DAS FAMILIENUNTERNEHMEN
Ich habe das ganze Wochenende für das Familienunternehmen gearbeitet, auch bekannt als Footprint Renovations and Home Maintenance, und jetzt ist Montag. In dieser Zeit habe ich festgestellt, wie nachlässig sie mit der Buchhaltung und dem Vertragsmanagement umgegangen sind. Ich habe viel Arbeit vor mir, aber ich sehe schon eine Reihe von Möglichkeiten, wie sie sich besser organisieren, Kosten senken und mir Zeit sparen können. Angefangen bei ihrem Ablagesystem, das aus mehreren Stapeln besteht, die irgendwo im Büro herumliegen oder oben auf den Schränken statt darin.
Gegenwärtig sitze ich im Schneidersitz auf dem Boden, vor mir ein Stapel von Aktenordnern, und versuche, sie in irgendeine logische Reihenfolge zu bringen. Am liebsten würde ich sie an den Strand mitnehmen und ein Lagerfeuer damit entzünden. Das gilt insbesondere für die Akte, in der es um einen Streit zwischen Footprint und einem Kunden von der Nordseite geht. Der Kunde hat einige der Gebühren infrage gestellt. Und es sieht so aus, als wäre der Streit beigelegt worden, aber das ist etwas, das überhaupt nicht hätte passieren dürfen.
»Alles in Ordnung, Darlin’?«
»Alles bestens.« Ich schlage den Ordner auf und blättere den Inhalt durch. Die Akte ist vierzehn Jahre alt. Akten müssen nur sieben Jahre lang aufbewahrt werden, also lege ich den Ordner auf den Schredderstapel, der jetzt schon einen beachtlichen Umfang aufweist.
Ein Kaffeebecher erscheint vor meinem Gesicht, umschlungen von den narbenübersäten, schwieligen Fingern meines Vaters.
»Oh, Gott segne dich und die Kaffeegötter. Den brauche ich gerade dringender, als du dir vorstellen kannst.« Ich greife nach dem Becher, trinke einen Schluck und brumme zufrieden vor mich hin. »Der ist von Boones, nicht wahr? Hast du auch frittierte Apfelkrapfen bekommen?« Endlich hebe ich den Blick und sehe, dass mein Vater mich anlächelt, während von seiner anderen Hand eine fettige Papiertüte baumelt.
Ich versuche, mir die Tüte zu schnappen, aber er lässt es nicht zu. »Du kriegst nur eins, wenn du eine Pause machst.«
»Sehe ich so aus, als hätte ich Zeit für eine Pause?« Ich deute auf den Berg von Aktenordnern.
»Du wirst mehr schaffen, wenn du zehn Minuten Pause machst und etwas isst. Du bist heute Morgen nicht zum Frühstück rübergekommen, und wenn du nicht heimlich Lebensmittel einkaufst, findet sich im Kühlschrank des Wohnwagens nur Bier.«
Ich habe heute Morgen eine halbe Tüte nicht mehr ganz frische Salt and Vinegar Chips gegessen, und das ist schon Stunden her. Wir fangen früh an, und mein Nachbar bleibt anscheinend gern lange auf, um an Bauprojekten zu arbeiten und Musik zu hören. Außerdem verbrennt er offensichtlich gern Müll. Das Schlimmste daran ist, dass sich Bees Feuerstelle in der Nähe meines Wohnwagens befindet, sodass ich nicht nur seine Musik und sein Gehämmer hören muss, sondern dass jetzt mein gesamtes Hab und Gut nach Lagerfeuer riecht. Der Geruch von Asche hat sich in meinen Haaren festgesetzt, weshalb ich es nicht offen trage, sondern zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden habe. Trotzdem nehme ich ab und zu einen kräftigen Brandgeruch wahr, und das ist höchst unangenehm.
