EIN BLUTENDES HERZ
Mein Wecker klingelt zu einer Zeit am nächsten Morgen, die annehmbar gewesen wäre, wenn ich nicht bis in die Puppen aufgeblieben wäre. Mein Vater und ich sind mit einem Hausbesitzer namens Kingston verabredet, der im Herbst seine Küche renovieren will. Er ist mit Bowmans befreundet, der zufällig auch ein ehemaliger NHL-Eishockeyspieler ist. Es scheint, als ob immer mehr von diesen Typen am See auftauchen.
Ich drehe mich um, greife nach dem Wecker und schalte ihn aus. Bevor ich aus dem Bett schlüpfen kann, legt sich ein starker Arm um meine Taille und zieht mich zurück auf die Matratze.
»Wo willst du so früh hin?« Vans raue Stimme jagt mir einen Schauer über den Rücken. Nachdem ich ihm gestern Abend gezeigt habe, wo Bee Teile ihres Vermögens versteckt hat, sind wir zusammen ins Bett gegangen. Der Sex war noch intensiver als beim ersten Mal und absolut die wenigen Stunden Schlaf wert, die ich dadurch bekommen habe.
»Ich habe um halb zehn einen Termin.«
»An einem Sonntag?« Ich kann sein Stirnrunzeln praktisch an meinem Hals spüren.
»Leider ja.« Ich drehe mich so, dass ich ihn ansehen kann.
Sein dunkles Haar ist zerzaust, sein Gesicht noch schläfrig, und seine Lippen sind herrlich geschwollen, wahrscheinlich vom vielen Küssen. Sein Blick wandert über mein Gesicht, heiß und suchend, und er streicht mir eine verirrte Locke aus der Stirn. Sie springt sofort wieder an ihren Platz. Mein Haar muss ein schreckliches Wollknäuel sein.
»Wird es ein langes Treffen?« Er fährt sich mit der Zunge über die Oberlippe.
»Ich bin mir nicht sicher.« Manchmal sind diese Meetings kurz, manchmal dauern sie stundenlang. Eines scheinen die Menschen auf dem anderen Ufer des Sees zu haben: Jede Menge Zeit. Entscheidungen über Dinge wie Farben und Arbeitsplatten können mit langen Diskussionen darüber enden, welche Materialien am besten zueinander passen. Und wenn man eine halbe Million Dollar für eine Renovierung ausgibt, kann ich verstehen, warum das keine Entscheidungen sind, die man in fünf Minuten trifft.
»Hmm.« Van neigt den Kopf. »Möchtest du heute Abend mit mir essen gehen?«
»Du meinst, hier?«
»Oder wir können irgendwo hingehen. Es liegt ganz bei dir.«
»Wie ein Date?« Die Worte sind heraus, bevor ich sie zu Ende denken kann. Und ich möchte sie sofort wieder in mich hineinstopfen und herunterschlucken.
Aber ein kleines Lächeln umspielt seine Mundwinkel, bis seine Augen vor Heiterkeit funkeln. »Ja, wie ein Date.«
Ich weiß nicht, warum ich so schockiert bin. Nach all den Enthüllungen gestern Abend hätte ich mit so etwas rechnen sollen. »Ähm, sicher, okay. Ja. Aber es gibt nicht viele Restaurants hier, und wenn wir zusammen ausgehen, werden die Leute reden.«
»Ich habe kein Problem damit, wenn es für dich ebenfalls in Ordnung ist. Ich verspreche, dass ich nicht auf übermäßige Liebesbekundungen in der Öffentlichkeit stehe.«
»Was hältst du denn für übertrieben?«
»Sich einen Teller Nudeln teilen wie Susi und Strolch, unterm Tisch Händchen halten, Quickies in öffentlichen Toiletten – du weißt schon, übertriebenes Zeug eben.« Ich bin mir nicht sicher, ob ich lachen soll, bis ein breites Lächeln über sein Gesicht huscht. »Entspann dich, Dillion. Ich werde nichts davon ausprobieren, schon gar nicht bei einem ersten Date.«
Ich stupse gegen seine Brust. »Oh mein Gott, du bist unmöglich.«
»Gestern Abend schien es, als ob du nicht genug von mir bekommen könntest.«
Ich versuche, mich aus seinen Armen zu befreien, aber er dreht uns beide um, sodass er auf mir liegt. »Sechs Uhr. Keine unverhohlenen Zuneigungsbekundungen. Ich werde nicht einmal versuchen, deine Hand zu halten. Ich werde immer einen halben Meter Abstand zwischen uns lassen. Es sei denn, wir sehen Tucker the Fucker. Dann muss ich das alles noch mal neu überdenken.«
Ich verdrehe die Augen.
