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WARUM MÜSSEN SIE SO HÜBSCH SEIN?

Dillion

Zwei Tage nach dem Vorfall mit dem Hammer klopft mein Nachbar sehr früh am Morgen an meine Tür. Ich weiß, dass er es ist, denn er stapft wie ein Elch durch die Büsche und macht einen Höllenlärm. Er würde einen schrecklichen Scharfschützen abgeben.

Zuerst nehme ich an, dass er endlich vorbeikommt, um sich zu entschuldigen.

Ich hätte es besser wissen sollen.

Ich öffne die Tür, und sein ärgerlich attraktives, zornerfülltes Gesicht erscheint ungefiltert durch die Fliegentür. Ich verspüre dieses Flattern im Bauch. Das Gefühl, das mir sagt, dass ich mich später unter der Dusche wahrscheinlich Fantasien über ihn hingeben werde. Das ist schon ein paarmal passiert, seit ich wieder hier wohne. Na gut. Mehr als ein paarmal. Aber er sieht auch wirklich umwerfend aus. Offenbar stehe ich auf dunkles Haar und Augen in der Farbe von Ahornsirup. Und gemeißelte Gesichtszüge und einen athletischen Körperbau. Das ist der Grund, warum ich in der Highschool mit dem Quarterback ausgegangen bin und auch, warum ich zwei Jahre lang in Chicago mit Jason zusammen war.

Ich stehe auf einen bestimmten Typ, und so ungern ich es mir eingestehe, dieser Mann entspricht ihm zu hundert Prozent. Zumindest körperlich. Was die Persönlichkeit angeht, so habe ich mein Bestes gegeben, mich von den Arschlöchern fernzuhalten, seit ich Pearl Lake verlassen habe. Es ist mir nicht immer gelungen, aber ich habe es besser gemacht als Tucker.

Van wedelt mit einem Bündel Papieren vor meiner Nase herum.

»Was zum Teufel ist das?«

Ich stoße die Blätter weg und trete vor, sodass ich den Weg in meinen Wohnwagen versperre.

Er ist ein großer Kerl, und ich halte es für keine gute Idee, ihm die Gelegenheit zu geben, in meinen persönlichen Bereich einzudringen. Das ist so, als würde man einen Grizzlybären einladen, einem in einer Höhle Honig vom Gesicht zu lecken.

Meine Maßnahme zwingt ihn, einen Schritt zurückzutreten, sodass er ein paar Zentimeter unter mir steht. Ich nehme die Papiere entgegen und überfliege sie. Es ist eine Rechnung für Kabelfernsehen. Über einen Tausender. Und auch ein Ausdruck der Rechnung für diesen Monat, auf der sich bereits ein ähnlicher Betrag angesammelt hat. »Das ist eine teure Kabelrechnung.«

Ich versuche, ihm die Papiere zurückzugeben, aber er schüttelt den Kopf. »Ich bin erst seit einer Woche hier! Wie hätte ich da tausend Dollar an Gebühren anhäufen können?«

»Warum fragen Sie mich das? Ich kenne doch Ihre Fernsehgewohnheiten nicht.«

»Das sind alles Rechnungen für On-Demand-Pornos! Hunderte und Aberhunderte von Dollar für Pornos! Man braucht für den Scheiß nicht einmal zu bezahlen. Man kann solche Pornos kostenlos sehen, wo und wann immer man will.«

Da hat er nicht ganz unrecht, aber die Internetverbindung hier oben ist miserabel. Zumindest gilt das für das Paket, das meine Familie immer hatte. Ich war noch nie ein Internet-Porno-Fan, aber ich habe es mit Streaming versucht, und ich kann mir nicht einmal ein Musikvideo oder einen Nachrichtenclip ansehen, ohne dass es mindestens einmal aussetzt. Bei echten Pornos ist es wahrscheinlich noch viel schlimmer. Ich blättere in den Seiten und sehe eine Gebühr nach der anderen für On-Demand-Filme für Erwachsene mit schlechten Titeln wie Buffy the Penis Slayer und Let’s Get Pucked . Die Videos sind alle gegen Ende des Monats abgerufen worden und haben in den letzten zwei Wochen an Häufigkeit und Umfang zugenommen. Ich hatte keine Ahnung, dass eine Kabelrechnung so detailliert sein kann.

