AUSGEBREMST
Ich schiebe eine weitere leere Dose in den Müllsack. Unter meinem Bett liegen noch so viele, dass ich froh sein kann, wenn sie alle hineinpassen. Mein Ex-Freund hat früher mitten in der Nacht Diätlimonade getrunken, weil er den Geschmack von Wasser nicht mochte, sich aber keine weiteren Füllungen für seine Zähne leisten konnte – als wäre Diätlimonade besser als das normale Zeug.
Das war eine seltsame Angewohnheit, um die ich mich jetzt nicht mehr kümmern muss, weil er nicht länger hier wohnt. Und in zwei Tagen werde ich das auch nicht mehr tun. Wir sind nicht im Streit auseinandergegangen – es war eine einvernehmliche Trennung. Und sie bekümmert mich auch weniger als die Tatsache, dass die Firma, für die ich in den letzten Jahren gearbeitet habe, zugemacht hat und ich jetzt arbeitslos bin. Das ist wahrscheinlich ein ziemlich deutliches Zeichen dafür, dass die Beziehung nicht für die Ewigkeit bestimmt war. Trotzdem ist es blöd, keinen Job, keinen Freund und in zwei Tagen auch keine Wohnung mehr zu haben.
Die vielen Getränkedosen habe ich bei dem bisher erfolglosen Versuch gefunden, meinen Koffer unter dem Bett hervorzuholen, wo er seit über zwei Jahren lagert. Und dieser Fund hat mir zu zwei Erkenntnissen verholfen: Die Frau, die alle zwei Wochen unsere Wohnung geputzt hat, hat nie unter das Bett geschaut, und ich werde meinen Koffer höchstwahrscheinlich gar nicht mehr haben wollen, wenn ich ihn erst einmal hervorgekramt habe.
Als mein Telefon klingelt, lege ich die Mission »Koffer bergen und Müll entsorgen« auf Eis. Ich erwäge, den Anruf zu ignorieren. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich mit jemandem sprechen will, vor allem, weil ich das Putzen und Packen bis zur letzten Minute aufgeschoben habe.
Als es zum dritten Mal klingelt, nehme ich den Anruf seufzend entgegen. Es ist nur mein Vater. Ich warte darauf, dass eine latente Enttäuschung oder Traurigkeit darüber aufkommt, dass es nicht Jason ist, mein Ex, aber ich empfinde nichts dergleichen. Jason hat seine Entscheidung getroffen, als er den Job in seiner Heimatstadt in Connecticut angenommen hat, und ich habe meine getroffen mit dem Beschluss, ihm nicht zu folgen.
»Hey, Dad, was gibt’s?«
»Hey, Kleine. Geht es dir gut?«
Er weiß, dass mein Leben in letzter Zeit etwas holprig war. Die Tatsache, dass ich mir eine neue Wohnung suchen muss, habe ich bisher unerwähnt gelassen, weil ich das Gefühl habe, dass meine Trennung von Jason und der Verlust meines Jobs schon Grund genug für ihn sind, sich Sorgen um mich zu machen. Mein Vater glaubt immer noch, dass ich ihn in ein paar Tagen besuchen komme, was eigentlich der Plan war, bis sich herausgestellt hat, dass die Wohnung, in die ich einziehen wollte, von Bettwanzen befallen ist.
»Es geht mir gut. Ist bei dir alles in Ordnung? Normalerweise rufst du mich nicht um« – ich schaue auf die Uhr auf dem Nachttisch – »zehn Uhr morgens an einem Donnerstag an.«
»Äh, na ja, Billy hatte einen Unfall.«
Mein Herz schlägt mir plötzlich bis zum Hals. Mein jüngerer Bruder war noch nie besonders gut darin, sich aus Schwierigkeiten herauszuhalten. »Geht es ihm gut?«
Mein Vater versucht, mich zu beruhigen. »Er ist ein bisschen angeschlagen, aber das wird schon wieder.«
Wenn Dad sagt, dass es Billy gut gehe, muss das nicht unbedingt stimmen. Mein Vater hatte schon immer die Gabe, Situationen herunterzuspielen. Er lässt es so aussehen, als seien die Dinge weniger schlimm, als sie es wirklich sind. So wie vor zwei Jahren, als er und mein Onkel mit dem Baugeschäft der Familie ums Überleben kämpften und uns anderen verheimlichten, dass sie kurz vor dem Bankrott standen. Ich erfuhr erst davon, als sie schon längst wieder auf dem richtigen Weg waren und keine roten Zahlen mehr schrieben.
