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WO IMMER ICH HINGEHE, DU BIST SCHON DA

Van

Leider habe ich keine Zeit, um in Selbstmitleid zu schwelgen oder meine Gehirnzellen mit Alkohol zu zerstören, was beides nicht besonders produktiv wäre. Der Wecker auf meinem Handy erinnert mich daran, dass ich einen Termin mit Bernie habe, dem Anwalt, der sich um das Testament meiner Großmutter gekümmert hat.

Das hätte ich schon vor Monaten tun sollen, aber ich habe es vor mir hergeschoben. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass sich mein Leben in Chicago in dem Moment auf den Kopf gestellt hat, als ich hier angekommen bin, um die Dinge endlich zu regeln. Ich hatte mir gedacht, dass Grammy Bee, sosehr ich sie auch geliebt hatte, mir nicht viel hinterlassen würde. Nur das Cottage und eine Menge Gerümpel, das ich aussortieren musste. Ich habe das Haus immer geliebt, aber zum Aufräumen hatte ich keine Zeit. Jetzt habe ich nur noch Zeit.

Ich springe in den Truck, und die Federn im Sitz äußern quietschend ihren Protest. Wobei eigentlich fast alles in diesem Truck protestiert. Ich halte noch einmal an der Müllkippe an, bevor ich in die Stadt fahre. Die Anwaltskanzlei befindet sich am Ortsrand in einem kleinen Nebengebäude auf demselben Grundstück wie Bernies Haus. Es ist tatsächlich das Büro des einzigen Anwalts der Stadt, des Steuerberaters, des Stadtplaners und einer Kunsttherapeutin. Ich bin mir nicht sicher, was die Therapeutin mit Jura und Steuern zu tun hat, aber sie ist da.

Als ich dort eintreffe, kommt gerade meine mürrische Lieblingsnachbarin aus dem Gebäude. Sie ist mit einem Mann auf Krücken unterwegs. Er ist groß und schlank, hat das gleiche sandblonde Haar wie sie, nur kürzer und lockig. Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, er ist ihr jüngerer Bruder. Ich habe nicht viel von ihm gesehen, als ich bei Grammy Bee gewohnt habe, aber andererseits habe ich damals ja auch nicht viel von Dillion gesehen.

Ich biege in die Parklücke neben ihrem Truck ein und fahre absichtlich nah an die Fahrertür heran. Ich bin etwa zehn Minuten zu früh für meinen Termin, also stelle ich den Motor ab und warte, anstatt hineinzugehen.

Beim Anblick meines Wagens runzelt sie die Stirn, und ihre Augen verengen sich, als sie den schmalen Spalt sieht, den ich zwischen unseren Fahrzeugen gelassen habe. Die Seitenspiegel berühren sich fast. Ihre Zunge streicht über die fast geschlossene Lücke zwischen ihren Vorderzähnen, und sie klopft auf die Motorhaube meines Trucks.

Ich winke ihr zu.

»Was soll das?« Sie deutet auf die Lücke zwischen unseren Fahrzeugen.

Ich tue so, als würde ich sie nicht hören und tippe auf mein Ohr. Ihr Bruder geht weiter zur Beifahrerseite, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen.

»Sie hören mich klar und deutlich, Arschloch!«, ruft sie.

Ich kann nicht anders. Ich grinse. Mann, es macht Spaß, sie zu ärgern, und es scheint etwas zu sein, worin ich besonders gut bin. Sie zu ärgern ist ein Lichtblick an meinem sonst so glanzlosen Tag.

Ihre Nasenflügel beben und sie klappt den Seitenspiegel ein, damit sie sich zwischen unseren Autos hindurchdrängen kann. Ihr Gesicht erscheint im Fenster auf der Beifahrerseite meines Wagens, ihre Augen sprühen Funken. Sie wedelt mit der Hand, um mich aufzufordern, das Fenster herunterzukurbeln.