Mein Vater steht immer noch abwartend vor mir. Also gebe ich nach, zum einen, weil er recht hat, und zum anderen, weil es nichts Köstlicheres gibt als Boones’ Apfelkrapfen. Ich klettere über das Labyrinth aus Aktenstapeln und folge meinem Dad in den Pausenraum, wo mein Onkel John mit einem Angestellten, Aaron Saunders, an einem kleinen Tisch sitzt. Beide Männer schlürfen Kaffee aus einem Pappbecher zum Mitnehmen. Aaron und mein Bruder waren in der Highschool befreundet, aber Aaron ist nach dem Abschluss für einige Jahre verschwunden. Niemand weiß, wo er war oder warum er zurückgekommen ist, aber als er wieder in Pearl Lake aufgetaucht ist, hat er sofort bei Footprint angefangen.
»Hey, Leute, wie geht’s euch?« Ich hole Teller und Servietten für die Apfelkrapfen aus dem Schrank. Normalerweise greifen die Jungs mit ihren schmutzigen Handschuhen in die Tüte und verteilen Zuckerflocken und Krümel auf dem Tisch, den niemals jemand abwischt. In den drei Tagen, die ich jetzt hier bin, habe ich versucht, elementare Tischmanieren einzuführen. Bis jetzt hatte ich nicht viel Erfolg damit.
»Gut, gut. Wie sieht es mit den Aktenstapeln aus?«, fragt Aaron.
Ich brauche mich nicht umzudrehen, um sein Grinsen zu sehen. Gestern habe ich mich über die Anzahl der uralten, falsch abgelegten Dokumente aufgeregt. Es nervt mich, alles durchzugehen, aber wenn ich damit fertig bin, werden sie ein viel effektiveres, besser organisiertes System haben.
»Wir arbeiten noch daran.« Ich verteile Teller und Servietten und entreiße meinem Vater die Tüte, bevor er sie an die Jungs weitergeben kann. Mit einer Zange verteile ich einige der Krapfen, bevor ich den Rest auf einen gemeinsamen Teller kippe und mich setze.
Das Gespräch verstummt und man hört nur noch Schmatzen und genüssliches Stöhnen. Ich nehme einen Bissen von meinem eigenen Krapfen, senke die Zähne in den süßen, leichten Teig. Diese Krapfen sind nicht wie das normale Gebäck aus den Donutläden, bei dem die Äpfel in kleine Stücke geschnitten sind. Diese hier werden aus einem ganzen Apfelring hergestellt, der mit Zitronensaft und Zimtzucker getränkt und dann noch einmal in frischen Teig getaucht wird. Anschließend werden die Krapfen portionsweise gebacken und dann mit einer süßen Glasur oder einer weiteren Runde Zitronensaft und Zimtzucker überzogen. Sie sind süß, delikat und köstlich. Ich verschlinge den ersten und greife nach einem zweiten, denn ich weiß, dass sie nicht lange auf dem Teller liegen bleiben. Diesen zweiten verzehre ich langsam und mit Genuss.
»Wie geht es mit den Renovierungsarbeiten an dem Protzbau am Nordufer voran?« frage ich zwischen zwei Bissen.
»Du weißt ja, wie es da drüben läuft. Die Besitzer treiben sich immer irgendwo in der Nähe herum«, brummt Onkel John.
»Wenigstens versorgen sie uns mit Arbeit«, sagt mein Vater. Ich habe herausgefunden, dass sie nach Billys Unfall einige große Aufträge verloren haben. Es gab Gerüchte, dass er mehr als einmal betrunken zur Arbeit erschienen sei, und die Leute hatten Sorgen wegen der Haftung. Ich weiß nicht, ob es stimmt oder nicht, aber ich hoffe, dass die Gerüchte verstummen, damit das Geschäft keinen Schaden nimmt. »Und der Bursche dort macht das Ganze auch nicht einfacher.« Mein Dad nickt Aaron zu.