Auf meine Frage, warum er mir nichts davon gesagt hatte, bekam ich die Antwort, er hätte befürchtet, ich würde mich verpflichtet fühlen, nach Hause zu kommen und in der Firma zu helfen. Zu der Zeit waren Jason und ich gerade in eine hübsche Einzimmerwohnung im Wicker Park gezogen. Ich weiß wirklich nicht, was ich getan hätte, wenn er es mir gesagt hätte, und ich bin dankbar, dass ich es nicht herausfinden musste.
»Was für ein Unfall war das denn? Bitte sag mir, dass es nicht bei der Arbeit passiert ist. Und was genau bedeutet ›ein bisschen angeschlagen‹?« Ich stelle mein Telefon auf Lautsprecher, werfe es auf mein ungemachtes Bett und nehme einen Stapel gefalteter Kleidungsstücke in die Hand, bevor ich sie durchforste, um sicherzugehen, dass sie nicht von meinem Haufen »häufig getragene Kleidung« stammen. Die kommen in meinen Koffer, wenn ich ihn unter dem Bett hervorgeholt und für brauchbar erachtet habe. Ich treffe den Entschluss, dass ich in den nächsten Tagen nichts von dem Stapel tragen werde, also werfe ich alles in eine Kiste mit der Aufschrift »Kleidung«.
Ich muss mich irgendwie beschäftigen, damit ich nicht in Stressmodus verfalle.
»Er war nicht bei der Arbeit, er hatte einen Autounfall. Außerdem war er allein unterwegs und es war niemand anderer beteiligt, aber er hat sich ein Sprunggelenk gebrochen und den Lkw zu Schrott gefahren.« Die Worte meines Vaters klingen abgehackt, fast einstudiert.
Billy arbeitet mit meinem Vater und meinem Onkel zusammen. Sie führen das einzige Bau- und Lohnunternehmen in der Stadt und kümmern sich das ganze Jahr über um alle anfallenden Arbeiten, vom Schneeräumen im Winter über die Rasenpflege im Sommer bis hin zu Renovierungsprojekten und dem Bau von Gerüsten. In den letzten Jahren haben sie vermehrt einige Aufgaben an Subunternehmer vergeben, weil die reichen Städter am Nordufer des Sees sie immer häufiger beauftragen, ihre Villen noch größer zu machen, als sie es ohnehin schon sind.
Ich lasse mich auf mein Bett fallen und fummle rastlos an einem Paar Socken herum. »Wie schlimm ist der Bruch?«
»Der Arzt sagt, der Gips muss sec hs bis acht Wochen dran bleiben.«
Acht Wochen scheinen mir eine lange Zeit zu sein. Dabei ist erst Mitte Juni. Das ist die arbeitsreichste Zeit des Jahres für sie. »Ist es am rechten oder linken Fuß?«
»Am linken.«
Ich atme erleichtert auf. »Er kann also noch fahren.«
»Na ja, nicht wirklich.« Ich spüre förmlich, wie mein Vater am anderen Ende der Leitung im Raum auf und ab tigert. Das ist eine Angewohnheit, die wir gemeinsam haben.
»Was meinst du mit ›nicht wirklich‹?«
»Sein Führerschein ist eingezogen worden.« Mein Vater seufzt. »Er hat den Lkw um den Briefkasten der McAlisters gewickelt, weil er betrunken war. Also wird er wegen Trunkenheit am Steuer angeklagt.«
»Ach du meine Güte. Was zum Teufel hat er sich dabei gedacht?« Es ist eine rein rhetorische Frage. Ich kann mir schon denken, was passiert ist. Er ist mit seinen Freunden ausgegangen, hat sich nicht im Griff gehabt und ist betrunken nach Hause gefahren. Aber er hat es nicht bis zu unserer Einfahrt geschafft, ohne irgendetwas zu rammen. Es ist nicht das erste Mal, dass so etwas passiert ist – obwohl wir beim letzten Mal nicht beweisen konnten, dass er betrunken war, denn wir fanden seinen Wagen erst am nächsten Morgen zwischen zwei Bäumen im Graben. Zum Glück hatte er niemanden verletzt – aber das macht es nicht besser.
