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UND AB DIE POST

Van

Die folgenden Tage und Wochen sind für Dillion hektisch und stressig. Sie macht sich nicht nur Sorgen um ihren eigenen Bruder, der im Krankenhaus wegen einer psychischen Erkrankung behandelt wird, sondern auch wegen meines Bruders, dessen Drohungen über uns schweben. Wir sind beide sehr angespannt deswegen.

Während sich Bernie und ich gegen die Anfechtung des Testaments durch meinen Bruder wehren und mein Vater versucht, ihn zur Vernunft zu bringen – was sich als vergeblich erweist –, versucht Teagan, sich in sein E-Mail-Konto zu hacken und zu sehen, ob sie auf diese Weise nicht an Informationen herankommen kann. Sie hat allerdings in ihrem Leben nicht viel Zeit mit dem Hacken von Computern verbracht, sodass es nicht unbedingt die effektivste Spionageaktion ist, die man sich vorstellen kann.

Ich tue mein Bestes, um für Dillion da zu sein, denn ich weiß, dass sie dazu neigt, alles allein bewältigen zu wollen. Aber ich möchte ihr eine Schulter zum Anlehnen bieten, so wie sie es für mich getan hat.

Drei Wochen nach Billys Einlieferung ins Krankenhaus wird eine offizielle Diagnose gestellt. Er leidet an einer bipolaren Störung, und die Halluzinationen waren eine Folge der Kombination aus Medikamenten, Alkohol und Schlafmangel. Der Entzug war nicht leicht für ihn, aber nachdem der Alkohol aus dem Spiel war und sie ihm Medikamente verabreicht hatten, die in den kommenden Wochen genau überwacht werden müssen, haben sie zugestimmt, ihn zu entlassen und ambulant weiter zu behandeln. Er muss mehrmals pro Woche an Therapiesitzungen teilnehmen, aber er kann in seinem eigenen Bett schlafen. Und er freut sich schon darauf, etwas anderes als Krankenhauskost zu essen.

Dillion sitzt im Schneidersitz auf der Couch und drückt sich eines der bestickten Kissen von Grammy Bee an die Brust. »Ich finde, wir sollten eine kleine Party für ihn schmeißen. Nichts Großes, nur eine Art ›Willkommen zu Hause‹ und ›Wir lieben dich‹. Die letzten Wochen waren schwer für ihn, und er hat hart gearbeitet, um nach Hause kommen zu können. Er soll wissen, dass wir hinter ihm stehen und stolz auf ihn sind, verstehst du?«

»Ich denke, das ist eine tolle Idee. Soll es eine reine Familienangelegenheit werden?«

»Einige enge Freunde sollten ebenfalls dabei sein. Aaron war jeden Tag im Krankenhaus, seit Billy Besuch haben durfte, also sollte er auch unbedingt kommen. Und du musst natürlich dabei sein, weil du ihn unten am See gefunden hast.«

Seit seiner Einlieferung ins Krankenhaus habe ich Billy ein paar Mal besucht. Zuerst bin ich mit Dillion hingegangen, aber nach einer Weile habe ich ihn dann auch allein besucht. Wir reden über handwerkliche Arbeiten und spielen auf dem Platz draußen Basketball. Er besiegt mich jedes Mal. Allerdings ist er auch etwa zehn Zentimeter größer ist als ich.

»Ich komme gern. Auf jeden Fall. Sag mir einfach, wie ich helfen kann, und ich werde es tun.«

»Ich werde ein paar Anrufe tätigen, und dann kannst du mir helfen, einen Kuchen zu backen!« Sie springt von der Couch auf und nimmt ihr Telefon vom Beistelltisch. Zuerst ruft sie ihre Eltern an, die mit der Willkommensparty einverstanden sind; dann ruft sie Aaron und ein paar von Billys anderen Freunden an, die ihm in den letzten Wochen beigestanden haben.

Nachdem die Anrufe erledigt sind und das Essen bestellt ist, holt sie Bees Küchenrührgerät aus den Neunzigern hervor, und wir backen zusammen einen Kuchen mit Glasur. Drei Stunden später und nachdem ich viele Male einen Finger in die Buttercreme-Glasur getaucht und mit einem Teigschaber einen Klaps auf den Handrücken bekommen habe, ist unsere WILLKOMMEN-DAHEIM-Torte fertig.