In der Highschool hat Aaron in der Footballmannschaft der Schule gespielt. Er war Zehntklässler, als ich in der Zwölften war, aber das hat die Mädchen nicht davon abgehalten, ihm mit leuchtenden Augen hinterherzulaufen und verzweifelt um seine Aufmerksamkeit zu buhlen. Ich glaube nicht, dass sich in dieser Hinsicht viel geändert hat. Er ist erwachsener geworden und die ehemals weichen, jungenhaften Gesichtszüge sind einem markanten Kinn mit vollen, meist lächelnden Lippen gewichen. Ganz zu schweigen davon, dass er durch seine sportliche Vergangenheit und seinen jetzigen Job muskulöser geworden ist.
»Mähst du jetzt mit nacktem Oberkörper den Rasen?«
Aaron zuckt mit den Schultern und grinst. »Ich kann genauso gut etwas für meine Bräune tun, während ich mich um den Rasen kümmere.«
Ich verdrehe die Augen angesichts der kaum verhüllten Anspielung, die mein Vater und mein Onkel offensichtlich nicht mitkriegen. Zweifellos kümmert Aaron sich auf der anderen Seite des Sees um mehr als nur den Rasen. Mit seinen kantigen Gesichtszügen, seinem unglaublichen Körper und den Tattoos, die er im Laufe der Jahre angesammelt hat, ist er für jedes reiche Mädchen der Inbegriff eines bösen Jungen, den sie zähmen will.
»Ich hoffe, du hältst dich an die Sicherheitsvorschriften, wenn du all diese Wiesen mähst.«
»Keine Sorge, die wichtigsten Dinge schütze ich immer.« Er tippt sich an die Schläfe, aber wir wissen beide, wovon er in Wirklichkeit spricht. »Und ich finde es toll, dass du immer noch auf mich aufpasst, Dee. Es ist genau wie in alten Zeiten.«
Ich kichere und schüttle den Kopf. Aaron war berüchtigt dafür, dass er mich immer um eine Handvoll Kondome bat, wenn ich in der Highschool beim Arzt war, um mir mein Rezept für die Pille ausstellen zu lassen. Auf keinen Fall wollte ich als Teenager schon Mutter werden. Nichts für ungut, aber davon gab es hier schon genug.
Aaron war oft mit Billy zusammen, da sie in derselben Klasse waren. Abgesehen von der Sache mit den kostenlosen Verhütungsmitteln habe ich die beiden oft betrunken und lallend von einer Strandparty abgeholt. »Ich mache mir eigentlich mehr Sorgen um die Haftung für diese Jungs als um dich.« Ich deute zwischen meinem Vater und Onkel John hin und her, die ahnungslos kichern.
Das Gespräch dreht sich als Nächstes um das Projekt, an dem sie gerade arbeiten. Meistens handelt es sich bei den Projekten der Reichen und Schönen um Garagen, Bootshäuser und Poolschuppen – ja, sie haben Pools, und das, obwohl wir hier einen wunderschönen, unberührten See haben, in dem sie schwimmen können. Aber dieser neue Auftrag ist ein Erstauftrag, und soweit ich verstehe, bereitet er ihnen gehörig Kopfschmerzen.
»Sie müssen eine Entscheidung bezüglich des Bodenbelags treffen. Es geht ja nicht um Leben und Tod«, sagt Dad.
»Hast du sie wenigstens davon überzeugt, kein Kirschholz zu nehmen? Das Zeug schrottet Sägeblätter, dass einem die Spucke wegbleibt.« Aaron stopft sich noch einen Krapfen in den Mund.
»Rechnest du auch die ganze zusätzliche Zeit ab? Kilometergeld und alle anderen Nebenkosten? Ist der Auftraggeberin klar, dass sie das Projekt verzögert, wenn sie keine Entscheidungen trifft?«, frage ich.
»Ich habe alles aufgeschrieben«, antwortet Onkel John. Ich nehme an, das bedeutet, dass er diese Dinge noch nicht in Rechnung gestellt hat.