Ich reiße meinen Blick wieder von der endlosen Liste los und schaue ihm in die zornblitzenden, ahornfarbenen Augen. »Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen. Es sei denn, Sie suchen eine Empfehlung für einen Psychotherapeuten oder so etwas, weil Sie sexsüchtig sind.«

»Ich bin nicht sexsüchtig! Ich habe seit Monaten keinen Sex mehr gehabt!« Er fuchtelt mit den Armen und schlägt dabei mit einer Hand gegen die Wohnwagentür.

»Nun, das könnte all die Gebühren erklären.«

»Das sind nicht meine Gebühren!«

Ich zucke mit den Schultern. »Meine sind es auch nicht. Ich bin noch nicht so lange hier wie Sie! Außerdem gibt es in der Stadt eine Videothek. Die haben eine Abteilung für Erwachsene. Sie könnten ein paar Videos ausleihen und sich das Geld sparen. Oder, wie Sie schon sagten, Sie könnten in den kostenlosen Seiten stöbern, statt das ganze Geld für die On-Demand-Sachen zu bezahlen. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden. Ich muss mich für die Arbeit fertig machen.« Ich werfe ihm die Papiere zu, und sie landen auf dem Boden vor seinen Füßen.

Er bückt sich, um sie aufzuheben, und ich schließe die Tür und verriegle sie.

Als ich meine Duschsachen zusammengesucht habe, ist er schon weg. Zum Glück.

Ich gehe im Nachthemd ins Haus, damit ich mir ein nicht nach Lagerfeuer riechen des Outfit für das Büro aussuchen kann. Es dauert nicht lange, bis ich geduscht bin und mich für die Arbeit zurechtgemacht habe.

Auf dem Weg in die Küche gieße ich mir einen Kaffee ein und schnappe mir einen der berühmten selbst gemachten Müsliriegel meiner Mutter. Sie wickelt sie einzeln ein, damit sie frisch bleiben. Ich werfe die Frischhaltefolie in den Müll und bemerke dabei den Berg von Papiertaschentüchern, der darauf liegt.

Und dann dämmert es mir.

Diese Gebühren haben sich schon seit einer Weile angesammelt.

Und der jüngste Anstieg der gesehenen Videos stimmt genau mit der Zeit überein, die mein Bruder mit einem gebrochenen Knöchel im Bett liegt.

Ich stelle den Kaffee auf die Theke und mache mich auf den Weg zu Billys Schlafzimmer. Er reagiert nicht, als ich klopfe – keine große Überraschung, denn es ist erst sechs Uhr fünfundvierzig.

Vorsichtig öffne ich die Tür, mit halb geschlossenen Augen für den unwahrscheinlichen Fall, dass er nackt schläft oder so.

Zum Glück tut er das nicht. Er liegt auf dem Bett, größtenteils unbekleidet, nur mit einem Paar Boxershorts. Billy war schon immer ein drahtiger Typ, aber statt in seinen Zwanzigern muskulöser zu werden, hat er sich gestreckt und ist noch hagerer geworden.

Sein Mund steht offen, und die Prellungen um seine Augen herum, die der Airbag bei dem Unfall in seinem Gesicht verursacht hat, sind jetzt nicht mehr schwarz, sondern grün. Er sieht fast wie ein Kind aus, wenn es schläft. Einen Moment lang bin ich traurig, dass er in diesem Zustand ist und dass ich deshalb nach Hause kommen musste. Wir haben uns nicht direkt nahegestanden, aber wir haben uns auch nicht ständig gestritten. Außer wenn er etwas angestellt hatte und ich ihm den Arsch gerettet habe. Diesmal konnte ich ihm allerdings nicht helfen.

Auf dem Boden neben seinem Bett entdecke ich seinen Laptop, hebe ihn auf und setze mich auf den Stuhl in der Ecke des Zimmers, auf dem sich ein Haufen Wäsche stapelt, der dem Geruch nach in die Waschmaschine gehört. Der Laptop ist passwortgeschützt, also drücke ich viermal die Nummer eins und dann die Eingabetaste. Ich verdrehe nur die Augen, als mir sofort Zugang gewährt wird. Es ist dasselbe Passwort wie für sein Telefon.