»Ich werte das als ein Ja auf. Ich kann es kaum erwarten, dich später an einem öffentlichen Ort nicht anzufassen.« Er lässt sich neben mich fallen, verschränkt die Hände hinterm Kopf und grinst wie ein Verrückter.
»Ich wette, du hältst es nicht länger als zwanzig Minuten aus, bevor du mich anfasst.«
»Das klingt nach einer Mutprobe.« Er zwinkert mir zu. »Vorsicht, Dillion. Ich bin ein Fan von Herausforderungen.«
Ich verlasse Bees Cottage mit federndem Schritt und einem Lächeln auf dem Gesicht; obwohl ich nicht viel geschlafen habe, kann mich heute nichts aus der Ruhe bringen.
Zumindest nicht, bis ich meinen Wohnwagen betrete und feststelle, dass dort dank des Sturms von letzter Nacht ein riesiges Chaos herrscht. Ich habe die Fenster offen gelassen und war anscheinend zu beschäftigt, um daran zu denken, sie zu schließen, also sind meine Laken durchnässt, und ich wette, meine Matratze auch. Auf dem Boden sind mehrere Pfützen, und der Papierkram, den ich auf meinem Tisch durchgesehen habe, liegt verstreut auf dem Boden. Die Tinte ist auf den Seiten ausgelaufen. Ich kann von Glück reden, dass mein Laptop bei der Arbeit ist und nicht auf dem Tisch, wo ich ihn normalerweise stehen habe, denn dort gibt es eine sehr undichte Stelle, wie man an der flachen Pfütze sieht, in der ein paar tote Käfer und Tannennadeln schwimmen.
Der Regen hat aufgehört, aber der Schaden ist bereits angerichtet, und ich kann nichts anderes tun, als möglichst viel in die Waschmaschine zu werfen und alle Kissen zum Trocknen für den Tag in die Sonne zu legen. Ich habe keine Zeit, mich um den Rest des Durcheinanders zu kümmern, also tue ich, was ich kann, eile dann ins Haus und dusche schnell.
Ich bin dankbar, dass ich die meisten meiner Kleider im Haus aufbewahre, sonst hätte ich wahrscheinlich Probleme, etwas Sauberes und Trockenes zum Anziehen zu finden, das nicht nach altem, nassem Wohnwagen riecht. Mein Vater und ich verbringen die nächsten vier Stunden in einem riesigen, prächtigen 500-Quadratmeter-»Cottage«, das nicht nur eine, sondern drei Küchen hat: eine im Hauptgeschoss, eine im begehbaren Keller, der wie eine voll ausgestattete Wohnung funktioniert, und eine dritte Küche draußen.
Es ist erstaunlich und verschwenderisch und wahrscheinlich eines der schönsten Häuser, in denen ich je gewesen bin. Ich war noch nie in meinem Leben so neidisch auf eine Küche. Ich habe mit gebrauchten, renovierten Küchen gelebt oder mit solchen, die man bekommt, wenn man in einer kleinen Wohnung in der Stadt wohnt – winzig, funktional und nicht sehr aufregend. Jemandem bei der Auswahl von Schränken, Theken, Böden und Beleuchtung für eine Küche zu helfen, die buchstäblich meine persönliche Version des Himmels ist, ist also sowohl wunderbar als auch schmerzhaft.
Wunderbar, weil wir dadurch einen ganz neuen Kundenstamm gewinnen, der meinen Vater den ganzen Winter über mit Aufträgen versorgen wird; schmerzhaft, weil mein derzeitiger Küchenstatus aus einer winzigen Spüle, einer einzelnen Kochplatte und zwei kleinen Schränken besteht.
Als wir mit den Arbeiten am Haus der Bowmans begonnen haben, habe ich Schilder anfertigen lassen, die wir für alle neugierigen Bootsfahrer am Ende der Einfahrt und am Seeufer aufgestellt haben. Seit ich diesen Schritt unternommen habe, erhalten wir täglich mindestens zwei Anrufe von anderen interessierten Seebewohnern. Wir haben viel mehr Kunden hinzugewonnen als die zwei, die wir durch Billys Unfall verloren haben.