Ich lecke mir den Zuckerguss vom Finger. »Hört mal, diese Leute haben Geld wie Heu. Sie werden sich nicht dagegen wehren, dass du ihnen die Fahrten zum Baumarkt in Rechnung stellst, aber lass sie wenigstens wissen, dass die Arbeiten länger dauern, wenn sie die Entscheidungen hinauszögern, und dass Eillieferungen zusätzliche Kosten verursachen. Außerdem bezweifle ich, dass bei Harry’s Kirschholz vorrätig ist, also müsst ihr das aus Chicago oder von sonst wo kommen lassen, und da fallen bestimmt zusätzliche Lieferkosten an, oder zumindest Kilometergeld, wenn ihr das Holz abholen müsst.«
Mein Onkel nickt, als stimme er mir zu, aber ich weiß, dass es einen Grund gibt, warum er zögert zu tun, was ich vorschlage. »Sie geben eine Menge Geld aus. Und es ist ja nicht so, dass die Auftraggeberin sich absichtlich so anstellt. Sie macht uns ständig etwas zu essen und kocht Kaffee, und es sind nette Leute. Sie quält sich mit jeder Entscheidung und hat ihren Mann derart um den Finger gewickelt, dass er sie zu nichts drängt. Er sagt immer nur: ›Was Lainey will, bekommt sie auch‹, was ja schön und gut ist, aber das erschwert uns die Arbeit.« Ich spüre, dass er diese Kunden mag und keine Konflikte heraufbeschwören will.
»Soll ich mal hinfahren und mit ihr über die verschiedenen Bodenbeläge sprechen, damit du dich nicht länger damit herumplagen musst?«
»Das würdest du tun?« Onkel John sieht meinen Vater an und dann wieder mich.
»Aber natürlich. Das hat ungefähr fünfzig Prozent meines Jobs ausgemacht, als ich noch in Chicago gearbeitet habe. Ich habe mich um die Fragen der Kunden gekümmert, damit die Leute, die die eigentliche Arbeit gemacht haben, sich um ihre Sachen kümmern konnten.« Projektmanagement ist im Grunde das Gleiche, egal in welchem Bereich.
»Also, dann ja, bitte! Ich muss endlich loslegen, sonst geraten wir noch mehr in Rückstand, und jede einzelne Entscheidung erfordert einen verdammten FaceShield-Anruf.«
»Meinst du Facetime?«
Onkel John wirft die Hände hoch. »Woher soll ich das wissen? Sie haben diese teuren Tablets, die größer sind als mein Kopf, und sie laufen herum und reden mit den Dingern, als wäre das das Normalste auf der Welt. Alles, was ich habe, ist das hier.« Er wedelt mit seinem Handy. Nach der Größe zu urteilen ist es ziemlich alt und hat wahrscheinlich nicht viele der Apps und Updates, die es braucht, um richtig zu funktionieren.
Ich nehme mir vor, ihre Telefon- und Datentarife zu überprüfen. Manchmal kann das Internet hier draußen langsam und unzuverlässig sein. Nicht wie in Chicago, wo es überall Satelliten gibt und jeder ständig mit dem Internet verbunden ist. Hier ist man weiter von den ausgetretenen Pfaden entfernt, und das bedeutet, dass man an manchen Tagen keinen Empfang hat. Heute ist es besser als früher, als ich noch hier gelebt habe, aber wenn ich in den Ferien zu Besuch war, hatte ich immer ein Pocket-WiFi dabei, damit das Verschicken von E-Mails keine zwanzig Minuten brauchte.
Meine Eltern haben sogar noch einen Festnetzanschluss, denn im Winter kann der Strom tagelang ausfallen, und dann kann man nur noch mit einem Telefon mit Wählscheibe über die Stromgeneratoren jemanden anrufen.
»Wann sprichst du das nächste Mal mit ihr über die letzten noch anfallenden Arbeiten?«
»Wir müssen heute Nachmittag hin«, sagt Papa.