Ich rutsche über die Sitzbank und lasse das Fenster ein paar Zentimeter herunter. Dillion zieht eine Augenbraue hoch, also kurble ich noch ein paar Zentimeter weiter, bis das Fenster unterhalb ihrer Augenhöhe ist. Sie ist nicht klein, aber auch nicht besonders groß, also ist das Fenster jetzt ungefähr halb geöffnet. »Ich habe den Scheck inzwischen bekommen, danke.«

»Großartig. Könnten Sie Ihren Truck etwa, hm … einen halben Meter weiter weg parken?«

Ich ignoriere die Frage. »Kommen Sie gerade aus der Anwaltskanzlei?«

Ihre Ellenbogen stehen ab, was mich vermuten lässt, dass sie die Fäuste in die Hüften stemmt. »Das geht Sie nichts an.«

»Oder vielleicht waren Sie bei der Kunsttherapeutin und haben über Ihre Aggressionen und so weiter gesprochen.« Ich neige den Kopf zur Seite und warte auf ihre Reaktion.

»Ich leide nicht unter Aggressionen!«

»Warum schreien Sie mich dann an?«

»Was haben Sie für ein Problem? Ich verstehe Sie nicht. Heute Morgen hieß es noch, dies sei ›entzückend‹ und jenes ›wunderschön‹, und jetzt parken Sie meinen verdammten Wagen zu. Warum sind Sie so ein verwirrendes Arschloch?«

»Warum hassen Sie mich so sehr?«

»Weil Sie Bees Grundstück aufteilen wollen. Oder es verkaufen. Oder eine verdammte Edelvilla darauf bauen!«

»Ich werde Bees Grundstück nicht aufteilen. Oder es verkaufen. Das habe ich Ihnen schon gesagt.«

»Warum sollte ich Ihnen glauben?«

»Warum sollten Sie nicht? Und heute Morgen hat ihr Gesichtsausdruck Bände gesprochen, also dachte ich mir, ich bewahre den Kerl vor einem Tritt in die Eier – obwohl ich es irgendwie bereue, dass ich das nicht selbst übernommen habe, denn er scheint zu glauben, dass Sie sich für ihn auf den Rücken legen wollen oder auf die Knie gehen.«

»Wie bitte?«

»Das waren seine Worte, nicht meine.«

Sie verzieht die Lippen. »Tucker ist ein Vollpfosten und leidet unter Wahnvorstellungen. Ich würde nichts von alledem tun, selbst wenn er der letzte Mann auf Erden wäre.«

Wenigstens in diesem Punkt hatte ich recht.

Die Hupe aus Dillions Truck ertönt, und sie hebt den Mittelfinger. »Nur noch eine Sekunde, Billy!« Sie atmet tief durch. »Könnten Sie mir etwas Platz machen, damit ich in meinen Wagen einsteigen kann?«

Ich kurble das Fenster ganz herunter und stecke meinen Kopf heraus. Ich bin ihr so nah, dass ich ihr Shampoo riechen kann. Ihr Atem streicht über meine Wange. Er riecht wie Kirschbonbons.

Ich stelle mich ihrem etwas verärgerten Blick. »Ich schätze, ich bin wirklich ziemlich nah rangefahren, hm?«

»Irgendwie schon, oder? Sie können auf keinen Fall auf der Beifahrerseite aussteigen, ohne meinen Truck zu rammen!«

»Ich könnte es wahrscheinlich schaffen.«

Sie verdreht die Augen. »Ja, klar.«

Ich habe viel zu viel Spaß mit ihr, also mache ich Anstalten, die Tür zu öffnen.

»Was tun Sie da? Sie werden mich zerquetschen!«

»Gehen Sie aus dem Weg, dann passiert nichts.«

»Sie sind unmöglich!«

»Und Sie sind wie eines dieser kleinen Aufziehspielzeuge, die total genervt herumhüpfen.«

»Bin ich nicht!« Sie versucht, die Arme zu verschränken, aber es ist nicht genug Platz zwischen ihr und dem Wagen.

