W arum fragen mich die Leute das immer wieder?« Cheyenne warf einen Blick auf den Zettel, der vor Corian auf dem Boden lag. »Ich habe es dir schon gesagt. Ich habe das ganze Buch von einer Freundin bekommen. Ich meine, es ist nicht wirklich ein Buch , aber der Gedanke zählt, denke ich.«
»Cheyenne.« Der Nachtpirscher legte langsam seinen Finger auf das lose Papier, das sein Schienbein berührte und räusperte sich. »Weißt du, wer diese Sprüche geschrieben hat?«
»Du hörst dich an, wie der Grinch, der den Zaubertrank-Laden gestohlen hat.«
»Was ?«
»Macht nichts. Meine Freundin hat sie aufgeschrieben. Dann hat sie mir natürlich Kopien gemacht und sie mir gegeben.« Cheyenne tippte sich an die Schläfe. »Sie meinte, sie hätte es alles da oben und wollte sie für die Nachwelt aufbewahren oder so.«
»Ja, das glaube ich. Du und deine Freunde. Pshh. Gibt es etwas, das du mir nicht sagst?«
»Wahrscheinlich. Könntest du etwas genauer sein?«
Corian musterte die Anweisungen für den Illusionszauber und blätterte dann durch den Rest des Zauberbuchs, wobei er hier und da innehielt, um sich das, was seine Aufmerksamkeit erregte, genauer anzusehen. Dann schüttelte er den Kopf. »Du hast den Namen Maleshi erwähnt.«
»Ja und du hast gesagt, ich soll die Klappe halten.«
»Ja, ich erinnere mich.« Er biss sich auf die Unterlippe, nahm seine Hand vorsichtig von dem Stapel mit den Zaubersprüchen und kratzte sich hinter einem seiner spitzen, mit Fellbüschel bedeckten Ohren. »Und jetzt bist du offensichtlich bereit, dieses Gespräch zu führen.«
»Weil Maleshi mir ihr Zauberbuch gegeben hat.« Die Halbdrow analysierte vorsichtig jede Miene ihres Mentors, der sich mit seiner Antwort viel Zeit ließ. Ich wusste es. Mattie hat mit sich selbst geredet.
»Wie zum Teufel hast du dich mit Maleshi Hi’et angefreundet?«
»Nun, so nah sind wir uns nicht.« Cheyenne hob die Augenbrauen und zuckte mit den Schultern.
»Maleshi. Hm. Auf der Erde, abseits des Rasters.« Er schüttelte den Kopf und blinzelte wütend, während er seine Katzennase verwirrt rümpfte. »Und sie hat sich nie bei einem von uns gemeldet.«
»Ja, sie ist sogar noch verschlossener als du.« Cheyenne schnaubte. »Du kannst dir vorstellen, wie viel Spaß es macht, sie dazu zu bringen, irgendetwas zu sagen.«
»Das muss ich mir nicht vorstellen, Cheyenne. Ich weiß es.« Langsam brach Corian aus seinen Grübeleien aus und sah sie an. »Ich kenne Maleshi sehr gut.«
»Von zu Hause, richtig?«
»Hmm.« Ein bitteres Lächeln breitete sich auf seinen geschlossenen Lippen aus. »Ja. Jeder zu Hause weiß, wer Maleshi Hi’et ist. Selbst wenn sie ihr nie begegnet sind, kann ich dir versprechen, dass sie den Namen schon mal gehört haben.«
Die Halbdrow blinzelte. »Lass mich raten. Ein entflohener Sträfling?«
»Bitte. Nicht alle Vorbilder in deinem Leben folgen dieser Geschichte.«
Lass es einfach gut sein, Cheyenne. Er schwelgt offensichtlich in Erinnerungen. »Warum ist sie dann hier und versteckt sich vor allen außer mir?«
»Ich kann dir nicht sagen, warum sie sich entschieden hat, sich dir zu offenbaren. Ich vermute, sie war es leid, die letzten paar hundert Jahre auf sich allein gestellt zu sein. Aber sie ist ganz sicher kein entflohener Sträfling. Oder überhaupt ein Sträfling.« Corian strich sich über das Kinn und starrte wieder auf das Zauberbuch.