»Wie wär’s, wenn ich dann mitkomme? Ich muss sowieso in die Stadt und ein paar Büroartikel besorgen.«
»Klar, das wäre toll.«
»Perfekt. Ich habe mir die Projektbeschreibung schon angesehen. Wenn du mir also sagen kannst, wie hoch das Budget ist und was sie noch alles für das Design auswählen muss, kann ich einen Angriffsplan erstellen.«
Zwei Stunden und ein sehr sachliches Gespräch später hat Lainey Bowman eine Entscheidung darüber getroffen, welcher Bodenbelag und welche Schränke am besten zu dem vorhandenen Design passen und die rustikale Note des Raumes bewahren. Sie genehmigt die Materialien und die dafür anfallenden Kosten, und ich schaffe es, alles elektronisch zu erledigen, ohne auch nur ein einziges Blatt Papier abzuheften.
Auf dem Weg nach draußen bleibe ich stehen, um mit meinem Vater zu sprechen, der bereits wieder am Poolhaus arbeitet. »Soll ich bei Harry’s nachfragen, ob sie das Zeug bestellen können, oder soll ich mich lieber direkt an deine Kontakte in Chicago wenden?« Mein Vater tippt an seinen Schutzhelm und seufzt. »Ich glaube nicht, dass Harry’s irgendetwas von dem Zeug hat, vielleicht abgesehen von der Farbe, aber du kannst es ja mal versuchen. Ich würde ihm den Verdienst gönnen, aber er hat normalerweise nur die Grundausstattung da und nicht die Luxusartikel, die diese Leute suchen.«
»Okay, ich werde auf dem Weg durch die Stadt bei ihm vorbeischauen.«
»Prima. Danke, Darlin’. Du bist ein Geschenk des Himmels.« Er drückt meine Schulter und geht zurück, um Kanthölzer abzumessen.
Ich steige in den »guten« Pickup, der mehr für Werbung als für den Transport von Baumaterialien genutzt wird. Im Gegensatz zu den »Arbeits-Trucks« ist der Innenraum dieses Wagens sauber, es liegen keine Kaffeebecher oder leere Verpackungen auf dem Boden herum, und es riecht nach frischem Kiefernholz mit einem Hauch von Sägemehl.
Ich fahre aus der Einfahrt und vorbei an weiteren Häusern im Villenstil mit langen, gepflasterten Auffahrten. Die Garagen hier sind im Allgemeinen größer als die meisten Wohnhäuser am Südufer des Sees. Und jedes Jahr taucht am Nordufer ein weiterer protziger Kasten auf, der die Landschaft verändert und das Gebiet langsam, aber sicher nach Osten und Westen ausdehnt. Nur der Jachthafen und das Stadtzentrum verhindern, dass sie die Einheimischen komplett verdrängen.
Es ist nicht so, dass ich das Geld, das sie mitbringen, nicht zu schätzen wüsste. Der Tourismus hält unsere Gemeinde in den Wintermonaten über Wasser. Trotzdem hat es mich früher gewaltig genervt, wenn diese reichen Sommerkinder meine Freunde an der Nase herumgeführt haben. Und wie leicht es war, in die Falle zu tappen, sich etwas zu wünschen, das man nie haben konnte. Nicht einmal ich war immun dagegen. Ich habe diesen Fehler nur ein einziges Mal gemacht, und es war auch nur ein impulsiver Kuss. Aber ich habe ihn nie vergessen – weder das Gefühl selbst noch den Geruch und den bitteren Geschmack, den der Kuss in meinem Mund hinterlassen hat, weil mich jemand daran erinnert hat, wo mein Platz war, nämlich weit weg von diesen reichen Kids.