Ich klicke auf das Internetsymbol und stelle fest, dass es mit Bee’s Knees verlinkt ist, dem Namen, den ich Bees Anschluss gegeben habe, als ich ihn vor Jahren eingerichtet habe. Irgendwie hat mein Bruder es geschafft, das Passwort herauszufinden und ihr Internet anzuzapfen, das schon immer besser war als unseres. Sie wollte mit ihrem Lieblingsenkel per Videochat kommunizieren, und sie hat sich gern YouTube-Videos über Eiskunstlauf angesehen und diese Shows, in denen Leute tanzen und so.

Als Nächstes schaue ich mir den Browserverlauf meines Bruders an. Wie erwartet, finde ich mehrere Zugriffe auf das On-Demand-Konto von Bees Kabelanbieter. Sogar mehrere pro Tag. Ich schätze, Van hat jedes Recht, sauer zu sein, da es mein Bruder war, der die Gebühren angehäuft hat. Ich stupse Billy gegen die Schulter. Er gibt einen verärgerten Laut von sich und schlägt meine Hand weg.

Ich schnippe neben seinem Ohr mit den Fingern. »Hey, wach auf. Ich muss mit dir reden.«

»Wie spät ist es?« Er reibt sich die Augen und zuckt zusammen, wahrscheinlich weil er vergessen hat, dass sie immer noch geschwollen sind.

»Es wird Zeit, dass du aufhörst, dich in Bees Kabel zu hacken, damit du dir Pornos ansehen kannst.«

»Hm?« Er blinzelt ein paarmal und Panik blitzt in seinem Gesicht auf. Ich lasse den Laptop auf sein Bett fallen, deute auf seinen Browserverlauf und zeige ihm den Mittelfinger. »Regel Nummer eins: Lösche immer deinen Browserverlauf, Dumpfbacke.« Ich halte meinen Zeigefinger neben dem Mittelfinger hoch. »Regel Nummer zwei: Vier Einsen sind das durchschaubarste Passwort der Welt, und es ist deine eigene Schuld, wenn sich jemand in dein Handy hackt und Informationen stiehlt.« Ich halte meinen kleinen Finger hoch, das Schockerzeichen. »Und Regel Nummer drei: Benutze nicht die Internetverbindung unseres Nachbarn, um dir Pornos anzusehen. Es ist ein Wunder, dass du dir noch nicht den Schwanz abgerubbelt hast bei der vielen Wichserei, die du betrieben haben musst.« Der Gedanke lässt mich erschaudern.

»Pornos sind das einzig Schöne, das es in meinem Leben noch gibt, und Mom und Dad haben das gute Kabelpaket gekündigt. Außerdem ist Bees Internetverbindung viel besser als unsere.«

Dass dies Billys Verteidigung ist, überrascht mich nicht, aber ärgerlich ist es trotzdem. »Du schuldest unserem Nachbarn einen Tausender.«

»Was? Das gibt’s doch nicht. Das ist Wahnsinn!«

»Genau wie die Tatsache, dass du genug Schmuddelvideos bestellt hast, dass so eine Rechnung aufgelaufen ist.« Ich schnappe mir seinen Laptop vom Bett und gehe zur Tür.

»Hey! Wo willst du denn hin? Der gehört mir!«

»Nein, jetzt nicht mehr. Er ist ein Pfand, bis du das Geld für Vans Kabelrechnung zusammen hast.« Ich knalle die Tür hinter mir zu und stoße auf dem Weg durch die Küche mit meinem Vater zusammen.

Ich höre Billy in seinem Schlafzimmer fluchen.

»Was ist denn hier los?« Dad nimmt einen zögerlichen Schluck von seinem Kaffee.

»Abgesehen davon, dass dein Sohn pornosüchtig ist, nicht viel.«

Er spritzt heißen Kaffee auf die Theke. »Was?«

»Ich kümmere mich darum. Wir sollten uns auf den Weg machen. Ich habe um acht eine Telefonkonferenz mit einer neuen Holzfirma außerhalb der Stadt. Harry hat sie vorgeschlagen.«

»Richtig. Gut. Das ist gut. Ist das Billys Laptop?«

»Ja.«

»Das erklärt wohl, warum er schreit, als hättest du ihm ein Glied abgehackt.«

Ich werfe ihm einen Blick zu.

