25

OH, BRUDER

Dillion

»Was soll das heißen, er ist nicht in seinem Zimmer? Wo sollte er hingehen? Hat ihn einer seiner Freunde abgeholt? Hast du es auf seinem Handy versucht?« Ich genehmige mir gerade einen Drink mit Tawny und Allie, als mich meine Mutter anruft, weil sie meinen Bruder nicht finden kann.

»Er sagte, er wolle duschen, aber das war vor mehr als einer Stunde«, berichtet meine Mutter mit schwankender Stimme. »Ich dachte, er wollte sich vielleicht mit Freunden treffen, aber wir haben alle angerufen und niemand hat etwas von ihm gehört. Auf meine Anrufe reagiert er nicht. Vielleicht ist er mit jemandem unterwegs, auf den wir nicht gekommen sind.«

»Ich bin in zehn Minuten zu Hause.« Ich werfe einen Zwanziger auf den Tisch und greife nach meiner Handtasche. »Ich muss los, Billy ist verschwunden.«

Allie versucht, mir das Geld zurückzugeben. »Hat vielleicht einer der Jungs, mit denen er immer abhängt, ihn mitgenommen?«

Ich schüttle den Kopf zum einen wegen des Geldes und zum anderen wegen der Sache mit dem Freund. »Keiner der Jungs hat ihn gesehen. Er hat gesagt, er würde duschen gehen, und jetzt haben sie keine Ahnung, wo er geblieben ist.«

»Sollen wir uns irgendwo nach ihm umsehen?«, fragt Tawny.

»Vielleicht am Strand? Obwohl ich nicht weiß, wie er dort hinkommen soll, es sei denn, jemand hat ihm dabei geholfen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er mit einem verdammten Gips sehr weit kommt. Ich rufe euch an, wenn ich ihn finde.«

»Und wir rufen dich an, wenn wir etwas von jemandem hören.«

»Danke.« Ich stürme aus der Bar, springe in den Wagen und lege den Gang ein, noch bevor ich mich angeschnallt habe. Ich fahre schneller, als ich sollte, weil ich Angst habe, dass meinem Bruder etwas zugestoßen ist. Er ist schon seit Wochen zu Hause, und außer bei Bernie war er nur auf der Strandparty und in der Bar. Beide Male hat er sich bis zur Bewusstlosigkeit betrunken. Er hat sich überhaupt nicht mit irgendwelchen Freunden getroffen, wenn ich es mir recht überlege.

Mein Herz schlägt mir die ganze Fahrt über bis zum Hals, und als ich ankomme, haben sowohl meine Mutter als auch mein Vater ihre Telefone an den Ohren. Ich mache mich auf den Weg zu Billys Zimmer und muss fast würgen, als ich die Tür öffne. Es riecht nach Schweiß, Käse, Füßen und schalem Bier. Neben seinem Bett liegt ein schwarzer Müllsack, und wenn ich raten müsste, würde ich sagen, dass der Biergeruch ganz sicher aus diesem Sack kommt.

Ich greife nach einer Ecke seines Lakens und ziehe es von der Matratze. Darunter liegen ein ganzer Haufen Pornozeitschriften und benutzte Taschentücher, was eklig ist, aber noch beunruhigender sind die Bücher über Spionagetheorien. Billy war schon immer von Verschwörungstheorien fasziniert, aber in letzter Zeit ist seine Paranoia schlimmer denn je. Ich frage mich langsam, ob da mehr dahinter steckt als nur die Bücher, die er liest.

Ich durchsuche sein Zimmer und finde schließlich sein Handy, das zur Hälfte unter seinem Bett auf dem Boden liegt. Ich hebe es auf und schaue auf den Bildschirm. Er hat eine lächerliche Anzahl von verpassten Anrufen und Nachrichten, viele davon von den Freunden, die wir heute Abend anzurufen versucht haben.

Ich tippe viermal hintereinander die Ziffer eins ein und lächle kurz über seine Durchschaubarkeit, bevor ich die letzten Nachrichten lese. Je mehr ich sehe, umso größer wird meine Sorge, denn die Paranoia, die ich bemerkt habe, ist in seinen Nachrichten an seine Freunde voll ausgeprägt. Und die haben sich wirklich bemüht, während er nicht antwortete mit der Begründung, er könne keine Nachrichten schreiben, weil ihn alle beobachten würden.