Wenn er genug Projekte für den Winter hat, muss mein Vater nicht mehr so viele Aufträge für das Schneeräumen annehmen. Diese Aufträge sind zwar lukrativ, aber auch gefährlich, denn die Winterstürme können hier besonders heftig sein, und dann passieren viele Autounfälle.
Wenn wir also die Schneeräumung auf Einfahrten und Unternehmen aus dem Ort beschränken, braucht mein Vater sich nicht mehr so oft in Gefahr zu begeben und wir haben weniger Verschleiß bei den Firmenfahrzeugen. Das ist ein Gewinn auf ganzer Linie.
Auf der Heimfahrt übernimmt mein Vater das Steuer, und wir kehren in der Imbissbude ein, um einen Happen zu essen und meine Mutter abzuholen, die sonntags manchmal die Frühschicht übernimmt. Eigentlich hat sie das nicht nötig – das Haus ist abbezahlt, und mein Vater kann es sich leicht leisten, ihren einfachen Lebensstil allein mit seinem Einkommen zu finanzieren –, aber sie liebt die Geselligkeit in der Imbissbude.
Vor ein paar Jahren hat sie versucht, ihre Arbeitszeit zu reduzieren, aber es hat ihr nicht gefallen, untätig herumzusitzen, und sie hat die Gespräche und die Menschen vermisst. Ich glaube, es gefällt ihr auch, dass sie die Möglichkeit hat, über die Geschehnisse in der Stadt auf dem Laufenden zu sein, und sie möchte nicht wieder die Buchhaltung für meinen Vater am Hals haben.
»Weißt du, wann Billy gestern Abend nach Hause gekommen ist?«, frage ich, als wir von der ordentlich asphaltierten Straße wieder auf den von Schlaglöchern übersäten Weg zurückkehren, der uns durch den Ort führen wird.
Dad klopft auf das Lenkrad. »Ich dachte, er wäre mit dir nach Hause gekommen.«
»Ich habe ihn aus den Augen verloren, als der Sturm aufgezogen ist.« Sorge und Schuldgefühle schnüren mir die Kehle zu und ich verkrampfe die Schultern.
»Nun, seine Tür war heute Morgen geschlossen, und er hat schmutzige Schuhabdrücke auf dem ganzen Küchenboden hinterlassen, also ist er so oder so gut nach Hause gekommen.« Er schenkt mir ein kleines, aber angespanntes Lächeln.
»Weißt du, was mit ihm los ist? Mir ist klar, dass er euch immer ein wenig Sorgen bereitet hat, aber er ist kein Teenager mehr und benimmt sich trotzdem immer noch wie einer.
»Du weißt, dass Jungs langsamer erwachsen werden.«
Ich nicke. »Sicher, das verstehe ich, und er und ich haben darüber gesprochen, wie schwer es für ihn ist, dass ich wieder zu Hause bin, aber ich weiß nicht … Ich mache mir Sorgen, dass mehr dahinterstecken könnte. Er hat so starke Stimmungsschwankungen. Gestern Abend hat er versucht, im Handstand aus dem Fass zu trinken.«
»Er wollte sicher nur seine Freunde beeindrucken.«
Ich sollte es besser wissen und von meinem Vater nicht das Eingeständnis erwarten, dass mehr Dinge falsch laufen, als ihm lieb ist. Es ist nicht so, dass er es nicht sieht. Er will nur nicht, dass Billy sich noch schlechter fühlt. Es ist nicht leicht, im Schatten eines Bruders oder einer Schwester zu leben. Und gewiss ist es schwierig, das Gleichgewicht zwischen Freude über die Glanzleistungen des einen Kindes und Akzeptanz der weniger herausragenden Leistungen des anderen Kindes zu finden.
»Wahrscheinlich«, stimme ich ihm zu.
Ich weiß, er will Billy nicht das Gefühl vermitteln, sein Weg sei weniger wertvoll als meiner, und da ich jetzt wieder zu Hause bin und mit Dad zusammenarbeite, ist das eine noch größere Herausforderung. Ich lasse das Thema erst einmal ruhen.
»Gibt es weitere Neuigkeiten den Gerichtstermin betreffend?« Ich habe Billy vor nicht allzu langer Zeit zu einem Treffen mit Bernie gebracht, aber ich habe noch nichts weiter gehört, und ich mache mir Sorgen, dass Billy versehentlich vergessen könnte, etwas zu sagen, und den Termin verpasst.