Dillion stemmt die Hände in die Hüften und runzelt die Stirn. »Das Ding sieht aus, als hätten es ein paar Vorschulkinder dekoriert.«

Ich küsse sie auf die Schläfe. »Aber die Glasur und der Kuchen schmecken köstlich, und das ist viel wichtiger. Außerdem bedeutet es mehr, weil die Torte selbst gemacht ist. Er wird begeistert sein.«

Zwanzig Minuten später erhält sie den Anruf, dass ihre Eltern Billy abholen und dass die ersten Gäste auf dem Weg zu ihrem Haus sind. Wir bringen die Torte dorthin und treffen in der Einfahrt auf Aaron, der bereits mit einer Flasche Traubensaft mit Schleife und einer Platte mit Fleisch und Käse wartet.

»Hey.« Er grinst verlegen. »Ich dachte, ihr könnt vielleicht Hilfe bei der Vorbereitung gebrauchen.«

»Auf jeden Fall! Vielen Dank, dass du gekommen bist und uns helfen willst.«

»Immer gern, Dee. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich mich so zurückgezogen habe. Ich hätte merken müssen, dass mehr dahintersteckt.«

»Wir alle haben die Zeichen lange Zeit übersehen, aber jetzt ist er auf dem richtigen Weg, und wir sind hier, um ihm zu helfen, auf Kurs zu bleiben. Nur das zählt.« Dillion umarmt ihn. »Ich gehe schnell rein und hole die Sachen für den Picknicktisch, damit wir alles herrichten können, bevor meine Eltern nach Hause kommen. Meine Mom hat versprochen, eine Nachricht zu schicken, bevor sie vom Krankenhaus losfahren.«

Sie tänzelt die Stufen zur Veranda hinauf und verschwindet im Haus.

»Hey, Mann, wie sieht’s aus bei dir?« Aaron steckt einen Daumen in seine Hosentasche und wippt auf seinen Fersen.

»Gut. Und selbst?« Ich mag Aaron, und wenn wir über Renovierungsarbeiten reden, fließt das Gespräch, aber manchmal fällt es mir schwer, ihn zu durchschauen.

»Ja. Mir geht es auch gut.« Er wirft einen Blick auf den Kuchen. »Hat Dillion den gemacht?«

»Das hat sie. Eigentlich haben wir ihn zusammen gebacken.«

Er grinst. »Aber sie hat den Kuchen dekoriert, oder?«

»Ich finde, sie hat ihre Sache großartig gemacht, wenn man bedenkt, dass sie kein Profi ist.«

»Oh ja. Sie backt jedes Jahr den gleichen Kuchen für Billy zu seinem Geburtstag. Funfetti, nicht wahr? Mit all den kleinen, bunten Streuseln drin?«

»Ja, stimmt. Ihr beide seid doch zusammen aufgewachsen, oder?«

»Ja. Sie ist wie eine Schwester für mich, und sie sieht in mir so etwas wie einen Bruder.«

»Ich habe nicht … das war nicht … Ich wollte nicht andeuten …«

Aaron hält seine Hand hoch. »Du musst dich nicht rechtfertigen, Mann. Ich habe es verstanden. Ich sehe sie vielleicht als meine Schwester an, aber ich bin nicht blind. Ich weiß, dass sie wunderschön ist und ein Herz hat, das größer ist als Pearl Lake. Wenn sie liebt, gibt sie alles. Sei einfach gut zu ihr, mehr verlange ich nicht.«

»Das ist meine Absicht.«

»Dachte ich mir.« Er deutet mit dem Zeigefinger auf Grammy Bees Cottage. »Wie läuft’s mit den Renovierungsplänen? Willst du immer noch, dass ich mir die Garage ansehe?«

»Das wäre großartig. Ich habe schon ein paar Pläne anfertigen lassen, aber es wäre toll, wenn jemand, der sich mit Bauvorschriften und Sanitär- und Elektroinstallationen auskennt, einen Blick darauf werfen könnte, bevor ich der Gemeinde das Ganze zur Genehmigung vorlege. Es hat keinen Sinn, sich all die Mühe zu machen, nur um dann festzustellen, dass mein Cottage nicht an die vorhandene Kläranlage angeschlossen werden kann, verstehst du?«

»Aber sicher. Soll ich nach der Party mal einen Blick darauf werfen?«

»Wenn du Zeit hast, wäre das perfekt.«

Dillion kehrt zurück, beladen mit allen möglichen Dingen für die Party.