Er murmelt etwas von launischen Kindern und folgt mir zum Truck. Er sträubt sich nicht dagegen, dass ich mich auf den Fahrersitz setze, sondern lehnt sich entspannt zurück und genießt die holprige Fahrt zum Büro am Rand der Stadt.

»Meinst du das ernst, dass Billy pornosüchtig ist? Ist das etwas, worüber ich mit ihm reden muss?« Dad reibt sich den Nacken, und sein Gesicht ist vor Unbehagen gerötet.

Meine Eltern haben in meiner Jugend nur ein einziges Mal mit mir über Sex gesprochen, nämlich als sie mir sagten, ich solle keinen haben. Ich habe geantwortet, sie hätten leicht reden. Sie sind zusammen aufgewachsen und haben mit sechzehn Jahren mit dem Einverständnis ihrer Eltern geheiratet. Das ist für mich unvorstellbar. Mit sechzehn war ich kaum in der Lage, mein Zimmer sauber zu halten und meine Hausaufgaben pünktlich abzugeben, geschweige denn einen Haushalt zu führen. Und Sex ist eine der sehr wenigen Aktivitäten, die es für einen Teenager in einer Kleinstadt kostenlos gibt.

Ich bin mit Tawny und Allie in die Klinik im Nachbarort gegangen, habe mir ein Rezept für Antibabypillen ausstellen lassen und Tucker gezwungen, trotzdem ein Kondom zu benutzen. Wie sich herausstellte, war das eine gute Idee, denn er hatte die Angewohnheit, sich nebenbei noch mit anderen Mädchen zu treffen – meistens, wenn wir eine Beziehungspause hatten, aber nicht immer.

»Wenn du ihn in Verlegenheit bringen willst, klar. Ich verstehe, dass er sich langweilt, aber es gibt eine Million anderer Dinge, die er tun könnte, als den ganzen Tag Schmuddelvideos zu bestellen. Das größere Problem ist meiner Meinung nach, dass er es geschafft hat, sich in Bees Internet und Kabelnetz zu hacken, weil es schneller ist, und dabei hat er eine Rechnung über tausend Dollar angehäuft.«

»Tausend Dollar? Sind Internetpornos denn nicht kostenlos?« Dads Augen sehen aus, als würden sie ihm gleich aus dem Kopf springen.

Ich ziehe eine Braue hoch. »Nicht, wenn du die ganze Zeit bestimmte Filme auf Abruf bestellst.«

»Meine Güte.« Er fährt sich wieder mit der Hand durchs Haar und stößt den Atem aus.

»Also habe ich seinen Laptop beschlagnahmt, bis er das Geld rausrückt. Ich gehe davon aus, dass er etwas auf der Bank hat, da er bei euch wohnt und einen Vollzeitjob hat.«

»Sollte man meinen. Aber der Junge kann nicht so gut mit Geld umgehen wie du. Es geht eine Weile gut, er legt etwas auf die Seite legen und dann – bumm.« Er schnippt mit den Fingern. »Er setzt sich irgendwas in den Kopf, und plötzlich sind seine ganzen Ersparnisse weg. Deshalb haben wir jetzt das Dirt Bike, die ATVs und den IROC-Z in der Garage stehen.«

Billy war schon immer ein impulsiver Mensch. Deshalb ist er auch so oft in Schwierigkeiten geraten, aber in letzter Zeit hat seine Impulsivität ein ganz neues Ausmaß erreicht.

»Aber einen Tausender hat er doch sicher, oder?«

»Normalerweise sind seine Gehaltsschecks schon weg, wenn sie auf seinem Konto ankommen.« Papa zuckt mit den Schultern, nicht aus Desinteresse, sondern aus Ratlosigkeit. »Wenigstens haben wir unsere Sache bei dir gut gemacht, stimmt’s?«

Ich schenke ihm ein kleines Lächeln. »Ja, bei mir habt ihr eure Sache gut gemacht.« Aber es bekümmert mich, dass so viele Leute Billy bereits als Versager abgeschrieben haben, und ich frage mich, ob ich mich auch dieser Meinung angeschlossen habe und ob wir es ihm unmöglich machen, sich in den Griff zu kriegen.