Als es an der Haustür klopft, lasse ich das Telefon aufs Bett fallen und eile zurück ins Wohnzimmer. Ich mache mich auf das Schlimmste gefasst, nämlich dass der Sheriff kommt, um uns mitzuteilen, dass er im Gefängnis ist, oder, noch schlimmer, dass sie seine Leiche gefunden haben.

Ich öffne schnell die Tür und atme erleichtert auf, auch wenn es mich verwirrt, dass nicht der Sheriff vor der Tür steht, sondern Van und mein Bruder.

Billy hat die Schultern nach vorne gezogen, den Kopf gesenkt, und seine Zähne klappern. Es ist nicht besonders kalt, aber die Nächte sind in letzter Zeit kühler geworden, und die Wassertemperatur ist ebenfalls gesunken.

»Wo zum Teufel bist du gewesen? Wir haben uns große Sorgen gemacht! Und warum seid ihr beide nass?« Ich werfe Van einen vorwurfsvollen Blick zu.

»Billy war unten am See, um zu schwimmen.«

»Was in aller Welt ist in dich gefahren, im Dunkeln mit einem verdammten Gips schwimmen zu gehen? Der ist ja nicht mal wasserdicht! Du hättest ertrinken können! Mom!«, rufe ich über meine Schulter. »Hol mir ein paar Handtücher.« Ich ziehe meinen Bruder über die Schwelle. »Mensch, du bist ja eiskalt.«

»So kalt nun auch wieder nicht.« Seine Zähne schlagen aufeinander.

»Wirklich? Denn das Zähneklappern sagt etwas anderes.«

Mom erscheint mit einem einzigen Handtuch. »Oh!« Sie blickt zwischen Van und Billy hin und her. »Was ist passiert?« Sie eilt herbei und legt Billy das Handtuch um die Schultern.

Van ist von der Hüfte abwärts nass und außerdem barfuß. »Bist du hinter ihm hergesprungen?«

»Ja.« Er nickt knapp, und Gänsehaut überzieht seine Arme.

»Ich hole mehr Handtücher.« Ich lasse Van tropfend mitten in der Küche stehen und hole einen ganzen Stapel aus dem Wäscheschrank.

Mom läuft jetzt auf Hochtouren und rennt in die Wäschekammer, um frische, trockene Kleidung zu holen. Mir kommt der Gedanke, dass Van sich auch von zu Hause eigene Sachen holen könnte, aber er nimmt die Jogginghose und das T-Shirt dankend an und geht durch den Flur ins Bad.

Meine Eltern helfen Billy in ihr eigenes Badezimmer, da Van jetzt in dem ist, das mein Bruder normalerweise benutzen würde. Ich hoffe, dass es nicht total ekelhaft ist. Ich schnappe mir einen Stapel sauberer Kleider, die auf dem Trockner liegen, und folge ihnen in den Raum.

Billy murrt, dass es ihm gut gehe, aber mein Vater ignoriert ihn und nimmt die frische Kleidung entgegen. Nach dem Zustand seines Gipses zu urteilen, wird er einen neuen brauchen. Ich überlasse es meinen Eltern, sich um ihn zu kümmern wie um ein übellauniges, übergroßes Kleinkind, und gehe zurück in die Küche. Da ich irgendetwas mit meinen Händen tun muss, setze ich den Wasserkessel auf und nehme einen Topf aus dem Schrank, um heiße Schokolade zu machen. Van öffnet die Badezimmertür und kommt ins Wohnzimmer. Die Jogginghose gehört meinem Bruder. Sie ist viel zu lang, aber Vans Oberschenkel sind dicker und seine Taille ist nicht annähernd so schmal. Die Hose ist zu eng, und das Shirt ebenfalls. Er hat die Hände strategisch vor seinem Schritt verschränkt.

Ich würde es süß finden, wenn ich nicht so wütend auf ihn wäre.