Ich grinse, und sie runzelt die Stirn. »Oh mein Gott! Machen Sie das mit Absicht? War das Absicht?« Sie deutet mit offenem Mund auf den fehlenden Platz zwischen unseren Fahrzeugen.

Mein Lächeln wird breiter. »Warum sollte ich das tun?«

Sie klappt ihren Mund zu und zeigt mit dem Finger auf mich. »Sie sind unmöglich.«

»Ich weiß. Und es macht Spaß, Sie zu ärgern.« Ich wackle mit den Augenbrauen.

»Ich kann nicht mal hier weg.« Mit Mühe schafft sie es, sich zwischen den Autos umzudrehen.

»Sie brauchen sich nicht dafür zu bedanken, dass ich Sie vor Tucker, dem Fucker, gerettet habe.«

»Mich brauchte niemand zu retten.« Sie öffnet ihre Tür und schlüpft auf den Fahrersitz.

»So hat es aber nicht ausgesehen.«

Sie knallt die Tür zu und schaltet den Motor an. Das Fenster surrt herunter, bevor sie den Gang einlegt. »Mit Tucker werde ich schon selbst fertig.«

»Trotzdem gern geschehen. Vielleicht sehen wir uns ja heute Abend. Ich habe vor, gegen halb neun zu duschen, falls Sie Ihren Hauseinbruch entsprechend planen wollen!«, rufe ich ihr nach, als sie wegfährt.

Ihre Hand erscheint, und ihr Mittelfinger ist auf mich gerichtet, dann fährt sie vom Parkplatz auf die Straße zurück.

Ich mache mir nicht die Mühe, das Fenster hochzukurbeln oder den Wagen abzuschließen. Niemand wird versuchen, diesen Schrotthaufen zu stehlen.

Ich bin viel besser gelaunt, als ich das Büro des Anwalts betrete. Dank meines Gesprächs mit Dillion bin ich ein paar Minuten zu spät dran, aber hier scheint es niemanden zu interessieren, ob man pünktlich ist. Terminvereinbarungen sind offensichtlich … Vorschläge.

Bernie ist ein älterer Mann von Ende sechzig, vielleicht Anfang siebzig. Er hat kaum noch Haare auf dem Kopf, trägt eine Bifokalbrille und hat buschige Augenbrauen, die mich an Raupen erinnern. Sein Schreibtisch ist ein gut organisiertes Chaos, auf dem sich Stapel von Ordnern türmen. In der Mitte ist ein etwa dreißig Zentimeter breiter Spalt, fast wie eine Tür oder ein Fenster, damit ich ihn sehen kann. Es würde mich irre machen, so zu arbeiten.

Er lässt sich in seinen verblichenen Ledersessel fallen. Die Armlehnen sind so abgenutzt, dass das Leder aufgeplatzt ist und die Schaumstoffpolsterung durchscheint. »Ich glaube, ich erinnere mich an Sie. Sie haben Bee im Sommer oft besucht. Oder war das Ihr Bruder?«

»Mein Bruder ist nie lange hier gewesen – vielleicht mal für ein paar Wochen, als wir jünger waren.« Er hätte den ganzen Sommer am Pool in unserem Haus in Chicago verbracht, wenn das eine Option gewesen wäre, aber das war es nicht. Bradley wurde schon immer vom allmächtigen Dollar angetrieben und er konnte das Durcheinander bei Grammy Bee und ihre exzentrische Art nicht ertragen. Er ist auch kein Fan von Ungeziefer. Oder körperlicher Arbeit. Von beidem gab es bei unseren Besuchen hier eine Menge. Grammy Bee hat mich nie den ganzen Sommer auf meinem Hintern sitzen und faulenzen lassen.