Cheyenne beugte sich zu ihm und sagte mit viel sanfterer Stimme, als sie erwartet hatte: »Du weißt, dass ich nirgendwo hingehen werde, bis du mir sagst, wer sie ist.«
»Das habe ich auch nicht erwartet. Ich hätte nur nicht gedacht, dass das ein Gesprächsthema sein würde, bevor du die Prüfungen bestanden hast. Oder überhaupt, um ehrlich zu sein.«
»Okay. Nun, das ist es aber.« Sie gab ihm ein Zeichen, dass er fortfahren sollte. »Also, sei bitte weiter ehrlich.«
»Ja.« Er räusperte sich erneut und holte tief Luft. »Maleshi Hi’et war eine hochdekorierte, hochrangige Generalin und Kriegsveteranin. Eine brillante Strategin. Eine unaufhaltsame Kraft auf dem Schlachtfeld. Vielleicht war sie sogar einmal das wertvollste Kapital der Krone.«
Die Halbdrow blinzelte. »Sie hat mir erzählt, dass sie Orks ausgebildet hat.«
»Ha. Ja, das auch«, sagte Corian. »Maleshi war, ach … sie war …«
»Keine Sorge, du hast ein klares Bild gemalt.« Es fällt mir aber immer noch schwer, Matties Gesicht darauf zu sehen.
»Jedenfalls nehme ich an, dass sie es satt hatte, was aus ihrer Position unter dem Kommando der Krone geworden war. Irgendwann war sie einfach bei uns. Eine von uns. Am nächsten Tag ist sie einfach aufgestanden und gegangen, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Die Leute behaupten immer noch, dass Maleshi der Funke war, der die Rebellion der O’gúl entfachte.«
Die Halbdrow schluckte und schüttelte den Kopf. »Habe ich dich gerade ›Rebellion‹ sagen hören?«
»Mit deinem Gehör ist alles in Ordnung, Kleine.« Der Nachtpirscher warf ihr einen herablassenden Blick zu, dann fing er sich und sah weg.
»Welche Rebellion?«
»Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt.«
Sie schnaubte und schlug sich auf die Knie. »Schon wieder dieser Blödsinn, hm? Ich bin mir ziemlich sicher, dass der richtige Zeitpunkt, um die Rebellion zu erklären, am Ende eines Gesprächs über die Nachtpirscherin ist, die diese Rebellion gestartet hat .«
»Was passiert ist, nachdem sie ihren Posten verlassen hat, hat nichts mit ihr zu tun.«
»Ich habe dich wirklich zu hart geschlagen.«
»Cheyenne.«
Der sanfte, feste Befehl in seiner Stimme klang so sehr nach Bianca Summerlin, dass die Halbdrow ungläubig aufschreckte. Sie konnte sich nicht bewegen.
»Wenn ich mit hundertprozentiger Sicherheit vorhersagen könnte, was passieren wird, wenn du die Drowprüfungen abschließt und erbst, was dir rechtmäßig gehört, würde ich dir sofort alles sagen, was ich weiß. Vertrau mir. Die Teile werden sich zusammenfügen. Du wirst deine Antworten und das Gesamtbild bekommen, aber es kann nicht alles auf einmal passieren. Du musst dafür bereit sein, ja. Aber so viele andere Dinge müssen auch bereit dafür sein.«
Nur eine weitere beschissene Schnitzeljagd, was? Die Halbdrow starrte ihn enttäuscht an. Ihre glühenden, goldenen Augen blinzelten nicht. »Ich kann ein Geheimnis bewahren.«
»Ich weiß, dass du das kannst. Das hast du immer wieder bewiesen. Aber Geheimnisse haben die Angewohnheit, sich mit der Zeit selbst zu verraten.« Corian verschränkte seine Finger, die Handflächen immer noch gespreizt, als könnte er es nicht ertragen, sie zusammenzudrücken. »Ich habe bestimmte Geheimnisse seit Jahrhunderten gehütet. In Ambar’ogúl und hier auf dieser Seite. Wenn ich sie jetzt preisgebe, wäre das so, als würde ich den Stift aus einer Granate ziehen, die an meiner Hand klebt. Das musst du verstehen.«
»Ich weiß es nicht.« Cheyenne schüttelte den Kopf und zuckte mit den Schultern. »Ich weiß immer noch nicht genug, um irgendetwas zu verstehen.«
»Dann respektiere wenigstens eine aufrichtige Bitte eines Freundes. Ich weiß, dass ich das immer wieder von dir verlange, aber mehr kann ich nicht tun. Bitte vertrau mir einfach.«