In jungen Jahren habe ich geglaubt, das Leben sei einfacher, wenn man Geld hat. Und nach meinem Umzug nach Chicago habe ich alles über das grünere Gras auf der anderen Seite erfahren und wie groß die Kluft zwischen mir und denjenigen war, die mehr besaßen als der Durchschnitt. Sogar auf dem College gab es Cliquen. Sie trugen Markenklamotten und fuhren in schicken Autos herum, für die ich ein Leben lang hätte arbeiten müssen. Egal wo ich war oder wo ich arbeitete, es gab immer eine Hierarchie, bei der ich mir nicht sicher war, ob ich jemals auch nur in die Nähe der Spitze kommen würde. Damals war es für Leute, die ohnehin schon alles hatten, einfacher, noch mehr zu bekommen. Für uns, die wir ganz unten waren, war es umso schwieriger, uns einen Platz weiter oben zu sichern, ohne wieder nach unten gekickt zu werden. Meine Rückkehr hierher erinnert mich genau daran.
Ich biege auf die Hauptstraße ab und fahre in Richtung Stadt. Als Erstes versuche ich es bei Harry’s, für den unwahrscheinlichen Fall, dass er alles hat, was ich brauche, auch die Büroartikel.
Harry begrüßt mich mit Lachfältchen um die Augen und einem breiten Lächeln. »Na, wenn das nicht die kleine Dillion Stitch ist. Ich habe gehört, dass du wieder in der Stadt bist!«
Natürlich hat er davon gehört. Diese Nachricht muss sich wie ein Lauffeuer verbreitet haben. Es fühlt sich wie eine bittere Pille an, die ich jedes Mal schlucken muss, wenn ich jemand Neuem über den Weg laufe. Als ich von hier weggegangen bin, war ich mir sicher, dass ich nie wieder länger hier leben würde. Ein paar Urlaubstage waren das Äußerste, womit ich gerechnet habe. Ich zwinge mich zu einem Lächeln, denn es ist nicht Harrys Schuld, dass ich so empfinde. »Ja, ich bin wieder da. Wie läuft’s bei Ihnen? Sieht aus, als wäre hier alles wie immer.«
Er zieht seine Hose an den Hosenträgern hoch und wippt auf den Fersen nach hinten. »Es läuft besser denn je. Ich habe eine neue Sommeraushilfe eingestellt, um den Laden am Laufen zu halten. Außerdem hat sich mein Sohn mit der süßen kleinen Miss Claire Bell verlobt. Du erinnerst dich doch an sie, oder?«
»Natürlich, ich habe Claire erst neulich gesehen. Herzlichen Glückwunsch, das ist ja eine tolle Nachricht.«
»Das stimmt. Meine Frau hofft, dass sie nicht zu lange warten, bis sie ihr Enkelkinder verschaffen, um die sie sich kümmern kann. Wie dem auch sei, Claire hat vor, hier auszuhelfen, aber im Moment ist sie noch mit Online-Kursen und ihrem Job in Tom’s Diner beschäftigt. Ihre Schwester arbeitet im Bootsverleih am Strand, aber das weißt du ja sicher schon. Ihr zwei, du und Allie, wart ja schon als Kinder dicke Freunde.«
»Das ist richtig.« Ich nicke zustimmend.
»Hast du sie schon getroffen, seit du wieder hier bist?«
»Noch nicht, aber das werde ich sicher bald nachholen.« Ich weiß nicht, wie begeistert Allie tatsächlich sein wird. In den Jahren seit meinem Umzug nach Chicago habe ich meine Freundschaften hier verkümmern lassen, weil ich zu sehr mit meiner Arbeit und meinem neuen Leben beschäftigt war, um mir Zeit dafür zu nehmen. Anfangs gab es noch Anrufe und Textnachrichten, aber im Laufe der Jahre wurden sie immer seltener, bis nur noch Geburtstags-GIFs oder Urlaubsgrüße übrig waren. Und bei meinen kurzen Besuchen in der Stadt habe ich immer nur ein paar Tage mit meiner Familie und Bee verbracht und bin dann wieder abgereist. Seit meiner Rückkehr nach Pearl Lake hat es in meinem Leben hauptsächlich Arbeit und Schlaf gegeben und sonst nicht viel.