»Ah, ja. Jetzt erinnere ich mich. Sie haben hier immer den ganzen Sommer verbracht, bis Sie aufs College gegangen sind. Richtig?«

»Ja, das stimmt.«

»Nun, ich hoffe, Sie haben Ihre Meinung geändert und sich entschieden, das Anwesen nicht zu verkaufen. Sofern Sie es sich leisten können. Außerdem ist es unwahrscheinlich, dass die Stadt die Genehmigung für eine Aufteilung erteilt.«

Ich runzle die Stirn. Ich überlege, ob Dillion etwas zu ihm gesagt hat. »Ich habe nicht vor, zu verkaufen oder das Grundstück aufzuteilen. Darf ich fragen, woher Sie das zu wissen glauben?«

Seine buschigen Brauen ziehen sich zusammen. »Ähm, von Ihnen? Wir haben einmal miteinander telefoniert, direkt nach Bees Tod.«

»Nein, haben wir nicht.« Ist in dieser Stadt irgendetwas im Wasser, wovon die Leute Halluzinationen bekommen? Bernie sieht verwirrt aus, spricht aber weiter. »Manchmal werden die Menschen vergesslich, nachdem jemand gestorben ist. Das ist nicht ungewöhnlich. Sie haben mich gefragt, wie viel Land zu dem Besitz gehört und wie hoch der Wert sei. Sie wollten auch wissen, ob Sie das Land parzellieren könnten, um es zu verkaufen, oder ob es mehr wert wäre, wenn man ein Einfamilienhaus darauf bauen würde.«

»Ich würde mich auf jeden Fall an dieses Gespräch erinnern, das wir nicht geführt haben. Und ich habe nicht vor zu verkaufen.« Das könnte ich Grammy nie antun.

Er faltet die Hände auf seinem Schreibtisch und lächelt geduldig. »Hmm. Nun, ist es möglich, dass jemand anderes in Ihrem Namen angerufen hat? Vielleicht Ihr Familienanwalt?«

»Eventuell?« Es ist möglich, dass der Anwalt meines Vaters angerufen hat. Ein weiterer Gedanke, der mir nicht gefällt. Vor allem, wenn man bedenkt, was sonst im Moment noch alles im Gange ist.

»Ah, schön zu hören, dass sie bleiben wollen. Lassen Sie uns noch einmal alles durchgehen, ja?«

Wir besprechen die Details des Testaments, die ganz einfach sind. Meine Schwester und mein Bruder haben jeweils einen Scheck über 50 000 Dollar erhalten, was dem Wert eines Drittels des Cottages entspricht. Zumindest zu der Zeit, als das Testament verfasst wurde. Die Dinge haben sich in den letzten Jahrzehnten geändert, mit all den renovierten Cottages im Villenstil auf der gegenüberliegenden Seite des Sees. Unabhängig davon habe ich alles andere geerbt, nämlich das Anwesen und seinen gesamten Inhalt. Ein kleiner Betrag befindet sich noch auf der Bank, aber der größte Batzen davon ist an meinen Bruder und meine Schwester ausgezahlt worden. Am Ende des Treffens habe ich alles unterzeichnet, um den ganzen Besitz auf meinen Namen umschreiben zu lassen.

Auf dem Rückweg durch die Stadt beschließe ich, einen Zwischenstopp in der Bar zu machen. Ich vermisse Geselligkeit und Gespräche mit Freunden. Bis jetzt habe ich nur mit Kassiererinnen und Dillion geredet. Frankie und Chip haben sich zwar bei mir gemeldet, aber es ist nicht dasselbe wie ein gemeinsamer Besuch in der Bar oder ein Treffen auf dem Golfplatz. Ich bin nicht einmal besonders gut im Golf, sondern spiele nur, weil meine Freunde es tun.

Ich sehe mich in der Bar um, setze mich auf einen der freien Plätze am Ende der Reihe und bestelle ein Glas ihres besten Whiskeys, der ein ziemlich billiges Zeug ist. Er schmeckt wie Feuerzeugbenzin und riecht auch ungefähr genauso.

Zwei Frauen, die mit Sicherheit Einheimische sind, nehmen die Plätze rechts von mir ein. Ich weiß, dass sie hier aus der Gegend stammen, denn sie sind ungeschminkt und sehen natürlich aus, nicht aufgedonnert wie die meisten Frauen in Chicago. Als hätten sie bereits den Snapchat-Filter aktiviert, damit sie immer für Posts in den sozialen Medien bereit sind. Diese Damen sehen pflegeleicht aus.