»Kann ich dir einen Tee oder eine heiße Schokolade machen?« Ich will jetzt nicht nett zu ihm sein, aber wenn man bedenkt, dass er gerade meinen Bruder vor dem Ertrinken gerettet hat, fühle ich mich verpflichtet, ihm wenigstens ein warmes Getränk anzubieten.

»Eine heiße Schokolade wäre toll, danke. Wo ist Billy?« Van verschränkt die Arme vor der Brust, und es wirkt nicht wie eine abwehrende Geste. Vielmehr versucht er, wieder warm zu werden. Zumindest habe ich diesen Eindruck, denn er kämpft gegen einen weiteren Schauer.

»Meine Eltern holen ihm etwas Warmes zum Anziehen. Wenn dir noch kalt ist, findest du im Wohnzimmer Decken.« Ich deute auf die Couch auf der anderen Seite des offenen Raums. Die Küche, das Esszimmer und das Wohnzimmer sind ein einziger großer Raum. Ich sollte mich nicht für das Haus meiner Familie schämen. Es ist bescheiden und heimelig und ein Mischmasch aus gebraucht gekauften Dingen, aber es ist der Ort, an dem ich aufgewachsen bin und mit dem ich überwiegend gute Erinnerungen verknüpfe. Trotzdem ist es mir unangenehm, ihn hier zu haben, was lächerlich ist, wenn man bedenkt, dass ich derzeit in einem Wohnwagen hause und er jetzt der Besitzer von Bees Cottage ist, das wie das Haus eines Hamsters aussieht.

»Mir geht es gut. Ich war nicht sehr lange im Wasser. Es tut mir leid, was vorhin passiert ist und was ich gesagt habe. Ich habe nur … Ich habe dich mit meinem Bruder gesehen, und dann hat er angerufen und gesagt, er werde das Testament anfechten und du würdest ihm helfen, Bee für unzurechnungsfähig zu erklären. Das hat das Fass für mich einfach zum Überlaufen gebracht, und ich habe überreagiert.«

»Du hast ihm also einfach so geglaubt, statt mich zu fragen?« Ich stelle den Kessel auf den Herd und bin froh, dass ich meine Aufmerksamkeit auf etwas anderes als Van richten kann.

»Ich habe erwartet, dass du es mir sagen würdest, aber dann hast du so getan, als sei alles in Ordnung. Was hätte ich denn denken sollen?« Seine Stimme ist jetzt sanfter, ohne den anklagenden Unterton, der vorhin darin gelegen hat.

Ich schalte den Herd herunter und drehe mich zu Van um. Auch wenn es immer noch schmerzt, dass er sofort das Schlimmste angenommen hat, verstehe ich seinen Standpunkt. »Ich habe Bernie angerufen, sobald dein Bruder weg war, aber ich habe keine Antworten bekommen. Und ehrlich gesagt, sieh dir an, was gerade in diesem Haus passiert. Seit ich wieder hier bin, versuche ich meinen Eltern zu erklären, dass bei Billy mehr im Argen liegt, als sie wahrhaben wollen, und heute Abend wäre er fast ertrunken. Wahrscheinlich wäre er ohne dich auch tatsächlich ertrunken. Ich hatte Angst, du würdest nicht sehen, was ich gesehen habe, oder nicht glauben, dass dein Bruder so etwas tun könnte. Oder dass du es vielleicht nicht wahrhaben willst.« Meine Nasenspitze kribbelt, und ich kneife hinein, weil ich merke, dass ich kurz davor bin, in Tränen auszubrechen, was ich hasse. »Vielleicht hätte ich sofort etwas sagen sollen, aber ich konnte nicht vorhersehen, wie du reagieren würdest. Die Menschen wollen die Wahrheit nicht immer sehen, Van, selbst wenn sie sie direkt vor der Nase haben. Ich habe auch versucht, den Menschen in diesem Haus die Augen zu öffnen, und das ist anstrengend. Ich wollte dich beschützen, nicht verletzen.« Er macht einen Schritt auf mich zu. »Es tut mir so leid …«