Ich reiche Harry die Liste der Dinge, die ich brauche, und bin angenehm überrascht, dass er fast alles auf Bestellung besorgen kann. Wie erwartet, muss er bei dem gewünschten Bodenbelag passen, aber er ruft einen Händler in Chicago an und verschafft uns seinen Großhandelsrabatt. Es freut mich, dass wir einen einheimischen Laden unterstützen können und durch Harrys Beziehungen einen besseren Preis für den Bodenbelag bekommen.
»Ich habe gehört, dass Tommy jetzt auch hier arbeitet. Ist er in der Nähe?«
»Klar. Er ist hinten. Wenn du willst, kannst du zu ihm gehen und direkt mit ihm über die restlichen Dinge auf deiner Liste sprechen. Mal sehen, ob wir das, was du brauchst, vorrätig haben oder ob wir es bestellen müssen. Aber wenn du es eilig hast, kann ich das auch erledigen.«
»Nicht nötig, ich spreche gern mit ihm. Und danke noch mal, Harry. Ich bin froh, dass hier alles so gut läuft.«
Er zieht seinen Hut, zwinkert mir zu und öffnet dann die Tür, um mich ins Holzlager hinterm Laden zu führen. Ich atme den frischen Duft von geschlagenem Holz ein. Der scharfe Geruch von Zedernholz entlockt mir ein Lächeln. Dieser bleibt noch lange nach der Bauphase erhalten, warm und süß und beruhigend.
Ich entdecke Tommy am hinteren Ende des Lagers. Er ist nicht zu übersehen. Seit unserer letzten Begegnung ist er noch kräftiger geworden, als er ohnehin schon war. Während sein Vater groß und schlank ist und ein kleines Bäuchlein hat, ist Tommy breitschultrig und muskulös, als sei er dafür geschaffen, eine Axt zu schwingen. Er war immer ein netter Junge, der früher ein bisschen Ärger gemacht hat, aber er hat es nie böse gemeint.
Ich hake die Daumen in meine Taschen und gehe auf ihn zu. Als ich keine fünf Meter mehr entfernt bin, bemerke ich, dass er mit jemand anderem spricht. Es ist Bees Enkel. Van.
Bevor ich eine Kehrtwende machen und Harry sagen kann, dass ich die Bestellung telefonisch aufgeben werde, wandert Tommys Blick in meine Richtung und sein Gesicht leuchtet auf wie ein Spielautomat, wenn man etwas gewonnen hat. »Heilige Scheiße! Darlin’ Stitch! Claire hat mir erzählt, dass du wieder hier bist.« Er verzieht das Gesicht und wendet sich an Van. »Entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise.«
Van zuckt mit den Schultern und murmelt etwas, das ich nicht verstehe, aber er schaut in meine Richtung und mustert mich von Kopf bis Fuß. Heute trage ich Jeansshorts und ein Firmen-T-Shirt, das etwa drei Nummern zu groß ist, weil sie nur Large, Extra Large und Double XL vorrätig haben. Ich habe das T-Shirt gerafft und in meinen Hosenbund gestopft, damit es nicht stört. Außerdem trage ich ein altes Paar Arbeitsstiefel aus meiner Teenagerzeit, als ich auf Doc Martens mit Blumenmuster gestanden habe.
»Tut mir leid, ich will nicht stören. Ich kann später wiederkommen.« Ich schaue Van misstrauisch an.
»Nein, ist schon gut. Ich wollte gerade ein paar Sachen für Van raussuchen. Wusstest du, dass er Bees Enkel ist?«
Ich zwinge mich zu einem steifen Lächeln. »Ja. Wir haben uns vor ein paar Tagen kennengelernt.«
»Wie schön. Sie haben wirklich tolle Nachbarn, Van. Darlin’s Vater ist der Besitzer von Footprint Renos, wenn Sie also Hilfe brauchen, wären Sie da an der richtigen Stelle. Ich bin gleich wieder da.«
Bevor Van oder ich ihn aufhalten können, ist Tommy auch schon verschwunden und lässt uns allein zurück. Peinliches Schweigen folgt. Ein Schweigen, in dem die Erinnerung an das, was ich neulich gesehen habe, in lächerlichen Details wieder an die Oberfläche meiner Gedanken tritt. Heute trägt Van ein schäbiges T-Shirt mit einem College-Logo darauf, schwarze Shorts, Flip-Flops, eine Sonnenbrille und eine alte Baseballkappe. Mein Blick wandert von seinen Füßen hinauf zu seiner Taille, wo er einen Moment verweilt, weil die blöde Erinnerung an seine Nacktheit nicht verschwinden will. Dann fällt mir seine Kappe auf. Sie stammt von demselben College in Chicago, auf dem auch ich war.