Außerdem bestellen sie Bier.

Normalerweise trinken die Frauen in den Bars, die Frankie und ich früher besucht haben, Martinis oder Wein.

Ich erhebe mein Glas. »Guten Abend, die Damen.«

Sie ziehen beide gleichzeitig die Augenbrauen hoch und schauen sich in der Bar um. Sie ist voller Einheimischer. »Sie sollten lieber nach nebenan gehen, wenn Sie sich amüsieren wollen, Kumpel«, sagt die Frau, die mir am nächsten sitzt.

»Ich amüsiere mich hier sehr gut.« Ich klopfe gegen mein Glas.

Die beiden Frauen beginnen ein Gespräch, wobei sie mich größtenteils ignorieren, mir aber ab und zu einen Seitenblick zuwerfen. Im Fernseher über der Theke läuft ein Dirt-Bike-Wettbewerb, also konzentriere ich mich darauf, während ich gleichzeitig das Gespräch der beiden Frauen belausche.

»Tommy hat erzählt, er hätte den Briefkasten regelrecht herausgerissen, und du weißt, dass das ein Stahlpfosten war und verankert in einem halben Meter Beton«, bemerkt Frau Nummer eins.

»Glaubst du, dass Darlin’ deshalb zurückgekommen ist? Wegen des Unfalls?«, fragt Frau Nummer zwei.

»Wer weiß? Aber Sue ist ziemlich durchgedreht deswegen, weil sie denkt, sie würde versuchen, ihr ihren Macker abspenstig zu machen.«

Frau Nummer zwei verdreht die Augen. »Der Mann könnte seine Hose nicht mal anbehalten, wenn es um sein Leben ginge. Ich habe gehört, Sue bleibe nur wegen des Babys bei ihm. Außerdem will sie nicht wieder bei ihren Eltern einziehen oder staatliche Unterstützung beantragen.«

»Entschuldigung.« Mein Mund klinkt sich ein, bevor mein Gehirn es tut.

Beide Frauen drehen sich um und sehen mich an.

»Ich wollte nicht lauschen, aber kennen Sie zufällig eine Frau namens Dillion?«

Die Augen von Frau Nummer eins verengen sich. »Was geht Sie das an?«

»Ich bin ihr Nachbar.«

Das erstaunt die beiden sichtlich. »Sie haben ein Haus auf der Südseite?«

»Meine Grammy hatte eins. Grandma, meine ich. Bee Firestone.«

»Sie sind der Enkel von Bee Firestone?« Frau Nummer eins scheint die Gesprächigere von beiden zu sein. Das veranlasst mich, sie noch einmal vom Kopf bis zur Hüfte zu mustern.

»Ja. Sie hat mir das Cottage hinterlassen. Ich wohne jetzt dort. Direkt neben Dillion. Die alle aus irgendeinem Grund Darlin’ nennen. Der Name Dillion weist nicht einmal ein R auf, also verstehe ich nicht, wie das zusammenhängt.«

Frau Nummer zwei lacht, laut und aus voller Kehle.

»Was ist daran so witzig?«

Die beiden sehen einander an. »Weil Dillion niemandes Darling ist.«

»Und das ist witzig?«

»Hören Sie, ich erwarte nicht, dass Sie das verstehen. Dillion war immer fest entschlossen, ihren Arsch hier rauszuschwingen, und das hat sie auch getan. Sie hat hart dafür gearbeitet«, sagt Frau Nummer eins eine Spur defensiv.

»Wenn du aus einem Ort wie diesem kommst, kannst du versuchen zu fliegen, so viel du willst, aber deine Wurzeln holen dich immer wieder zurück«, sagt Frau Nummer zwei.

Sie stoßen an und nehmen noch einen Schluck aus ihren Gläsern.