Ich hebe die Hand, um ihn zu unterbrechen, denn ich habe noch mehr zu sagen. »Ich weiß, dass du versucht hast, dich zurückzuhalten, während wir dieses Gespräch geführt haben. Als hättest du gewusst, dass du an meine Grenzen gehst. Aber du hast mir eine unmögliche Frage gestellt, die ich nicht beantworten konnte.«

»Ich hätte dich nicht bitten sollen, dich zwischen deiner Familie und mir zu entscheiden. Das war nicht fair.«

»Nein, das war es nicht, aber ich verstehe, warum du es getan hast, und du hast ein Recht dazu. Die Antwort ist allerdings nicht eindeutig, und deshalb wollte ich zuerst mit Bernie sprechen. Ich wollte uns beiden Schmerz ersparen.«

Van seufzt und kommt einen Schritt auf mich zu. Er fährt mir mit einer Fingerspitze übers Kinn und nimmt dann meine Hände in seine. »Es tut mir leid, dass ich an dir gezweifelt habe, Dillion. Ich weiß, dass du viel um die Ohren hast, vielleicht mehr, als mir klar war, und ich hätte dich direkt darauf ansprechen sollen, aber ich war völlig durcheinander. Ich liebe Bees Cottage, aber meine größte Angst ist es, dich zu verlieren.« Sein Gesichtsausdruck ist eine Mischung aus Sorge und dem Wunsch, sich zu entschuldigen. So weh es in dem Moment auch getan hat, kann ich jetzt sehen, von wo aus alles schief gelaufen ist. »Ich kann dieses Mal ein Auge zudrücken, aber das nächste Mal rückst Du gleich mit der Sprache heraus und fragst mich einfach, und ich verspreche dir, wenn dein Bruder jemals wieder versucht, mich zu erpressen, werde ich es dir sofort erzählen.«

»Ich werde ihm in die Eier treten, wenn er dich auch nur schief ansieht.« Van greift nach meiner Hand und küsst meine Fingerknöchel. »Es tut mir so leid. Ich bin eine harte Nuss.«

»Als wäre ich das nicht auch.« Ich schaue mich im Haus um. »Und du bist niemand, mit dem ich nicht fertig werde.« Ich lege den Kopf in den Nacken und begegne seinem warmen Blick. Mir stockt der Atem.

Er senkt das Kinn, doch genau in dem Moment beginnt der Kessel zu pfeifen. Wir stoßen beide ein angespanntes Lachen aus. Van streift mit seinen Lippen meine Schläfe und tritt zurück, damit ich den Kessel durch den Topf für das Wasserbad ersetzen kann. Ich gebe die Milch in den zweiten Topf, und während sie erhitzt wird, füge ich die Schokolade hinzu und rühre weiter, bis sie schmilzt und die Milch eine schöne bräunliche Färbung annimmt. Van lehnt sich an die Theke und sieht mir zu. Ich gieße das dampfende Getränk in Becher und füge Marshmallows und einen Klecks Schlagsahne hinzu, bevor ich Van einen der Becher reiche.

Wir setzen uns nebeneinander an den Tisch und ich werfe einen Blick über die Schulter, um zu sehen, ob jemand in Hörweite ist, bevor ich meine Stimme senke und frage: »Kannst du mir erzählen, was passiert ist?«

Van zuckt mit den Schultern. »Ich weiß es nicht genau, aber ich bin runter zum Steg gegangen, um einen klaren Kopf zu bekommen. Billy ist aufgetaucht, hat sich einfach ausgezogen und ist reingesprungen. Ich habe ihn sprechen gehört, also dachte ich zuerst, er sei nicht allein, aber sobald ich merkte, dass er ein Selbstgespräch geführt hatte und im Wasser nicht zurechtkam, bin ich ihm zu Hilfe geeilt. Auf meine Frage, was er da mache, sagte er, er könne nicht im Haus duschen, weil es verwanzt sei und er beobachtet werde.«

»Verwanzt? Er hat noch nie Angst vor Ungeziefer gehabt.«

»Nein. Er hat nicht von Insekten gesprochen, sondern von der Art von Wanzen, wie das FBI sie im Fernsehen einsetzt.«