Ich verschränke die Arme vor der Brust. »Was machen Sie hier?«
Er ahmt die gleiche Bewegung nach. »Was machen Sie hier?«
»Ich habe Sie zuerst gefragt.« Was zum Teufel ist los mit mir? Ich benehme mich wie ein zorniger Teenager mit PMS.
Seine Lippen verziehen sich zu einer schmalen Linie. »Ich habe Sie als Zweites gefragt.«
Hitze kriecht an meinem Hals hinauf und setzt sich in meinen Wangen fest. Einer von uns muss sich wie ein Erwachsener benehmen. »Ich habe Baumaterialien für meinen Vater bestellt, denn wie Tommy schon sagte, ihm gehört das Bauunternehmen in der Stadt.« Mein Tonfall ist definitiv genervt. Wahrscheinlich sollte ich meine Zickigkeit ein oder zwei Stufen zurückschrauben, aber ich traue diesem Burschen nicht weiter, als ich ihn werfen kann, und das ist nicht sehr weit, denn er ist ein großer Kerl. Es gefällt mir nicht, dass er so getan hat, als wüsste er nicht, wovon ich spreche, als ich seinen Anruf und seine ganzen Fragen zum Grundstück erwähnte.
Ich muss den Kopf in den Nacken legen, um ihm in die Augen sehen zu können, was frustrierend ist. Dann nicke ich ihm zu, zum Zeichen, dass er mir antworten soll. »Und?«
»Und?« Er zieht eine Schulter hoch und lässt sie wieder sinken.
Ich kann seine Augen nicht sehen, weil er eine verspiegelte Sonnenbrille trägt. Alles, was ich sehen kann, ist mein eigenes rotes, verärgertes Gesicht. »Warum sind Sie hier?«
Seine Lippen zucken. Er hat schöne Lippen, voll und weich. Sie öffnen sich, und seine Zunge streicht langsam über die untere, bevor er antwortet. »Warum interessiert Sie das?«
Ich gebe einen verärgerten Laut von mir. Es ist mir unbegreiflich, dass dieser Kerl der Enkel sein soll, den Bee so sehr geliebt hat. Er ist ein feindseliger Idiot. Ein totales Arschloch, das gut zu den Prunkvillen auf der anderen Seite des Sees passt. »Haben Sie so viel Geld, dass Sie alle Ressourcen dieser Stadt für Projekte aufbrauchen können, die nicht einmal wichtig sind?«
Er legt die Stirn in Falten. »Was?«
»Wissen Sie was? Vergessen Sie es. Ich habe keine Lust mehr, mit Ihnen zu reden.« Verärgert über seine Gleichgültigkeit mache ich auf dem Absatz kehrt und gehe zurück in den Laden. Ich werde die Bestellung später telefonisch aufgeben.
»Es war schön, mal wieder mit Ihnen zu reden, Darlin’!«, ruft er mir nach. »Ich bin froh, dass die Schuhe, die Sie sich heute ausgesucht haben, ein sichereres Aufstampfen bei Wutanfällen ermöglicht!«
Es kostet mich all meine Selbstbeherrschung, ihm nicht einen Vogel zu zeigen. Ich gebe seinem Großstadtarsch zwei Wochen, bevor er das Projekt, das er in Angriff nehmen will, aufgibt und die Firma meines Vaters einschalten muss, um weiterzukommen.