»Ah, ja.« Aber ich verstehe nicht wirklich, was sie meinen, denn ich habe nie richtig hier gelebt. Natürlich bin ich froh, wieder hier zu sein, was aber nur zum Teil daran liegt, dass es mich an gute Zeiten und Grammy Bee erinnert. Vor allem kann ich auf diese Weise Chicago und dem ganzen Mist dort entfliehen.

Ich weiß nicht, wie es ist, aus einer kleinen Stadt zu kommen. Ich weiß nur, wie es ist, eine zu besuchen. Aber ich schätze, ich lerne langsam dazu, denn ich sitze in der örtlichen Bar und gehöre nicht hierher, weil ich aus der Stadt komme; obwohl dies der einzige Ort ist, an dem ich mich jemals wirklich wohlgefühlt habe. Nicht in der Bar, sondern in Grammy Bees Cottage.

Ich nippe weiter an meinem Drink und höre den beiden Frauen zu, wie sie über jeden in der Stadt tuscheln und tratschen. Anscheinend hat Tucker the Fucker sich diesen Titel verdient. Es ist erstaunlich, wie tief hier jeder die Nase in die Angelegenheiten aller anderen steckt.

»Oh, verdammt.« Frau Nummer eins stupst Frau Nummer zwei an. »Wenn man vom Teufel spricht.«

Ich folge ihren Blicken durch die Bar. Dillions Bruder lehnt an der Wand neben den Billardtischen.

»Hat er abgenommen? Er sieht dünner aus, findest du nicht auch?«, bemerkt Frau Nummer zwei.

»Er war schon immer schlank, wie ein Läufer, aber ich weiß nicht, er sieht in letzter Zeit nicht gut aus.«

»Das ist wirklich schade. Er ist ein attraktiver Bursche, aber ein echter Chaot.«

»War Sadie McAlister nicht eine Zeit lang mit ihm zusammen?«

»Ja, das stimmt. Ich habe gehört, er habe sie geschwängert, aber sie hatte eine Fehlgeburt.«

»Er hat eine schwere Zeit hinter sich, was? Da fragt man sich, ob nicht irgendwann etwas vom Glanz seiner Schwester auf ihn abfärben wird. Es würde ihm wirklich gut tun.«

Sie seufzen und nippen an ihren Bieren.

Ich sitze noch eine Weile da und höre zu, wie ihr Gespräch von Dillions Bruder abschweift. Ich kann mir nicht vorstellen, wie schwer es sein muss, an einem Ort zu leben, an dem jeder von den Fehlern weiß, die man gemacht hat. Dadurch wird es unmöglich, Dinge herunterzuspielen oder zu verbergen, wer man ist. Ich beobachte, wie Billy ein Bier nach dem anderen herunterkippt. Es steht mir nicht zu, mich einzumischen, vor allem, weil er mich nicht einmal kennt.

Ein tätowierter Typ nimmt neben mir Platz – es ist der einzige freie Hocker –, und der Barkeeper nickt ihm zu. »Das Übliche, Aaron?«

»Genau.« Er zieht sein Portemonnaie aus der Gesäßtasche, legt es vor sich auf den Tresen und dreht sich zu mir um. »Sie sind neu hier, hm?«

»Das sieht man mir an, nicht wahr?«

Er lächelt kurz. »Jeder kennt jeden. Sie kommen mir vertraut vor, aber nicht bekannt, wenn Sie wissen, was ich meine.« Er hält mir die Hand hin. »Aaron Saunders. Ich bin von hier.«

»Van Firestone. Ich wohne im Haus von Bee Firestone.«

Sein Grinsen wird breiter. »Sie sind der Enkel, dem sie das Cottage vermacht hat.«

Wäre ich in Chicago, würde mich dieses Gespräch nervös machen, aber so langsam durchschaue ich das Leben in einer Kleinstadt. Dass Leute etwas über einen wissen, ist hier nicht seltsam. »Äh, ja. Das bin ich.«

»Sie bringen meine Freundin Dillion in letzter Zeit ganz schön auf die Palme.«

»Sie sind mit Dillion befreundet?« Ich würde gern fragen, was für eine Art von Freund er sei, aber ich verkneife mir die Frage.