»Er glaubt also, die Polizei beobachtet ihn? Und warum? Weil er alkoholisiert Auto gefahren ist?«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht? Was er gesagt hat, hat nicht viel Sinn ergeben.«

Ich reibe mir den Nacken. »Es ist schlimmer, als ich dachte. Ich glaube, er hat noch mehr Probleme, als nur zu viele Schmerzmittel und zu viel Alkohol.«

»Glaubst du, er hat sich noch mehr Schwierigkeiten eingebracht? Drogen womöglich?«

»Nein. Nun, vielleicht nimmt er die Schmerzmittel und den Alkohol als Selbstmedikation, aber ich habe das Gefühl, dass es etwas Psychisches ist. Meine Großtante hatte immer mit Höhen und Tiefen zu kämpfen, ähnlich wie Billy. Aber ich glaube, die Menschen haben sie damals einfach als exzentrisch bezeichnet und die Sache mit einem Achselzucken abgetan. Nach den Geschichten, die ich gehört habe, war es viel mehr als das. Sie hatte mit Ängsten und Paranoia zu kämpfen. Sie redete ständig über Verschwörungen und war geradezu besessen davon. Ich weiß nicht, ob es erblich bedingt ist oder nicht, aber wenn es so ist, könnte Billy mit demselben Problem konfrontiert sein. Er war schon immer einer dieser Menschen, die hinter allem eine Verschwörung wittern. Ich mache mir Sorgen, dass er Hilfe braucht, und zwar nicht die Art Hilfe, die jemand von uns ihm geben kann.«

Van dreht die Hand mit der Innenseite nach oben und ich lege meine Hand in seine. »Es tut mir leid. Ich weiß nicht, was ich tun oder sagen kann, um es besser zu machen, aber ich bin hier, und ich werde helfen, wo ich kann.«

»Wenn du heute Abend nicht da gewesen wärst, wer weiß, was passiert wäre.« Meine Stimme bricht. Es besteht die sehr reale Möglichkeit, dass man Billy erst gefunden hätte, wenn es zu spät gewesen wäre, um ihm zu helfen.

Van legt einen Arm um mich. »Es ist okay. Es wird alles wieder gut. Zusammen werden wir das durchstehen.«

Als meine Mutter in die Küche zurückkehrt, kann ich ihre Verlegenheit förmlich spüren. Schon jetzt sind ihre Wangen rot. »Es tut mir so leid, Van. Der arme Billy hat eine schwere Zeit hinter sich, und ich glaube, er hat zu viel Bier getrunken. Ich bin so froh, dass Sie da unten waren, um ihm wieder auf die Beine zu helfen.«

»Ich bin auch froh darüber. Ich hätte es schrecklich gefunden, wenn ihm etwas Schlimmes zugestoßen wäre.« Van küsst mich auf die Schläfe und nutzt die Gelegenheit, sich zu entschuldigen, damit wir die Angelegenheit als Familie besprechen können. Ich muss dieses Gespräch mit meinen Eltern führen. Ich kann die Sache nicht länger unter den Teppich kehren und so tun, als sei alles in Ordnung.

Ich bringe Van zur Tür. Er zieht mich kurz an sich und flüstert: »Kommst du klar? Ich kann bleiben, wenn du willst.«

»Ich komme schon zurecht. Aber ich weiß dein Angebot zu schätzen.«

Er nickt und drückt seine Lippen kurz auf meine. »Es tut mir immer noch leid, wie ich mich vorhin verhalten habe. Ich werde auf dich warten, falls du mich später brauchst.« Als die Tür sich hinter ihm schließt, drehe ich mich wieder zu meiner Mutter um. »Billy hätte ertrinken können, wenn Van nicht da gewesen wäre, um ihm zu helfen.«

Sie ringt die Hände und lächelt steif. »Billy sagt, er sei vom Steg gefallen.«

»Das hat er vielleicht gesagt, aber so ist es nicht gewesen.« Ich erzähle ihr Vans Version der Ereignisse.