Als wir im Büro ankommen, gehe ich zu meinem Schreibtisch, schalte meinen Computer ein und bereite mich auf meine Telefonkonferenz vor, während die Jungs die LKWs für den Tag beladen. Um halb zehn habe ich einen Deal mit einem neuen Holzlieferanten ausgehandelt, der gestaffelte Preise vorsieht und bei Erreichen einer bestimmten Bestellmenge weitere Rabatte gewährt. Das ist ein großer Schritt nach vorn.

Nachdem ich das Telefonat beendet habe, steige ich in den Truck und fahre in die Stadt, um ein paar Dinge fürs Büro zu besorgen, darunter Staubtücher und eine Lampe für meinen Schreibtisch. Die Leuchtstoffröhren sind brutal und bereiten mir Kopfschmerzen. Sie waren der Grund, warum ich mich in der Highschool die meiste Zeit hinter einer Baseballkappe versteckt habe. Außerdem hatte ich meistens keine Lust, meine Haare zu stylen. Jetzt binde ich meine Locken einfach zu einem Pferdeschwanz zusammen, damit sie mir nicht im Weg sind.

Onkel John hat mich gebeten, diese Woche im Immobilienbüro vorbeizuschauen, und ich denke, dass ich das am besten gleich erledigen sollte. Wir haben eine gute Beziehung zu den Leuten aus dem Büro, weil sie uns immer informieren, wenn Renovierungsprojekte anstehen, und sie schicken uns viele Kunden. Alles, was auf der Nordseite des Sees liegt, wird in der Regel gründlich renoviert, und da wir das einzige Bauunternehmen am Ort sind, ist es das Beste, Aufträge von hier zu ergattern.

Ich drücke die Daumen, dass ich nicht auf Tucker treffe, denn ich weiß jetzt, dass er für Pearl Lake Realty arbeitet. Ich erledige alles andere, bevor ich ins Büro des Maklers gehe. Das Glück scheint auf meiner Seite zu sein, denn Tucker ist nirgends zu sehen. Ich unterhalte mich ein paar Minuten mit dem Angestellten, aber dann versuche ich, so schnell wie möglich zu verschwinden. Meine letzte Station ist Boones, wo ich das Mittagessen für die Jungs und natürlich auch Apfelkrapfen kaufe.

Ich habe gerade meinen Truck erreicht, als eine sehr vertraute Männerstimme ruft: »Darlin’? Bist du das?«

Ich sacke in mich zusammen wie ein geplatzter Fahrradschlauch. Sieht so aus, als hätte mein Glück mich verlassen. Ich setze ein Lächeln auf und drehe mich um.

Tucker steckt eine Hand in seine schwarze Anzughose und kommt mit seinem typischen Grinsen den Bürgersteig entlang auf mich zu geschlendert. Er trägt ein hellblaues Golfhemd, und obwohl wir fast 30 Grad haben, hat er sich einen Pullover um den Hals gebunden, als wäre er aus einem schlechten Film der Neunziger gefallen. Er hat den Look mit hellbraunen Slippers vervollständigt. Loafers mit Steg und den namengebenden Glückspennys.

»Babe, sieh dich nur an!« Sein Blick wandert über mich hinweg, sodass ich am liebsten sofort unter die Dusche springen würde. Er stößt einen Pfiff aus. »Wow. Die Stadt hat dir gut getan, was?« Er lässt den Zeigefinger kreisen, als erwarte er, dass ich mich drehe.

Ich trage Jeans, flache Schuhe und das Firmen-T-Shirt, das zwei Nummern zu groß ist, weil die für mich bestellten Sachen noch nicht da sind. An meinem Outfit ist nichts sexy, und ich würde mich nie und nimmer für Tucker drehen.

Nicht mal für eine Million Dollar. Okay, für eine Million vielleicht schon. Aber ich würde die Bezahlung im Voraus verlangen.

»Hey, Tucker.«

»Das war’s? Nach all den Jahren ist alles, was du sagst, ›Hey, Tucker‹? Wie wär’s mit einer Umarmung?« Er breitet die Arme aus.