»Ich arbeite mit ihr zusammen in der Baufirma ihres Vaters.« Er klappt seine Brieftasche auf und holt einen Zehn-Dollar-Schein heraus. »Sie scheint zu denken, dass Sie völlig grundlos an Bees Haus arbeiten, weil Sie es ohnehin verkaufen wollen. Oder etwas Neues bauen oder was auch immer. Ich muss sagen, dass Dee sich nicht so leicht aus der Fassung bringen lässt, aber Ihnen scheint es zu gelingen.«

»Viele Leute denken, dass ich viele Dinge mit Bees Haus vorhabe, aber nichts davon stimmt.« Irgendwie gefällt es mir, dass sie mir genug Beachtung schenkt, um mit diesem Typen über mich zu sprechen.

Der Barkeeper kommt mit Aarons Getränk zurück. Zuerst denke ich, es sei ein Guinness mit zu viel Schaum. Aber dann stelle ich fest, dass es Eiscreme ist, die in einem Glas Rootbeer schwimmt. Aaron deutet mit dem Kopf auf Dillions Bruder. »Kannst du mir einen Gefallen tun und mir ein Glas von dem alkoholfreien Zeug für Billy einschenken? Ich finde, er sollte nicht noch mehr trinken, seinem Zustand nach zu urteilen.«

»Alles klar. Ich wollte ihm auch gerade den Hahn abdrehen, aber der arme Kerl hat eine schwere Zeit hinter sich. Ich will sein Ego nicht verletzen, wenn es nicht sein muss.«

»Danke.« Der Barkeeper nimmt das Geld entgegen und kommt eine Minute später mit einem Glas zurück, das Aaron Billy überreicht. Er bleibt noch ein paar Minuten bei ihm sitzen, wird dann aber zu den Billardtischen gerufen.

Aaron winkt mich herüber, und ich schließe mich ihm und seinen Freunden für eine Runde Billard an, die sich über mehrere Stunden hinzieht.

Schließlich werden die Lampen eingeschaltet und es ist Zeit, nach Hause zu gehen. In diesem Moment bemerke ich, dass Billy auf seinem Stuhl am anderen Ende der Bar in sich zusammengesackt ist.

Aaron rüttelt an seiner Schulter und versucht, ihn zu wecken. Billy lallt nur noch. Ich rutsche von meinem Hocker und gehe hinüber. »Soll ich Ihnen helfen?«

Aaron fährt sich mit der Hand durchs Haar. »Ich habe nur mein Fahrrad bei mir, und er ist nicht in der Verfassung, auf dem Rücksitz mitfahren zu können. Aber ich will Dee auch nicht um diese Uhrzeit noch anrufen.«

»Ich wohne gleich nebenan. Ich werde ihn nach Hause bringen.«

»Sind Sie sich da sicher? Damit würden Sie mir einen großen Gefallen tun und damit könnten Sie gleichzeitig Pluspunkte bei Dee sammeln, was immer eine gute Idee ist.«

Ich lache. »Irgendwie gefällt es mir, wenn Sie auf dem Kriegspfad ist.«

»Davon bin ich überzeugt. Sie ist ein kleiner Hitzkopf.«

Aaron und ich müssen beide mit anfassen, um Billy aus der Bar und in den Truck zu bekommen. Er mag schlank sein, aber er ist wirklich schwer. Während der ganzen Fahrt nach Hause ist er mehr oder weniger ohnmächtig. Sein Kopf wackelt hin und her und prallt jedes Mal gegen das Beifahrerfenster, wenn wir durch ein Schlagloch fahren, was oft vorkommt.

Kurz nach halb eins biege ich in die Einfahrt meiner Nachbarn ein. Das Haus liegt im Dunkeln, was keine Überraschung ist, denn heute ist ein ganz normaler Wochentag.