»Babe, warum hast du nichts gesagt?« Ich eile hinüber, um ihr einige der Sachen abzunehmen.

»Ich komme schon klar.«

Ich schnappe mir eine Packung Pappteller und eine Schachtel mit Plastikbesteck, bevor alles auf den Boden fällt. »Wirklich?«

»Du hast mich abgelenkt, als du auf mich zugelaufen bist.«

Ich sage nichts weiter, sondern schiebe nur die Torte aus dem Weg, und Aaron und ich helfen ihr beim Aufbauen. Es gibt Punsch und eine Reihe von alkoholfreien Getränken. Schüsseln mit Chips, Tabletts mit Gemüse und Obst, und in der Mitte von allem den Kuchen.

Wir haben genug Zeit, um ein paar Luftballons aufzublasen und sie an die Hauswand und den Picknicktisch zu kleben, bevor Tawny und Allie auftauchen, zusammen mit einigen von Billys zuverlässigeren Highschool-Freunden.

Ein paar Minuten später biegen ihre Eltern in die Einfahrt ein. Ihr Vater springt aus dem Wagen, und sobald das Fahrzeug steht, öffnet er die hintere Tür, greift sich Billys Krücken und hilft ihm aus dem Wagen.

In den letzten Wochen hat er dringend benötigte Kilos zugelegt, sein Gesicht wirkt fülliger, und die dunklen Ringe unter seinen Augen sind verschwunden. Er trägt jetzt keinen Gips mehr, nimmt aber das Angebot seines Vaters an, ihm eine Krücke zu geben, damit er die Einfahrt ohne Schwierigkeiten überqueren kann.

»Was zum Teufel ist hier los?«, fragt er und läuft rot an.

»Willkommen zu Hause«, rufen wir alle einstimmig, und Aaron fängt an zu klatschen, woraufhin wir alle mitmachen.

»Mann, wenn das die Art Party ist, die ihr für mich schmeißt, weil ich im Krankenhaus gelandet bin, sollte ich mir überlegen, ob ich nicht aufs College gehe oder so. Ich habe das Gefühl, dass es sogar eine Live-Band geben würde, wenn ich es schaffe, meinen Abschluss zu machen.« Er wirkt verlegen, aber auch aufrichtig glücklich.

Dillion stürmt auf ihn zu und sagt etwas. Billy lächelt sie an und zieht sie an sich. »Ich mache nur Spaß; das hier ist toll. Danke, dass ihr zu mir gehalten habt.«

Alle begrüßen ihn, umarmen ihn und flüstern ihm leise zu, wie froh sie sind, dass er wieder zu Hause ist, und dass sie für ihn da sein werden, egal was er braucht. Ich beobachte, wie sich seine Familie um ihn schart, und frage mich, wie anders die Dinge für unsere Familie gelaufen wären, wenn wir nach dem Verlust meiner Mutter zusammengehalten hätten, statt getrennte Wege zu gehen.

Es dauert nicht lange, bis Billy von der Geselligkeit und wahrscheinlich dem ganzen hinter ihm liegenden Tag erschöpft ist. Ich helfe Dillion beim Aufräumen, und während sie sich etwas Zeit für ihre Familie nimmt, folgt mir Aaron zu Bees Cottage, damit wir uns meine Pläne für die Garage ansehen können. Dann überlegen wir, was für die weitere Renovierung des Cottages noch nötig wäre.

»Ich glaube nicht, dass es schwierig wird, eine Genehmigung für Änderungen an den bestehenden Gebäuden zu bekommen. Das ist hier normalerweise nicht das Problem. Es geht eher darum, dass die Leute Dinge wie Eigentumswohnungen bauen wollen. Der See kann nicht noch mehr Bootsverkehr verkraften.«

»Dillion und ich haben uns darüber unterhalten. Ich habe mit dem Gemeinderat gesprochen und darum gebeten, den Strand auf dieser Seite des Sees zu säubern.«

Er stopft die Hände in seine Taschen. »Ja. Davon habe ich gehört. Ich will nur sichergehen, dass du dabei Bees Interessen wahrst.«

»Wie meinst du das?«

Er lehnt an der Seite des Lastwagens und dreht einen Schlüsselbund um seinen Zeigefinger. »Du bist ein Stadtmensch – du siehst eine Gelegenheit, hier aufzutauchen und etwas zu verändern, aber die Dinge haben immer zwei Seiten. Wir können den Strand in Ordnung bringen, aber jemand muss ihn instand halten, und das kostet alles Geld. Und wenn alles hübsch hergerichtet ist, schauen sich alle, die auf der anderen Seite des Sees Ferienhäuser haben, hier um und halten Ausschau nach weiteren Bauplätzen. Bee war es wichtig, den See und die Gemeinde zu erhalten. Ich hoffe, du willst das Gleiche, das ist alles.«

Ich habe keine Gelegenheit zu antworten, weil ein Auto die Einfahrt heraufkommt. »Was zum Teufel macht meine Schwester hier?«, murmle ich.

