprüche zufriedengeben würdest.«

»Ein Punkt für den Nachtpirscher.« Cheyenne ging auf ihre Vorräte zu und packte den Korb am Griff.

»Lass es einfach da stehen. Der Boden ist eine bessere Arbeitsfläche als alles andere.«

Stirnrunzelnd ließ die Halbdrow ihren Blick über das einzige Möbelstück im Keller schweifen – den beschissenen, wackeligen Klapptisch. »Offensichtlich.«

»Du sagst das, als ob du bei dir zu Hause eine bessere Einrichtung hättest.«

Ein lautes Lachen entwich ihr. »Habe ich.«

»Aha. Das glaube ich erst, wenn ich es sehe.« Corian hockte sich auf den Boden, betrachtete den Korb mit den magischen Gegenständen und setzte sich dann ganz hin. »Nicht, dass ich vorhabe zu sehen, wo du wohnst.«

»Was, du willst nicht zu Pizza und Bier rüberkommen, nachdem ich dich auf dem Trainingsplatz verprügelt habe?«

Er lachte leise. »Nicht mit dir.«

»Weißt du, irgendwie fühlt sich das wie ein Kompliment an.«

Achselzuckend machte sich der Nachtpirscher an die Arbeit, den Korb zu leeren und alle Materialien auf dem Betonboden auszulegen. Er hielt inne, bevor er das braune Glasgefäß aufhob, das Yadje der Halbdrow gegeben hatte.

»Heilsalbe.« Cheyenne nickte, während ihr verdammter Unterarm wieder anfing zu jucken, weshalb sie sich an der Stelle kratzte. Dann schlug sie die Beine übereinander und seufzte. »Sie soll ziemlich gut sein.«

Er schraubte den Deckel ab und schnupperte ein wenig. »Woah. Ja, Junge. ›Ziemlich gut‹ ist eine starke Untertreibung. Hier ist die Blume der Schwarzzunge drin. Dem Geruch nach zu urteilen, ist es hauptsächlich Schwarzzunge.« Corian setzte den Deckel wieder auf und hielt dann das Glas hoch. »Das ist nicht leicht zu bekommen. Woher hast du das?«

»Von einer Freundin.« Stirnrunzelnd nahm Cheyenne das Glas von ihm und öffnete es, um selbst daran zu riechen. »Verdammt!« Sie rümpfte die Nase, schraubte den Deckel fest zu und stellte das Glas beiseite. »Das riecht wie verfaulende Erdbeeren.«

»Nun, die meisten O’gúleesh würden einen Haufen Geld bezahlen, um ein paar dieser verfaulenden Erdbeeren in die Finger zu bekommen.«

»Im Ernst?«

Er nickte. »Wie viel hat deine Freundin dafür verlangt? Es ist ein großes Glas.«

»Nichts.«

Corian verschluckte sich und lehnte sich über seinen Schoß. Das Husten ging in ein weiteres Lachen über, als er den Kopf schüttelte. »Ich kann mir beim besten Willen nicht erklären, wie du in solche Situationen kommst, Kind.« Als er sie ansah, verengten sich seine glühenden, silbernen Augen und er setzte ein Lächeln auf, das halb nostalgischer Stolz und halb Traurigkeit war. »Und dann erinnere ich mich, von wem deine Drowhälfte stammt.«

»Wir können den Teil überspringen, in dem du mir sagst, dass ich L’zar so unglaublich ähnlich bin, bla, bla, bla.« Die Halbdrow winkte ab. »Ich bin nicht interessiert.«

»Ich auch nicht.« Sie sahen einander an, dann klatschte der Nachtpirscher in die Hände und wandte sich wieder den Vorräten zu. »Ich nehme an, du hast das Zauberbuch mitgebracht, mit dem du dein hirnrissiges, neues Projekt begonnen hast.«

»Alter, ich habe mehr Hirn als du.«

Sein Blick wanderte zu ihrem Gesicht und er antwortete stumpf: »Bist du dir da sicher?«

Sie seufzte, schnappte sich ihren Rucksack, der noch immer neben dem Regal lag und zog ihn über den Boden zu sich. Der lose Stapel mit den handgeschriebenen Seiten von Mattie Bergmann war noch relativ gut erhalten, als sie ihn herauszog und zwischen ihnen auf den Boden knallte. »Hier ist es.«

»Mein Gott, Cheyenne. Ich hoffe, du erwartest nicht, dass ich dir heute Abend bei all dem helfe.«

»Nun, du hast mir gerade noch mehr Munition gegeben.«

»Tu nicht so, als hättest du noch genug Energie für mehr als ein oder zwei von denen.«

Schmunzelnd blätterte die Halbdrow die ersten paar Seiten durch, bis sie den persönlichen Illusionszauber fand. »Ich möchte mit diesem hier anfangen und vielleicht noch ein paar Tipps von dir bekommen, bevor ich für die Nacht verschwinde.«

»Das werden wir sehen.« Corian nahm ihr den Zettel ab, schaute sie stirnrunzelnd an und blickte dann auf den Spruch hinunter. Zwei Sekunden später flatterte das Papier zu Boden und seine Finger schossen in die Höhe, als hätte er gerade einen heißen Schürhaken in die Hand genommen. Der Nachtpirscher zischte etwas auf O’gúleesh, dann weiteten sich seine silbernen Augen. »Wo zum Teufel hast du das her?«