Die Halbdrow biss die Zähne zusammen, presste die Lippen aufeinander und schloss die Augen. Ich muss diese Prüfungen bestehen. »Ja, ich werde die Bitte respektieren und ich vertraue dir. Aber spann mich nicht zu lange auf die Folter, okay? Davon hatte ich in den letzten Wochen schon viel zu viel.«
»So viel verspreche ich dir, Mädchen. Die alten Gesetze haben viel mehr Integrität als eine einundzwanzig Jahre alte Geheimorganisation auf der Erde, die vorgibt, alles über uns zu wissen.«
Sie lachte auf. »Nein. Du bist nicht Teil der FRoE, das steht fest.«
»Ich bin so froh, dass wir auf der gleichen Seite sind.«
Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete die Halbdrow ihren Mentor von oben bis unten und schüttelte den Kopf. »Den scharfen Sarkasmus habt ihr aber gemeinsam.«
»Nun, den Punkt können sie haben. Sarkasmus ist nicht meine Priorität.«
»Das ist kein Argument.«
»So. Ich habe noch ein paar Minuten intensiver Konzentration vor mir.« Corian hob Mattie ›Maleshi‹ Bergmanns Zauberspruch für einen persönlichen Illusionszauber auf und zeigte mit der anderen Hand auf ihn. »Was ist mit dir?«
»Versuchen wir’s.«
* * *
Eine Stunde später wiederholte Cheyenne langsam und bedächtig die Handgesten, die Corian ihr geholfen hatte, aus Matties Zeichnungen zu entziffern. Konzentriere dich. Hier hast du es beim letzten Mal vermasselt. Sie hielt inne, weil sie den Instinkt spürte, den Zeigefinger als Nächstes einzuhaken. Stattdessen streckte sie ihren rechten kleinen Finger aus und hakte dann ihren Finger in die linke Handfläche ein.
Der Kupferring, den Corian aus seiner Gerümpelschublade gezogen hatte, blitzte in weißem Licht auf.
»Heilige Scheiße! Habe ich gerade …?«
Corian legte den Kopf schief. Ein Auge war fast geschlossen, bevor er schnell blinzelte. »Das sah erfolgreich aus.«
»Ha! Ich habe es geschafft! Diese Halbdrow hat gerade einen Illusionszauber gebunden. Scheiße, ja!«
Der Nachtpirscher rieb sich mit zwei Fingern zwischen den Augenbrauen. »Cheyenne, wenn du nicht aufhörst, so nah an mir zu quieken, werfe ich dich aus dieser Tür. Oder durch sie hindurch.«
»Na gut, Spielverderber.« Sie schaltete einen Gang zurück und ließ ihren Blick in Richtung des verärgerten magischen Wesens schweifen. »Und ich quieke nicht.«
»Von meinem Standpunkt aus könntest du genauso gut ein Raum voller schreiender Kinder sein, die in eine Drowschleife eingewickelt sind.«
»Du kannst es versuchen, soviel du willst, aber ich fühle mich im Moment nicht beschissen.« Die Halbdrow grinste den Kupferring an. »Ich habe gerade eine ganz neue Welt eröffnet.«
»Das wissen wir erst sicher, wenn du das verdammte Ding ausprobierst.«
»Oh. Richtig.« Sie schnappte sich den Ring vom Boden, während Corian seine Schläfen massierte. Der Ring glitt auf ihren rechten Ringfinger, blieb aber am zweiten Fingerknöchel stehen. »Verdammt. Ich weiß, ich habe kleine Hände, aber das ist irgendwie lächerlich. Wo hast du den eigentlich her?«
»Von einem Fae-Juwelier in der Nähe der Hauptstadt.«
»Fae, hm?«
»Kleine Hände.«
Sie lachte. »Wie auch immer.« Der Ring rutschte perfekt auf ihren kleinen Finger und ein kleines Summen fuhr ihren Arm hinauf. Jetzt kommt die eigentliche Prüfung. Mit einem tiefen Atemzug starrte Cheyenne auf den Ring und verwandelte sich zurück in ihre menschliche Gestalt. Sie hatte sich so sehr an die Wärme ihrer Drowmagie gewöhnt, die sich von der Basis ihrer Wirbelsäule heraufzog, dass es ihr vorkam, als würde sie mitten im Winter splitternackt nach draußen treten. Aber das war die einzige Veränderung, denn sie sah noch immer wie eine Duneklelfe aus.