»Anscheinend hat er überhaupt nichts gedacht. Ich glaube, er hat nicht mal gemerkt, wie betrunken er war. Nachdem er den Briefkasten der McAlisters gerammt hatte, hat er versucht, den Rest des Weges nach Hause zu Fuß zu gehen, aber zu guter Letzt ist er im Graben eingeschlafen. Die McAlisters haben ihn am Morgen gefunden, als sie mit dem alten Rufus Gassi gehen wollten.«
Ich fahre mir mit der Hand übers Gesicht. Den Tratsch darüber kann ich nur erahnen. Zwischen dem Haus der McAlisters und unserem stehen etwa fünfzehn andere Häuser. Wir kennen die Familie schon unser ganzes Leben. Billy war in der Highschool eine kurze Zeit mit ihrer jüngsten Tochter zusammen, und mein Vater hat vor ein paar Jahren ihre Garage gebaut.
Bei uns weiß jeder alles über jeden. So ist das Leben in einer Kleinstadt: All die neugierigen Klatschbasen haben ihre Ohren am Boden und lechzen wie geifernde Hunde nach dem neuesten Tratsch. Und jetzt ist meine Familie ihre Hauptzielscheibe.
»Für wie lange ist sein Führerschein gesperrt?«
»Wahrscheinlich für ein Jahr, aber Bernie hat gesagt, dass er es vielleicht auf sechs Monate verkürzen kann.« Bernie Sawyer ist der Anwalt der Stadt. Er wohnt in einem riesigen Haus, das im Grunde die Grenze zwischen den Sommerhäusern und den dauerhaft bewohnten Häusern am See bildet. Er und mein Vater sind seit Kindertagen gute Freunde.
»Das ist immer noch eine lange Zeit. Selbst wenn er seinen Gips loswird, muss ihn jemand herumkutschieren. Nur gut, dass keine Schneesaison ist, oder?« Meine Heimatstadt Pearl Lake liegt in einem Schneegürtel; wir haben lange Winter und endlos viel weißen Pulverschnee zu bewältigen. Das ist toll zum Rodeln, Schlittschuhlaufen und Skifahren, aber nicht so toll zum Autofahren.
»Es wäre besser, wenn wir nicht gerade mitten in einem großen Renovierungsprojekt stecken würden.«
»Aber ihr habt doch noch Aaron, oder?« Billy ist vielleicht nicht in der Lage, die schweren Arbeiten auf der Baustelle zu erledigen, aber zu ihrer Truppe gehört auch Aaron Saunders, der in etwa so alt ist wie mein Bruder. Aaron kümmert sich hauptsächlich um die Klempner- und Elektroarbeiten, kann jedoch auch für Billy einspringen.
»Ja, allerdings macht er schon genug Überstunden. Es sieht so aus, als müsste ich die nächsten Monate wieder auf unseren Baustellen mit anfassen.«
Das lässt mich aufhorchen. »Wer übernimmt dann den Papierkram, wenn du wieder vor Ort bist? Bitte sag nicht, dass Mom das machen soll.«
»Ich weiß nicht, ob ich eine Wahl habe.« Er kichert, aber es ist ein freudloser Laut.
»Es muss noch eine andere Möglichkeit geben, Dad.« Vor einigen Jahren hatte mein Vater die tolle Idee, meine Mutter für die Buchhaltung einzustellen. Aber es lief nicht gut, und ich musste über die Weihnachtsfeiertage alles wieder in Ordnung bringen, damit es bei der Steuererklärung nicht zu einem totalen Chaos kam. Danach musste er jemanden einstellen, der ihm half, weil er nicht allein mit allen Bereichen des Unternehmens jonglieren konnte.
»Es gibt niemanden, es sei denn, du willst für ein paar Monate wieder zu Hause wohnen, statt nur für ein paar Tage zu Besuch zu kommen.«
Ich lache, doch es ist ein tonloses Lachen. Ich liebe meine Familie, aber ich habe mir ein Bein ausgerissen, um ein Stipendium für ei n College in Chicago zu bekommen. Weit weg von Pearl Lake und all den Dingen, die es nicht zu bieten hat, wie Anonymität und Abwechslung.