Mama lässt sich auf einen Stuhl sinken und legt die Finger an die Lippen. »Oh, das klingt wirklich nicht gut.«

Ich fülle eine Tasse mit heißer Schokolade und stelle sie vor sie hin, dann setze ich mich ihr gegenüber an den Tisch. »Das tut es wirklich nicht. Er braucht Hilfe, Mom. Hinter der Sache steckt mehr, als uns allen klar ist.«

»Er hat morgen einen Arzttermin, um sein Fußgelenk untersuchen zu lassen.«

»Er muss nicht nur wegen seines Knochenbruchs zum Arzt«, erwidere ich sanft.

»Dillion hat recht«, sagt Dad von der Wohnzimmertür aus. »Billy braucht Hilfe.«

* * *

Am nächsten Morgen bringen wir Billy ins Krankenhaus und lassen nach dem unplanmäßigen Bad im See sein Fußgelenk untersuchen. Sein Gips ist ziemlich ramponiert und muss auf jeden Fall erneuert werden, da er an einigen Stellen gerissen ist. Außerdem muss Billy geröntgt werden, um festzustellen, ob er weitere Verletzungen erlitten hat.

Es ist fast eine Erleichterung, als er der Ärztin gegenüber ausflippt, herumschimpft und meinen Eltern endlich den Schmerz und die Paranoia offenbart, die sie nicht sehen können. Er ist sich sicher, dass alles gelogen ist und dass die Ärzte in der ganzen Sache mit drinstecken und seinen Gips verwanzen werden, um ihn dann überall verfolgen zu können. Am Ende ist er so außer sich, dass sie ihn ruhigstellen müssen.

Es tut weh, das mit anzusehen, und meine Mutter ist todunglücklich, Tränen laufen ihr über die Wangen, die sie mit einem Taschentuch abtupft, während mein Vater ihr einen Arm um die Schultern legt. Ich kämpfe gegen meine eigenen Tränen an und versuche, stark zu bleiben, aber es ist schwer. Es ist unvorstellbar für mich, wie meine Eltern sich dabei fühlen müssen. Ich habe das hier schon lange kommen sehen, und ich fühle mich schuldig, weil ich dachte, Billy sei einfach nur verantwortungslos, obwohl in seinem Kopf so viel mehr passiert ist. Noch schlimmer ist, dass er das Gefühl hatte, sich keinem von uns anvertrauen zu können. Niemand sollte jemals so einsam sein.

Aber jetzt ist er hier, und so schwer es auch ist, ihn bei diesem Zusammenbruch zu beobachten, weiß ich doch, dass wir das Richtige tun, auch wenn es schmerzt. Ich möchte nicht, dass er noch mehr leidet, als er es schon getan hat, und psychische Gebrechen sind nichts, worauf man einfach ein Pflaster klebt. In einer Kleinstadt ist so etwas noch schwieriger, weil jeder über alles Bescheid weiß.

Die Ärztin geht mit uns in ihr Büro und bringt auch eine Krankenhauspsychologin mit. Dr. Saleh ist neu hier, aber sie hat eine sanfte Art, die einen sofort beruhigt. Ihr warmes Lächeln und ihr freundliches Auftreten sind genau das, was meine Eltern und ich jetzt brauchen. Und die Gewissheit, dass wir die richtige Entscheidung getroffen haben. »Mit Billys Einverständnis halten wir es für das Beste, ihn einzuweisen, damit wir eine vollständige psychiatrische Beurteilung vornehmen können. Es besteht eine gewisse Möglichkeit, dass er negativ auf die Medikamente reagiert, aber nach dem, was Sie berichten, könnte auch mehr dahinter stecken.«

Mom kaut an ihren Fingernägeln, und Dad ist ganz offensichtlich am Boden zerstört.

»Denkt ihr, er wird einverstanden sein? Wie lange müsste er denn im Krankenhaus bleiben?« fragt Mom.