Sie parkt neben meinem BMW, der mit Blüten bedeckt ist, da ich die meiste Zeit mit Grammy Bees Truck fahre. Kaum hat sie den Wagen geparkt, springt sie auch schon heraus. »Du wirst nicht glauben, was ich heute gefunden habe!« Sie hüpft praktisch über die Einfahrt und kommt direkt auf mich zu, während sie mit ihrem Handy herumfuchtelt. Sie bleibt abrupt stehen, als sie Aaron am Truck lehnen sieht. »Oh! Hey. Hallo! Ich wusste nicht, dass du Besuch hast.«

Ihre Blicke fliegen zwischen Aaron und mir hin und her, dann wechselt sie den Kurs und geht direkt auf Aaron zu. Teagan war schon immer ein sehr geselliger Mensch mit einer starken Ausstrahlung. Sie streckt die Hand aus. »Hi. Ich bin Teagan Firestone. Ich bin die Schwester von Van. Sie müssen ein Freund meines Bruders sein.«

»Aaron Saunders. Ich habe mit Van über seine Renovierungsprojekte gesprochen. Ich arbeite mit Dillion und ihrem Vater zusammen.« Er verschlingt die Hand meiner Schwester mit seiner riesigen Pranke. Seine Hand ist übersät mit kleinen Kratzern, Schrammen und Narben. Teagan trägt purpurnen Nagellack mit einer Art Muster auf den Nägeln beider Ringfinger.

»Sie haben aber riesige Hände.«

Sobald er ihre Hand loslässt, ergreift sie sein Handgelenk und hält seinen Arm hoch, als wolle sie ihn zu einem High Five zwingen. Dann legt sie ihren Handballen an den seinen, drückt ihre Handfläche an seine und spreizt ihre Finger. Ihre Fingerspitzen erreichen nur seine ersten Knöchel.

Sie stößt einen Pfiff aus. »Das ist einfach … wow. Mit solchen Pranken sollten Sie Basketballspieler werden.« Ihr Blick fällt auf seine Füße, und dann betrachtet sie auch noch den Rest von ihm, von seinen abgewetzten Arbeitsstiefeln über seine zerrissenen, fleckigen Jeans bis hin zu seinem Gesicht.

Er zieht eine Augenbraue hoch. »Ich mag Football lieber.«

»Beim Football herrscht mehr Gewalt.«

Ich räuspere mich, weil ich nicht weiß, was da vor meiner Nase abgeht.

Teagan lässt die Hand sinken und tritt einen Schritt zurück.

»Ich sollte mich wohl auf den Heimweg machen«, murmelt Aaron und dreht seine Schlüssel um den Zeigefinger. »Schick mir einfach Ende nächster Woche eine Nachricht, dann können wir ein offizielles Treffen vereinbaren, um deine Pläne durchzugehen. Ich helfe dir, sie so zu präsentieren, dass es deswegen nicht zu einem Streit mit der Gemeinde kommen wird.«

»Toll, danke, Aaron. Ich weiß das zu schätzen.«

Er nickt meiner Schwester zu. »Schön, Sie kennengelernt zu haben, Teagan.«

»Ganz meinerseits.« Ihr Lächeln ist leicht irre.

Ich warte, bis er außer Hörweite ist, bevor ich frage: »Was zum Teufel war das denn gerade?«

»Ich weiß es nicht. Aber ich habe mich total blöd benommen. Nur gut, dass ich nicht hier wohne, sonst müsste ich in Zukunft aktiv versuchen, ihm aus dem Weg zu gehen. Gott, er ist so … heiß – auf Kleinstädterart.«

»Was soll denn das bedeuten?«

»Er hat offensichtlich nicht geduscht oder sich nach der Arbeit umgezogen, aber das macht ihn nur noch attraktiver. Warum ist er so sexy? Ich meine, er hat sich seit mindestens zwei Tagen nicht rasiert. Und die Achseln und so rasiert er sich wahrscheinlich überhaupt nicht. Ich frage mich, ob er irgendwelche Tattoos hat.« Sie tippt sich mit dem Zeigefinger auf die Unterlippe.