Ich stupse Billy an. »Hey, Mann, Sie sind zu Hause.«

Er wacht auf und blinzelt ein paar Mal. »Hm?«

Ich zeige auf das Haus. »Sie sind zu Hause. Zeit, Ihren Rausch auszuschlafen.«

»Oh. Ja, klar. Wie spät ist es?« Er lallt die Worte und fummelt an seinem Sicherheitsgurt herum.

»Nach Mitternacht. Soll ich Ihnen helfen?«

»Ich schaff’s schon«, murmelt er, aber er kämpft weiter mit dem Gurt.

Ich glaube nicht, dass er es ohne Hilfe aus dem Wagen und ins Haus schaffen wird, also löse ich meinen eigenen Sicherheitsgurt und steige aus. Dann schnappe ich mir seine Krücken von der Ladefläche und gehe zur Beifahrerseite. Als ich die Tür öffne, ist ihm das unglaubliche Kunststück gelungen, sich abzuschnallen.

Ich überlege gerade, wie ich seinen betrunkenen Arsch aus dem Wagen und zur Haustür bringe, ohne ihn mir über die Schulter zu werfen, als ich höre, wie eine Fliegentür zugeschlagen wird.

»Was zum Teufel ist hier draußen los?« Dillion hält sich eine Hand vor das Gesicht, um ihre Augen vor dem grellen Licht meiner Scheinwerfer zu schützen, die direkt auf ihren Wohnwagen gerichtet sind.

Ihr Haar ist ein chaotischer, blonder Heiligenschein. Sie trägt winzige Schlafshorts und ein Tanktop, das dank der Scheinwerfer praktisch durchsichtig ist. Ihre Brustwarzen drücken sich gegen den weißen Stoff und meine dummen Augäpfel richten sich natürlich darauf.

Und weil ich auf sie und ihr Outfit fixiert bin, achte ich nicht auf Billy, der beschlossen hat, dass er meine Hilfe beim Aussteigen aus dem Truck doch nicht braucht. Er stößt mit einem »Oooh« mit mir zusammen und ich schaffe es gerade eben noch, aufrecht stehen zu bleiben, während Billy sich auf der Auffahrt ausstreckt.

»Oh mein Gott! Ist das Billy? Was haben Sie mit ihm gemacht?« Dillions Flip-Flops klatschen über die Kieseinfahrt.

»Ich habe gar nichts mit ihm gemacht.« Ich lehne die Krücken an die Seite des Wagens und gehe in die Hocke, damit ich ihm vom Boden aufhelfen kann. Er ist unkoordiniert und schwer, und ich bereue langsam, ihn nach Hause gefahren zu haben.

»Billy, bist du betrunken?«

»Krieg dich wieder ein, Dil. Ich habe nur ein paar Bier getrunken«, murmelt Billy. »Immer schön chillig bleiben, Dill.« Er lacht und übergibt sich dann, wobei er meine Füße nur knapp verfehlt.

»Sie haben meinen Bruder betrunken gemacht? Was ist los mit Ihnen?«

Ich werfe ihr einen Blick zu. Ihr Verhalten wird langsam ermüdend. Es hätte vielleicht Spaß gemacht, sie zu ärgern und zu provozieren, aber ich kann nur eine begrenzte Anzahl von Unterstellungen ertragen. Ich habe schon genug am Hals, auch ohne ihre dummen Anschuldigungen. »Sie haben eine furchtbare Art, Danke zu sagen. Ich habe ihn nicht betrunken gemacht. Ich habe ihn so vorgefunden und wollte Ihnen und Ihrer Familie die Mühe ersparen, ihn von der Bar abzuholen.«

Sie lässt die Hände sinken und ihr Zorn fällt in sich zusammen wie ein geplatzter Luftballon. »Oh. Ich wusste nicht mal, dass er ausgegangen war.«

»Danke, dass Sie dafür gesorgt haben, dass er sicher nach Hause gekommen ist.« Ich gehe um den Truck herum und steige wieder ein, ohne zu reagieren, als Dillion meinen Namen ruft. Ich habe heute Abend keine Geduld mehr, mich wie den Idioten behandeln zu lassen, für den sie mich offensichtlich hält.