Ich habe vier Jahre damit verbracht, meinen Bachelor in Betriebswirtschaftslehre zu machen. Ich hatte zwei Jobs, habe alle Prüfungen mit Bravour bestanden und gleich nach dem College einen gut bezahlten Job gefunden. Eine Zeit lang hatte ich das Gefühl, es geschafft zu haben. Ich hatte Pearl Lake hinter mir gelassen und mir meinen Traum von einem Leben in Chicago erfüllt, das zu Hause alle »die Stadt« nennen, als sei es die einzige Stadt auf der Welt. Für mich war es das auch. Doch jetzt bin ich arbeitslos und werde in zwei Tagen auch noch obdachlos sein.
Für mich bedeutet die Rückkehr nach Hause, dass ich gescheitert bin. Mein Versagen bedeutet, dass ich mich all den Menschen stellen muss, die ich daheim zurückgelassen habe und denen ich in den letzten zehn Jahren bewusst aus dem Weg gegangen bin. Es bedeutet, dorthin zurückzukehren, wo jeder alles über jeden weiß. Aber ich habe in Chicago definitiv keine Bleibe und könnte mir nicht mal ein Airbnb-Zimmer leisten.
Meine Antwort lässt wohl zu lange auf sich warten, denn mein Dad bricht das Schweigen. »Hast du einen neuen Job in der Stadt ergattert?«
»Nein, ich habe noch nichts Passendes gefunden.« Ich habe mich auf eine Reihe von Stellen beworben, aber keine davon ist das, was ich wirklich machen will – und um ehrlich zu sein, weiß ich nicht einmal selbst, was das sein soll. Ich habe mich immer nur darauf konzentriert, irgendeinen Job zu finden, um weiter in der Stadt leben zu können. Nur habe ich mir nie die Frage gestellt, was ich eigentlich langfristig beruflich machen will. Und jetzt, da ich in der Lage bin, mir einen neuen Job zu suchen, den ich liebe, bin ich etwas ratlos.
»Was genau müsste ich für dich tun, wenn ich mich bereit erklären würde, eine Weile zu bleiben?«
»Das Gleiche wie beim letzten Mal. Du hilfst bei der Buchhaltung, nimmst Kundenanrufe entgegen, organisierst Lieferungen und knüpfst Kontakte zu den anderen Unternehmen in der Stadt. Ich weiß, es ist viel verlangt, aber ich könnte deine Hilfe wirklich gebrauchen, Darlin’. Nur für ein paar Monate, bis Billy wieder auf den Beinen ist.« Meine Familie und meine Freunde haben die Angewohnheit, meinen Namen so auszusprechen, dass er sich wie Darlin’ und nicht wie Dillion anhört.
Ich schaue mich in meinem halb leer geräumten Schlafzimmer um und überlege, was von meinem Leben hier noch übrig ist. Ich habe keinen Job und keinen festen Freund. Alle Leute, mit denen ich zusammengearbeitet habe, mussten entweder einen anderen Job annehmen, oder sie waren Teil eines Paares, sodass ich jetzt das fünfte Rad am Wagen bin. Sicher, ab und zu bekomme ich eine SMS oder eine Einladung auf ein paar Drinks, aber von ehemals gemeinsamen Freunden, nicht solchen, bei denen ich mich nach der Trennung von Jason melden würde.
Ich habe noch Kontakt zu einigen Freundinnen aus dem College, aber die meiste Zeit habe ich doch damit verbracht, zu studieren und weiterzukommen. Mir ist klar geworden, dass ich die Stadt zwar liebe, aber dass ich mir ein Leben in einer Seifenblase aufgebaut habe, ein Leben, das hauptsächlich aus meinem Freund und meinem Job bestand, und dass mir jetzt, da ich beides verloren habe, nicht mehr viel bleibt, woran ich mich festhalten kann.
Außerdem ist es eine große Sache, dass mein Vater um Hilfe bittet. Wir haben uns immer gut verstanden, und ich weiß, wie viel Arbeit das Projektmanagement mit sich bringen kann, vor allem in einem so kleinen Unternehmen. Ich möchte nicht, dass mein Vater in die gleiche Lage gerät wie vor zwei Jahren – nicht, wenn ich es verhindern kann. Selbst wenn ich dafür die Stadt hinter mir lassen muss.
»Okay, Dad, ich komme nach Hause.«