»Noch nicht. Aber hoffentlich bekommt er einen Termin nächsten Monat. Es wäre toll, wenn wir das hinter uns bringen könnten, damit deine Mutter eine Sorge weniger hat. Ich glaube, wir würden das alle gern vergessen.«
Wieder beiße ich mir auf die Zunge. Es geht um mehr als nur darum, den Vorfall aus dem Weg zu schaffen, aber ich will die Sache nicht unnötig dramatisieren.
Es ist früher Nachmittag, als wir nach Hause kommen, und ich muss mich noch um das Chaos in meinem Wohnwagen kümmern. Wenigstens scheint die Sonne, und nach den aktuellen Wetterberichten ist kein weiterer Sturm zu erwarten.
Die nächsten Stunden verbringe ich damit, aufzuräumen, aber es riecht muffig im Wohnwagen. Ich öffne die Fenster und hole alles heraus, fülle einen Eimer mit Wasser, füge Bleichmittel und Seife hinzu und mache mich daran, die Oberflächen zu schrubben. Als Nächstes markiere ich auch alle undichten Stellen und suche in der Garage meines Vaters nach den Materialien, die ich zum Flicken brauche.
Wahrscheinlich muss der gesamte Wohnwagen ausgetauscht werden, aber ich kann mich damit jetzt nicht beschäftigen – nicht, wenn ich nicht vorhabe, über Thanksgiving hinaus hier zu bleiben. Doch selbst während mir dieser Gedanke durch den Kopf geht, frage ich mich, ob das wirklich stimmt, denn so sehr ich Chicago auch liebe, merke ich doch langsam, dass ich mich hier wohlfühle. Vielleicht mehr als ich gedacht hätte.
Ich bin gerade dabei, eines der größeren Löcher zu flicken, als mein Telefon klingelt. Das Geräusch ist gedämpft und kommt wahrscheinlich aus meiner Handtasche. Ich lasse alles stehen und liegen, denn ich habe den ganzen Tag noch nichts von jemandem gehört.
Ich finde mein Telefon, bevor der Anruf auf die Mailbox geht. Ich habe mehr als vierzig Nachrichten verpasst.
»Hallo?«
»Warum ist es schon Essenszeit und wir wissen immer noch nicht, was gestern Abend passiert ist?«, blafft Tawny.
»Es sei denn, du bist noch mit Van-the-Man zusammen? Oh mein Gott, du bist außer Atem. Wir haben total gestört, oder?«, fragt Allie, was bedeutet, dass sie beide am Telefon sind.
Ich schaue auf die Uhr, weil ich befürchte, dass ich zu spät zu meinem Date komme, aber es ist erst fünf. In meiner Kindheit und Jugend hat Tawnys Familie immer um vier Uhr dreißig zu Abend gegessen, weil ihre Mutter nicht gern nach Einbruch der Dunkelheit aß. »Was? Nein. Ich wäre nicht ans Telefon gegangen, wenn ich Sex gehabt hätte. Und Van-the-Man ist ein schrecklicher Spitzname.«
»Nicht, wenn er der Mann ist .« Ich höre förmlich, wie sie mit den Augenbrauen wackelt. »Und? Was zum Teufel ist passiert? Die letzte Nachricht, die du geschickt hast, ist gestern Abend um zehn gekommen.«
»Am Ende haben wir Zuflucht vor dem Sturm gesucht und abgewartet, bis er zu Ende war.«
»Auf dem Rücksitz deines Trucks?«, fragt Allie, deren Stimme vor Aufregung vibriert.
»Ich würde nie Sex im Truck meines Vaters haben!«, rufe ich und schaue aus dem Fenster, um sicherzugehen, dass niemand in der Nähe ist, der mich hören könnte. »Ich bin nicht mehr in der Highschool. Sex auf dem Rücksitz ist nicht angesagt. Außerdem ist das verdammt unbequem.«
»Ihr habt also den Sturm abgewartet. Was dann?«
»Wir sind zu ihm nach Hause gegangen.«
»Um Himmels willen, Dee, müssen wir dir denn alles aus der Nase ziehen? Bist du mit dem Van-Express gefahren oder nicht?«
»Der Van-Express? Wo sind wir hier, auf der Highschool?« Das erinnert mich an die Zeit, als wir Dates hatten und den anderen dann alle Details erzählt haben – das Gute, das Schlechte, das Hässliche und das Enttäuschende. »Hör auf auszuweichen und beantworte die verdammte Frage«, fordert Allie. »Bin ich auf Lautsprecher?« Auf keinen Fall möchte ich jedem in der Stadt von den Sexkapaden der letzten Nacht erzählen.