»Ich stehe nicht auf Umarmungen, außerdem habe ich keine Hand frei.« Ich halte eine der Imbisstüten hoch und benutze die andere Hand als Schutzschild.

»Ah.« Er lehnt sich gegen den Wagen, direkt über dem Türschloss. »Ich habe gehört, dass du wieder hier bist. Hast du endlich gemerkt, was du hier verpasst?« Er zwinkert mir zu.

»Immer noch so schmierig wie eh und je, wie ich sehe.« Ich kann nicht glauben, dass ich zwei Jahre mit diesem Idioten verschwendet habe.

Er wirft den Kopf zurück und lacht, aber als er den Blick wieder auf meine Augen richtet, ist er noch kälter. »Du hast schon immer versucht, besser zu sein, als du warst, Darlin’, und jetzt sieh dir an, wo du gelandet bist. Da, wo du nie sein wolltest. Wir wissen beide, dass du irgendwann unter mir liegen wirst, auch wenn du so tust, als wolltest du das nicht.«

Ich würde sagen, dass ich nicht glauben kann, was ich da höre, aber das hier ist Tucker, und es scheint, als sei es über die Jahre hinweg nicht besser mit ihm geworden, sondern schlechter. »Erstens hat meine Anwesenheit hier überhaupt nichts mit dir zu tun. Eigentlich bist du sogar der Grund, warum ich nicht hier sein will. Außerdem – nennt man so etwas nicht sexuelle Belästigung, Tucker? Wer sagt denn so einen Scheiß? Und bist du nicht mit Sue zusammen?«

»Es ist keine Belästigung, wenn es die Wahrheit ist. Und Sue und ich nehmen uns gerade eine Auszeit.«

»Eine Auszeit? Ist das immer noch deine Art, deine Seitensprünge zu rechtfertigen? Du bist wirklich ein Mistkerl, weißt du das? Das Einzige, was sich an dir verändert hat, ist dein Haaransatz.«

Er fährt sich verlegen mit der Hand durchs Haar. Es ist ja nicht so, dass er eine Glatze hätte, aber in der Highschool war er immer so paranoid deswegen. Sein älterer Bruder hatte bereits Geheimratsecken, als er im zweiten Jahr Collegejahr war, daher war Tucker schon immer empfindlich in dieser Hinsicht. Vor allem, weil er selbst einen spitzen Haaransatz hat. »Mit meinen Haaren ist alles in Ordnung.«

Ich verdrehe die Augen. »Nun, das war … nervig. Ich muss zurück ins Büro.« Ich schaue nach links, als ein vertrauter schwarzer Sportwagen direkt gegenüber parkt. Na wunderbar, als sei dieser Morgen nicht schon eine Katastrophe von epischem Ausmaß gewesen. Das Letzte, was ich gebrauchen kann, ist ein weiterer Zusammenstoß mit meinem Nachbarn, noch dazu an einem öffentlichen Ort.

Es ist schon schlimm genug, dass ich hier draußen mit Tucker rede, wo jeder mich sehen kann. Mindestens drei Einheimische sind auf der anderen Straßenseite vorbeigegangen, und es wird zweifellos Klatsch und Tratsch geben. Es wäre keine Kleinstadt, wenn es anders wäre.

»Komm schon, Darlin’, hab dich nicht so.« Er streckt eine Hand aus, um eine verirrte Locke meines Pferdeschwanzes zu berühren, aber ich lehne mich zurück, um den Kontakt zu vermeiden.

Die Autotür auf der anderen Seite der Straße schließt sich. Ich versuche, mich dazu zu zwingen, nicht hinzuschauen, aber mein dummer Kopf dreht sich wie von selbst, weil ich mich als Belohnung dafür, dass ich Tucker nicht in den Hintern getreten habe, an Vans Anblick ergötzen will. Van trägt ein fadenscheiniges T-Shirt mit dem Namen einer Band, die ich in der Highschool gehört habe, in verblassten Buchstaben auf der Brust. Seine Jeans haben Löcher. Nicht die teuren, strategischen Jeans, sondern die Art, die so oft und mit so viel Liebe getragen wurden, dass sie anfangen, sich aufzulösen. Er sieht fast wie ein Einheimischer aus.