»Vielleicht nur ein paar Tage, aber es könnte auch Wochen dauern. Das hängt davon ab, wie Billy auf die Behandlung anspricht. Meine Sorge ist, dass es umso schlimmer wird, je länger wir es hinauszögern.«

Meine Mutter wendet sich an meinen Vater. »Was immer er braucht, nicht wahr?«

Er drückt ihre Hand und schenkt ihr ein sanftes Lächeln. »Wir müssen tun, was das Beste für ihn ist.«

Sie drehen sich beide zu mir um, und mein Vater fragt: »Hältst du das für eine gute Idee?«

Mir bricht das Herz für die beiden. Sie waren immer so tolle Eltern, aber dies ist etwas, die sie nicht wahrhaben wollten. Oder es hat ihnen einfach zu große Angst gemacht. Also tue ich das Einzige, was ich tun kann, denn ich weiß, dass meine Eltern beide wie gelähmt sind und diese Entscheidung nicht allein treffen können. »Das ist das Beste, was wir für Billy und für unsere Familie tun können. Lasst die Ärzte ihm helfen.«

* * *

Es ist schon später Nachmittag, als wir nach Hause kommen. Meine Eltern sind erschöpft, und ich versichere Mom immer wieder, dass dies das Beste sei, was wir für Billy tun können. Ich hoffe, ich behalte Recht.

In dem Moment, in dem ich den Wohnwagen betrete, höre ich Van durchs Gebüsch stapfen. Ich empfange ihn an der Tür. Gestern Abend bin ich nicht mehr zu ihm gegangen, weil das Gespräch mit meinen Eltern bis in die frühen Morgenstunden gedauert hat.

Er trägt eine dunkelblaue Jogginghose, die schon bessere Tage gesehen hat, und dazu ein altes T-Shirt, aber er sieht trotzdem fantastisch aus. »Hey.« Ich gehe auf ihn zu, und er umarmt mich innig.

»Hey, du.« Er erlaubt mir, mich für einige lange, beruhigende Sekunden an ihn zu drücken, bevor er mich auf die Wange küsst und einen Schritt zurücktritt. »Wie geht es Billy? Wie geht es dir? Ich habe den ganzen Tag an dich gedacht.«

»Es geht ihm gut. Oder jedenfalls wird es ihm bald wieder gut gehen, hoffe ich.«

»Das freut mich. Willst du überhaupt darüber reden? Vielleicht willst du ja mit zu mir kommen? Ich kann wiedergutmachen, dass ich mich gestern wie ein Idiot benommen habe.«

Ich schenke ihm ein kleines Lächeln. »Ja, sicher, das klingt gut. Darf ich schnell ein paar Sachen holen?«

»Natürlich.« Van wartet an der Tür, während ich einen Schlafanzug und eine Zahnbürste in eine Reisetasche stopfe. Sobald ich alles zusammen habe, schultere ich die Tasche, schließe die Tür meines Wohnwagens und folge Van zu seinem Cottage. Mir wird bewusst, dass ich es inzwischen nicht mehr als Bees Cottage betrachte, sondern als seines.

Sobald wir den schmalen Pfad hinter uns haben, fädelt Van seine Finger zwischen meine. »Geht es dir gut?«

Mir wird bewusst, dass ich diese Frage vorhin nicht beantwortet habe, weil ich zu sehr auf Billy und das, was er gerade durchmacht, fixiert war. »Ich denke, ja. Ich wusste schon länger, dass mit Billy etwas nicht in Ordnung ist, aber als ich ihn heute beim Arzt habe zusammenbrechen sehen, ist mir erst klar geworden, wie schwer diese ganze Sache für ihn ist. Er hatte schon immer Höhen und Tiefen, aber das hier ist schlimmer. Ich finde es schrecklich, dass er das alles ganz allein durchmachen musste.« Als wir das Cottage betreten, erzähle ich ihm von dem Vorfall im Krankenhaus und dass die Ärzte Billy stationär aufgenommen haben.

»Wie haben deine Eltern das verkraftet?« Er nimmt meine Tasche, stellt sie auf den Küchentisch und zieht mich zu der Couch, auf der ich schon eine Million Mal gesessen habe. Es fühlt sich jetzt anders an als früher, hier zu sein. Zu Bees Zeiten war das Cottage immer ein Zufluchtsort, aber jetzt ist es so viel mehr als das.