»Ja, aber wir sind bei mir zu Hause. Drinnen«, versichert mir Tawny. »Niemand kann dich hören, außer mir und Allie … und meiner Katze Narbles, aber bei ihr ist dein Geheimnis sicher, denn sie kann sich nur durch hochfrequentes Jaulen verständigen.«
»Ich bin tatsächlich mit dem Van-Express gefahren. Mehr als einmal sogar.«
»Ja! Ich wusste es! Du schuldest mir zwanzig Mäuse!« Tawnys schrille Stimme zwingt mich, das Telefon von meinem Ohr wegzunehmen.
»Habt ihr gewettet?« Ich kichere.
»Als ob dich das überraschen würde. Ich dachte, du würdest es nicht bis zum Ende durchziehen. Offensichtlich hast du dich seit der Highschool verändert«, murmelt Allie und ist sichtlich verärgert, dass sie nicht gewonnen hat.
»Nennst du mich eine Schlampe?«
»Was? Nein! Nein, natürlich nicht. Ich sage nur, dass du Tucker ewig hast warten lassen, bevor du mit ihm aufs Ganze gegangen bist.«
»Er war beharrlich. Und er war es nicht wert, ihm meine Jungfräulichkeit zu schenken.«
»Aber der Sex mit Van war gut?« Tawny lenkt das Thema wieder auf Van, wahrscheinlich, weil ich früher immer schlechte Laune bekommen habe, wenn ich über Tucker sprechen musste, und daran hat sich nichts geändert.
»Unfassbar fabelhaft, um genau zu sein.«
»Heißt das, dass wir uns heute Abend treffen, damit du mir dann alle pikanten Details erzählen kannst?«
»Der Austausch von Details muss warten, ich esse heute mit Van zu Abend.«
»Ihr habt ein Date? Führt er dich aus? Geht ihr ins Pearl Tavern? Ich habe gehört, die haben ein tolles Steak, aber ein winziges Stück kostet sechzig Dollar. Ich meine, es ist in Speck eingewickelt, aber anscheinend haben sie nicht mal Barbecue-Sauce dort.«
Diesmal pruste ich förmlich los, als ich lache.
»Ernsthaft, Allie?« schimpft Tawny. »Jeder weiß, wenn das Steak wirklich gut ist, braucht man nicht einmal Barbecue-Sauce.«
»Nun, offensichtlich habe ich noch nie ein so gutes Steak gegessen, also entschuldige bitte, dass ich dazu gern Barbecue-Sauce mag. Wenigstens benutze ich keinen Ketchup!«
Ich höre ein Schlurfen in der Einfahrt, schaue aus dem Fenster und erkenne einen Schatten, aber wer auch immer es ist, er verschwindet hinter der Hauswand. Ich mache mir Sorgen, dass es einer von Billys Freunden sein könnte. Ich habe meinen Bruder seit gestern Abend nicht mehr gesehen und muss annehmen, dass er immer noch seinen Kater ausschläft. »Hey, kann ich euch zurückrufen? Ich glaube, es ist jemand hier.«
»Morgen Abend hast du Pläne mit Allie und mir – sieben Uhr, Drinks bei mir zu Hause.«
»Morgen um sieben. Verstanden.«
»Und es wird Details geben. Wir werden schlimmer sein als die Footballmannschaft nach einer Bierparty.«
Ich produziere einen Würgelaut. »Das hoffe ich nicht. Diese Typen waren nach ihren Saufgelagen nach dem Spiel immer total eklig. Wir sehen uns morgen.«
»Viel Spaß heute Abend!«
Ich beende den Anruf und lächle vor mich hin. Es ist schön, Tawny und Allie wieder in meinem Leben zu haben. Sie waren immer so gute Freundinnen. Sogar als ich mich entschieden habe, aufs College zu gehen, haben sie meine Entscheidung unterstützt.