Unsere Blicke begegnen sich kurz, bevor er zu Tucker schaut, der an der Seite meines Trucks lehnt und es mir unmöglich macht, wegzugehen.

»Wer ist der Typ?«, fragt Tucker.

»Hm?« Widerstrebend richte ich meine Aufmerksamkeit erneut auf Tucker.

»Dieser Typ.« Er deutet mit dem Kinn auf Van. »Woher kennst du ihn?«

Ich bin kurz davor, Tucker zu sagen, dass ihn das nichts angehe und dass ich ihn eigentlich überhaupt nicht kenne. Obwohl ich seinen Penis gesehen habe und dieser dem von Tucker weit überlegen ist, zumindest nach dem zu urteilen, woran ich mich erinnere. Aber mein Nachbar kommt direkt auf mich zu, mit einem Gesichtsausdruck, den ich nicht ganz deuten kann.

»Hey, Dillion, du bist ja ein echter Sonnenstrahl an diesem herrlichen Morgen. Lass mich dir helfen, meine Schöne.«

Er rauscht heran und schnappt mir eine der Tüten direkt aus der Hand. Ich bin so verblüfft und ehrlich gesagt auch verwirrt, dass ich nicht einmal die Gelegenheit habe, mich dagegen zu wehren. Jetzt habe ich keinen Puffer mehr zwischen mir und Tucker. Zumindest bis Van sich zu Tucker umdreht und ihn mit einem Megawatt-Lächeln anstrahlt. »Hey, Mann, entschuldigen Sie die Störung, aber können Sie Dillion die Tür öffnen? Diese Taschen sind ganz schön schwer.«

Tucker zieht die Stirn in Falten, als würde er versuchen, die Dynamik dieser Situation zu verstehen. Ich weiß, dass ich gerade genau dasselbe tue. »Äh, ja, klar. Du hättest etwas sagen sollen, Darlin’.«

Ich weiß immer noch nicht, was hier los ist. Aber ich schaffe es, die Tür zu entriegeln, die Van daraufhin öffnet. Er stellt eine Tasche auf die Mittelkonsole und nimmt mir die andere ab, damit er dasselbe noch einmal tun kann. »Was machen Sie da?«, frage ich mit zusammengebissenen Zähnen.

Er senkt den Kopf und hält seinen Mund direkt an mein Ohr. »Ihren mürrischen Arsch vor diesem Idioten retten; wonach sieht es denn aus?« Sein warmer Atem streicht über meinen Nacken und jagt mir einen Schauer über den Rücken.

Er weicht einen Schritt zurück und zwinkert mir zu, aber eher spielerisch. Was keinen Sinn hat, wenn man bedenkt, dass jede einzelne unserer Begegnungen bisher angespannt und meistens unerfreulich war.

Man muss wohl kein Genie sein, um die Spannungen zwischen Tucker und mir zu erkennen, vor allem, weil ich die Lebensmittel als Schutzschild benutze und Tucker mich daran hindert, in meinen Truck zu steigen. Aber ich kann auf mich selbst aufpassen, und ich brauche niemanden – schon gar nicht Van –, der mich rettet. Außerdem beantwortet das immer noch nicht die Frage, warum er sich freiwillig eingemischt hat.

Van wischt sich die Hände an seinen Jeans ab und hält sich am Türrahmen fest, bevor er sich umdreht und den verwirrten Tucker ansieht. »Verzeihung, ich sollte mich vorstellen. Ich bin Van, Dillions Nachbar. Und Sie sind?«

»Tucker Patrick.« Etwas widerwillig streckt er eine Hand aus. »Haben Sie gesagt, Sie seien Darlin’s Nachbar?«

Van schenkt ihm ein breites Lächeln. »Das ist richtig. Ich wohne direkt neben diesem Sonnenschein.« Er zwinkert mir abermals zu.