Corian sah sie an und hob eine Augenbraue. »Genau. Siehst du? Manchmal denkst du, es funktioniert, aber ein kurzer Test zeigt dir, dass es ein weiterer Blindgänger ist. Wir müssen es an einem anderen Tag noch einmal versuchen, Kleine. Ich kann das nicht mehr.«
»Kumpel.« Schmunzelnd, weil er bei dieser Anrede zusammenzuckte, wartete Cheyenne darauf, dass er sie ansah. »Corian …«
»Ich kann es nicht mehr mit ansehen, wie du den Zauberspruch noch einmal versuchst. Das ist so anstrengend, dass ich am liebsten etwas umbringen würde.«
»Dann ist es ja gut, dass du das nicht musst.«
Das ließ ihn aufblicken, gerade als die Halbdrow den Kupferring von ihrem kleinen Finger streifte. Die Luft schimmerte um sie herum und ihr Drow-Aussehen löste sich in das bleichhäutige, schwarzhaarige Goth-Mädchen auf. »Das sah aus wie ein Illusionszauber.«
»Weil es das ist.« Sie wackelte mit den Augenbrauen und nahm den Ring in ihre Faust. »Übrigens, hast du schon mal darüber nachgedacht, eine Therapie zu machen, weil du etwas töten willst?«
»Ruhe und Einsamkeit sind alles, was ich brauche, Cheyenne. Kein Therapeut wird mir das geben.« Er legte den Kopf schief und blinzelte langsam. »Aber du kannst es ganz sicher.«
»Ich hab’s verstanden.« Die Halbdrow schnappte sich die drei anderen Zutaten, die sie benutzt hatten, um den Zauber an den Ring zu binden. Alles wanderte in die Vordertasche ihres Rucksacks, die Drow-Rätselkiste in die Haupttasche und das braune Glas mit der Schwarzzungensalbe steckte sie hinten hinein. Dann zeigte sie auf das Zauberbuch. »Ist es okay, wenn ich das hier lasse?«
»Wenn es dich schneller rausbringt.«
»Verdammt. Halt dich nicht zurück oder so.« Mit einem Lachen stand sie auf und griff nach dem gehärteten Lederumschlag mit dem O’gúl-Hornissennetz darin. Ich bin mir sicher, dass er weiß, was das ist. Ich bringe es das nächste Mal wieder mit. »Versuchen wir es morgen wieder?«
»Gut.«
»Oh, hey. Hast du eigentlich ein Handy oder so? Es wird langsam langweilig, jedes Mal im Borderlands-Forum vorbeizuschauen, wenn ich dich fragen will, ob ich vorbeikommen kann.«
Corian rieb sich wieder die Schläfen. »Ich rufe dich morgen an. Wie wär’s?«
»Du hast meine Nummer nicht.«
Die silbernen Augen des Nachtpirschers blitzten irritiert, als er sie ansah. »Bist du sicher?«
»Nun, jetzt nicht mehr.« Die Halbdrow schüttelte den Kopf und ging zur Tür.
»Cheyenne. Anhänger.«
»Reduziert auf Ein-Wort-Sätze.« Er fand das nicht sehr lustig, also hielt sie die Klappe und zog das Herz der Mitternacht an seiner zerbrochenen Kette heraus. Als sie den Knoten wieder festgemacht hatte, zeigte Cheyenne ihrem Mentor den Daumen nach oben. Ohne hinzusehen, deaktivierte Corian die Schutzvorrichtungen an seiner Metalltür und nickte. »Danke für all das. Du solltest dir wenigstens einen Mini-Kühlschrank mit einer kleinen Gefrierschublade zulegen.«
Corian kniff die Augen zusammen und flüsterte: »Was zum Teufel?«
»Du weißt schon. Um deinen Kiefer zu kühlen. Das hilft gegen die Schwellung.«
»Raus.«
»Gute Nacht.« Cheyenne riss die Tür ruckartig auf und schloss sie schnell hinter sich, bevor sie die feuchten, mit nassen Blättern bedeckten Stufen hinaufhüpfte. Ich dachte, ich hätte ein Problem mit meinem persönlichen Freiraum. Der Nachtpirscher hat zu viel Zeit allein im Keller verbracht. Sie ließ ihre Hand in ihre Tasche gleiten und fühlte den Kupferring dort. Das und das Piepen ihres Panamera, als sie ihn aufschloss, brachten sie zum Grinsen.