Ich reiße die Tür zum Wohnwagen auf, um nach Billy zu sehen und mich auf meine Verabredung mit Van vorzubereiten, als ausgerechnet Tucker um die Hauswand taumelt. Ich fand ihn immer hinreißend. Das fanden alle. Er war ein typischer amerikanischer Footballspieler, der gute Noten hatte und das Zeug zum Abschlussballkönig, der auf ein College im Norden ging und ständig nach Hause kam, um vor seinen Freunden mit dem ganzen Spaß, den er hatte, zu prahlen, und trotzdem war er wieder hier gelandet. Und zwar bei einer Frau, die sich nicht entscheiden konnte, ob sie meine Freundin oder meine Feindin war.
Aber vielleicht trügt der Schein doch mehr, als ich zunächst dachte.
»Hey. Ich habe nach dir gesucht. Es hat niemand aufgemacht, und jetzt weiß ich auch warum.« Er steckt eine Hand in seine Hosentasche und geht zwei Schritte nach rechts, bevor er über eine Vertiefung im Gras stolpert.
Ich verschränke die Arme. »Was tust du hier, Tucker?«
Sein Blick gleitet über mich hinweg, und er lächelt. »Ich bin hergekommen, um dich zu sehen. Was sonst?«
»Bist du betrunken? Bist du mit dem Auto hierher gefahren?« Ich sehe hinter ihn und halte Ausschau nach einem Auto, aber da ist keins.
»Ich war mit meinem Freund Johnnie unterwegs.« Er zieht einen Flachmann aus der Tasche und schüttelt ihn hin und her. Nichts gluckert, was mir sagt, dass das Ding leer ist.
Ich seufze, genervt davon, dass er betrunken ist und offensichtlich hergekommen ist, um Unruhe zu stiften. »Warum willst du mich sehen, wenn du ein Baby und eine Freundin zu Hause hast?«
Er fährt sich mit der Hand durchs Haar. »Das Kind ist nicht von mir.«
»Was soll das bedeuten?«
Er schraubt die Flasche auf und versucht, einen Schluck zu nehmen, aber er stellt fest, was ich schon weiß: Es ist nichts mehr da. Er seufzt und schenkt mir ein schiefes Lächeln. »Ich schieße mit Platzpatronen.«
»Tut mir leid. Was?«
»Ich kann keine Kinder zeugen. Ich habe mich vor einer Weile testen lassen, nachdem Sue schwanger wurde, weil die Daten nicht übereinstimmten.«
»Solltest du mir das wirklich erzählen?«
Er zuckt mit den Schultern. »Du wirst es irgendwann ohnehin herausfinden. Jeder wird es herausfinden, denn Sue schläft mit Sterling. Und das schon seit einer ganzen Weile. Nach dem Alter unseres Kindes zu urteilen, seit mindestens einem Jahr.«
Genau das haben Tawny und Allie gestern Abend auf der Strandparty gesagt, aber manchmal sind Klatsch und Tratsch nur Fiktion und keine Tatsache. Das scheint hier nicht der Fall zu sein. »Herrje, Tucker, warum erzählst du mir das alles?« Ich will diese Art von Information gar nicht. Das ist einer der Gründe, warum ich hier wegwollte, als ich ein Teenager war. Ich bin glücklich in meiner eigenen kleinen Welt, in der Tucker und seine verkorksten Beziehungen keine Rolle spielen.
Er zieht eine Schulter hoch und lässt sie wieder fallen. »Ich habe es versaut, Darlin’. Mit dir, meine ich. Ich habe nicht erkannt, was ich hatte, bis ich es verloren habe.«
»Du hast mich ständig betrogen oder Auszeiten verlangt, wenn du mir deine Affären unter die Nase reiben wolltest, und dann bist du bei der verdammten Sue gelandet.«
»Ich weiß.« Er lässt den Kopf hängen. »Ich habe so viele Fehler gemacht. Ich dachte … ich weiß es nicht. Ich war wütend, dass du fortgehen wolltest.«
»Und du dachtest, Fremdgehen und Sex würden mir das irgendwie vermitteln?«
»Wenn du es gewusst hast, warum hast du nichts gesagt? Warum hast du mich nie darauf angesprochen?«
»Was hätte das geändert? Der Schaden war bereits angerichtet, Tucker. Ich sage das nicht, um dich zu verletzen, aber ich war bereits auf dem Sprung. Das mit uns war nichts für die Ewigkeit, aber wir waren durch all unsere Freunde zu sehr verbunden, um uns zu trennen, ohne dass es peinlich geworden wäre. Ich wollte mir nicht meinen letzten Sommer ruinieren. Hätte ich dich anrufen sollen? Wahrscheinlich schon. Aber ich kann die Uhr nicht zurückdrehen und die Dinge ändern.«
»Aber jetzt bist du hier.« Er wippt auf den Fersen zurück.