Tuckers Augenbrauen ziehen sich zusammen. Dazu gehört nicht viel. Seine Brauen sind in der Mitte fast zusammengewachsen. »Sie wohnen nebenan?«

»Van ist Bees Enkel. Er wohnt zurzeit in ihrem Cottage, das eigentlich jetzt ihm gehört.«

Tuckers Augen leuchten auf, als hätte er im Lotto gewonnen. »Ach ja? Wollen Sie verkaufen? Ich bin in der Immobilienbranche und kann Ihnen viel Geld für das Haus bieten.«

Ich verdrehe die Augen. Schon wieder. Ich erinnere mich, dass Tucker es gehasst hat, wenn ich das gemacht habe. Also füge ich noch ein weiteres Augenrollen hinzu, um verpasste Gelegenheiten wettzumachen. »Könntest du noch weniger entspannt sein? Er kann im Moment nicht verkaufen. Und das Grundstück liegt nicht einmal auf der richtigen Seite des Sees.« In meiner Handtasche summt mein Handy. Ich krame darin herum, bis ich es gefunden habe, und bin froh über die Ablenkung. Ich habe keine Ahnung, was hier gerade abgeht, und bin super verwirrt über Van und sein Verhalten. Und ich bin noch glücklicher, als ich feststelle, dass die Nachricht von Aaron kommt, der fragt, wann das Mittagessen da sein werde, weil Onkel John langsam Hunger habe.

»Ich muss das Mittagessen ausliefern.«

Van tritt zur Seite und hält mir seine Hand hin. Ich schaue sie an und weiß nicht, was er von mir erwartet. Schließlich lege ich meine Hand in seine in der Annahme, er wolle sie schütteln, was seltsam ist, aber andererseits ist diese ganze Situation seltsam.

In der Sekunde, in der seine Hand meine umschließt, durchzuckt mich das Gefühl, von einem elektrischen Schlag getroffen worden zu sein. Und er lässt meine Hand nicht los. Er hält sie einfach weiter fest. Ich schaue von unseren verschränkten Händen zu seinem Gesicht. Wieder grinst er und sieht mich mit seinen warmen, ahornfarbenen Augen an. Dann deutet er mit dem Kopf auf den Truck. »Hoch mit dir, meine Schöne.«

»Tragen Sie nicht ein bisschen dick auf?«, murmle ich.

»Zweifellos.«

Tucker wirkt inzwischen reichlich genervt. Und ich bin völlig verwirrt. Ich klettere in den Truck, um diese verrückte Szene zu beenden und schleunigst von den beiden Männern wegzukommen.

Als ich auf dem Fahrersitz sitze, lässt Van meine Hand los. Er drückt auf den Knopf für die Fensterautomatik, und das Fenster gleitet leise surrend herunter.

Als es ganz unten ist, schließt er die Tür und zieht am Sicherheitsgurt. »Vergessen Sie nicht, sich anzuschnallen.«

»Klar. Danke.« Ich ziehe den Gurt über meine Brust und versuche immer noch, mir einen Reim auf sein Verhalten zu machen.

Er steht immer noch da und grinst, als hüte er ein Geheimnis.

Ich umfasse das Lenkrad und sage: »Ich habe mit meinem Bruder gesprochen. Er trägt die Verantwortung für Ihre lächerliche Rechnung. Ich stelle einen Scheck für Sie aus. Tut mir leid.«

»Wollen Sie dafür wieder einbrechen?« Sein Grinsen wird noch breiter.

Ich spüre, wie mein Gesicht heiß wird bei der Erinnerung an Van, wie er tropfnass und nackt mitten in seinem Wohnzimmer steht. »Ich bin schon beim ersten Mal nicht eingebrochen. Ich habe einen Schlüssel benutzt. Und um Ihre Frage zu beantworten: Nein, ich schiebe den Scheck unter Ihrer Tür durch.«

»Das ist sehr rücksichtsvoll von Ihnen.«

»Das bin ich. Miss Rücksichtsvoll.«

Er kichert und entfernt sich einen Schritt vom Wagen, die Hände in seinen Taschen versenkt. »Ich wünsche Dir einen schönen Nachmittag, Dillion. Ich bin mir sicher, wir sehen uns später nochmal.«

»Ich wäre überglücklich.«

Ich lege den ersten Gang ein, fahre vom Bordstein weg und lasse Tucker und Van auf dem Bürgersteig hinter mir. Zum ersten Mal bin ich dankbar dafür, ihm begegnet zu sein.

Verwirrt, aber trotzdem dankbar.