»Besser, als ich erwartet hätte. Ich dachte, meine Mutter würde sich gegen den Vorschlag der Ärzte wehren, da meine Eltern die Dinge immer verdrängt haben, aber sie wussten einfach nicht, was sie tun sollten. Niemand will, dass sein Kind das durchmacht, was Billy gerade durchmacht. Die beiden fühlen sich schuldig, als trügen sie irgendwie die Verantwortung dafür, dass er so ist, wie er ist, und vermutlich ist Billys Problem genetisch bedingt, aber niemand hat die Kontrolle über so etwas. Sie brauchten einfach jemanden, der ihnen sagt, es sei eine gute Idee und unvermeidlich. Nur so konnten sie mit der Entscheidung leben. Und die Person, die diese Entscheidung trifft, musste ich sein.«

»Und wie geht es dir damit?« Van streicht mir das Haar aus dem Gesicht und fährt mit dem Daumen über meinen Nacken. »Dass du diejenige bist, die diese Entscheidung getroffen hat?«

»Diese Sache betrifft uns alle, das macht es definitiv leichter. Ich habe nicht das Gefühl, dass die Entscheidung allein auf meinen Schultern lastet. Wir haben sie als Familie getroffen. Und ich weiß, dass Billy jetzt vielleicht verärgert ist, aber ich hoffe, dass er mit der Zeit und durch die Behandlung erkennen wird, dass wir es getan haben, weil er uns am Herzen liegt.« Ich lehne mich an ihn und lasse diese Worte für einen Moment im Raum stehen. »So ist es in meiner Familie immer gewesen. Wir sind füreinander da.«

»Das ist gut. Ich bin froh, dass du so eine Familie hast.« In seinem Tonfall schwingt Wehmut mit.

»Ich auch. Ich weiß nicht, ob ich diese Entscheidung allein hätte treffen können. Es war so schwer, meinen Bruder im Krankenhaus zurückzulassen; ich wollte ihn einfach nur in Liebe einhüllen und ihn beschützen, aber ich wusste, dass ich das nicht für ihn tun konnte. Es war eine große Hilfe, meine Eltern als Unterstützung zu haben.« Ich drücke seine Hand, wohl wissend, dass unsere familiären Hintergründe sehr unterschiedlich sind. »Das mit deinem Bruder tut mir leid«, füge ich hinzu. »Ich kann nur ahnen, wie du dich fühlst oder wie schwer das für dich sein muss. In einer Familie sollte sich einer um den anderen kümmern.« Ich recke das Kinn hoch, während er seines senkt.

Unsere Blicke treffen sich, und etwas verändert sich in der Luft um uns herum. Eine neue Art von Spannung wird entfacht und knistert zwischen uns. Eine Verbindung, die vorher nicht da war und die jetzt plötzlich sehr intensiv ist.

»Ich könnte das für dich sein«, flüstere ich. »Die Person, auf die du bauen kannst, von der du weißt, dass sie dich nicht im Stich lassen wird.«

»Das bist du bereits, Dillion.« Er umfasst mit einer Hand meine Wange und drückt seine Lippen auf meine. »Du bist das Beste an jedem meiner Tage und die Person, auf die ich mich am meisten freue. Ich kann mich glücklich schätzen, dich in meinem Leben zu haben.«

Als er mich diesmal küsst, ist es ein sanfter, langer Kuss, der mich mit Wärme durchströmt und heißes Verlangen in mir weckt. Sein Kuss wird immer leidenschaftlicher, und als klar ist, dass er zu mehr führen wird, bringt er mich in sein Schlafzimmer. Wir ziehen einander gemächlich aus und schenken dabei den empfindsamsten Stellen des anderen besondere Aufmerksamkeit, bis wir beide keuchen und es nicht länger ertragen können.

Er lässt sich zwischen meinen Schenkeln nieder und dringt langsam in mich ein. »Ich liebe das«, stöhnt er dicht an meinen Lippen. Dann stützt er sich auf einen Arm und sieht mich weich und verletzlich an. »Ich liebe dich.«

Mein Herz zieht sich zusammen, für einen Moment stockt mir der Atem, bevor ich murmle: »Ich liebe dich auch.«

Ich schlinge ihm die Beine um die Taille, und wir bewegen uns gemeinsam. Eine träge Flutwelle erfasst uns, bis uns Glückseligkeit umspült.