»Ich bin nicht deinetwegen zurückgekommen, Tucker. Ich bin wegen meiner Familie zurückgekommen.«
»Es heißt, dein Freund habe dich verlassen und jetzt würdest du dich mit deinem Nachbarn treffen.«
»Diese verdammte Stadt und ihre Gerüchteküche sind einfach lächerlich«, murmle ich. »Mein Ex-Freund und ich haben uns einvernehmlich getrennt, weil er für einen Job nach Connecticut ziehen wollte und ich kein Interesse hatte, ihm zu folgen.«
»Du bist also nur zurückgekommen, weil das mit Billy passiert ist?«
»Und weil mein Vater meine Hilfe braucht.«
»Wir haben also keine Chance, was?«
Ich atme frustriert aus, weiß aber auch, dass ich dieses Gespräch schon vor Jahren hätte führen sollen. »Es gab keine Chance mehr für uns, sobald du angefangen hast, mit Frauen zu schlafen, die nicht ich waren, als wir noch zusammen waren. Oder eine Auszeit zu verlangen, um dich vor meinen Augen mit anderen zu treffen.«
»Ich wollte nur, dass du bleibst.«
»Nichts für ungut, aber das war eine blöde Art, mir das zu zeigen.«
»Mein Ego ist mir damals in die Quere gekommen.«
»Weiß Sue, dass du es herausgefunden hast?«
Er zuckt mit den Schultern.
»Weiß Sterling es?«
»Ich glaube, er hält sich für oberschlau.« Er lässt den Kopf hängen. »Ich wollte, dass du zurückkommst und eifersüchtig bist, aber jetzt ist es genau andersherum, nicht wahr?«
Trotz der ganzen Scheiße, die er mir angetan hat, habe ich Mitleid mit ihm. Er mag mich damals verletzt haben, aber ich habe es ihm durchgehen lassen, was wahrscheinlich nicht gerade hilfreich war. Und dann bin ich verschwunden. Keiner von uns beiden hat jemals den Abschluss gefunden, den wir brauchten.
»Ich sollte wahrscheinlich nach Hause gehen, aber ich kann nicht.«
»Weil Sue sich darüber aufregen wird, dass du betrunken bist.«
»Nein, das wird sie nicht interessieren. Ich bin gerade am Haus vorbeigefahren und habe gesehen, dass Sterlings Abschleppwagen zwei Straßen weiter geparkt ist. Ich will nicht nach Hause kommen und ihn überall an ihr riechen.«
Ich seufze. Ich würde mich gern für mein Date fertig machen, aber gleichzeitig ist es wahrscheinlich nicht die beste Idee, Tucker in diesem Zustand nach Hause zu schicken.
»Komm doch für einen Moment rein? Der Wohnwagen ist nicht in bestem Zustand, aber ich kann dir etwas zu essen machen, damit du nüchtern wirst und dich wieder in den Griff kriegst, bevor du nach Hause fährst.«
»Warum bist du immer so gut zu allen, selbst wenn sie dich bescheißen?« Er stolpert ein paar Schritte vorwärts.
»Das ist eine persönliche Schwäche.« Ich fasse ihn am Ellbogen und führe ihn in den Wohnwagen. Er stößt sich fast den Kopf an der Tür, schafft es aber gerade noch rechtzeitig, sich zu ducken. »Magst du immer noch Erdnussbutter und Honig, oder sind deine Geschmacksnerven seit der Highschool gereift?«
»Ich mag immer noch Erdnussbutter und Honig. Hast du den Kleeblütenhonig da?«
»Gibt es noch eine andere Sorte?« Ich hole die Erdnussbutter, den Honig und das Brot heraus und lege sie auf die winzige Theke, während Tucker über die Bank rutscht und die Hände auf dem Tisch faltet.
Er sieht so gebrochen und mutlos aus, als habe das Leben ihn in die Knie gezwungen. Es macht mich traurig, Tucker so zu sehen. Er hat seinen Untergang selbst herbeigeführt, unfähig, den Teufelskreis zu durchbrechen, den er aufrechterhält. Er hat sich selbst zum Opfer gemacht.