»Okay. Du kannst diese Gedanken für dich behalten.«

»Hm?« Sie wendet den Blick von dem sich langsam entfernenden Mann ab. Er ist so groß, dass er sich tief ducken muss, um nicht von den Ästen über seinem Kopf getroffen zu werden.

»Vergiss es. Nicht dass ich mich nicht freue, dich zu sehen, aber was genau tust du hier?«

»Oh! Richtig! Ich habe Bradleys Cloud-Passwort!« Sie hüpft aufgeregt auf und ab. »Oder zumindest das meiste davon. Genug, dass wir den Rest wahrscheinlich auch herausfinden können.«

»Wie hast du das geschafft?«

»Ich habe ihn mal wieder unter Drogen gesetzt und dann seinen Schreibtisch im Büro und sein ganzes Zimmer zu Hause durchsucht. Dabei habe ich einige Dinge gefunden, von denen ich wünschte, ich hätte sie nicht gefunden, aber du weißt ja, dass er das schlechteste Gedächtnis der Welt hat. Weißt du auch, dass sein Passwort für jede einzelne Website das gleiche ist?«

Das wusste ich zwar bisher noch nicht, aber ich stimme ihr zu. »Okay.«

»Er hat so ein Notizbuch auf seinem Schreibtisch, und da war eine Seite herausgerissen, aber ich konnte auf der Seite dahinter noch einiges von den Wörtern entziffern, also habe ich das gemacht, was man manchmal im Fernsehen sieht: Ich habe mit dem Ende eines Bleistifts die nächste Seite im Block schraffiert, um herauszufinden, was dort stand.« Sie hält ihr Handy hoch und zeigt mir ein Foto des Blatts. »Ich habe auch die Seite selbst mitgenommen, aber ich dachte, ich brauche zusätzlich einen fotografischen Beweis. Lass uns die Daumen drücken, dass wir ein paar Antworten bekommen, sobald wir in seiner Cloud sind.«

»Falls er nicht so schlau war, alle Spuren zu verwischen.«

»Schlau genug wäre er, ich bin mir nur nicht sicher, ob er sich die Zeit dafür nehmen würde.« Teagan und ich schnappen uns meinen Laptop und klappen ihn auf. Wir haben nur drei Versuche, bevor wir ausgesperrt werden, also müssen wir es geschickt anstellen.

»Ich glaube, das ist ein Hashtag nach seinem Namen.« Teagan zeigt auf etwas, das wie ein Haufen Kratzer aussieht.

»Er hat wirklich die mieseste Handschrift von uns allen, nicht wahr?«

»Ja. Und wer benutzt seinen eigenen Namen als Passwort? Wie dumm ist das denn? Und ist das E verkehrt herum geschrieben?«

»Ich glaube, es ist eine Drei?«

»Oh! Gute Idee. Okay. Sein Name ist also das Passwort, plus ein Hashtag, und was dann?«

»Ich würde sagen, Ziffer eins, aber es sieht nicht so aus, als ob es das wäre, denn das Zeichen ist krumm und nicht gerade.«

»Es sei denn, er hat die Ziffer eins ausgeschrieben?«

»Ooooh. Das wäre schlau. Sollen wir es versuchen?«

Ich tippe das Kennwort ein und drücke dabei die Daumen. Aber ich erhalte die rote Meldung »Falsches Passwort«.

»Mist. Wir haben noch zwei Versuche. Sind wir sicher, dass das wie eine Null aussieht? Oder wie ein O

»Ich denke schon. Gott, wir dürfen uns nicht irren.« Teagan klopft sich auf die Lippen. »Ich hab’s! Was ist sein absoluter Lieblingsfilm?«

»Äh, ich habe keine Ahnung.«

»Er liebt James-Bond-Filme. Seit er ein Teenager war, hat er sich jedes Jahr zu Halloween als Bond verkleidet.«

»Er trägt aber immer Anzüge.«

»Weil es einfach ist, aber auch deshalb, weil er diese Filme liebt. Versuch es mit null-null-sieben.«

»Bist du dir sicher?«

»Absolut. Versuch es einfach.«

»Versuch du es.« Ich schiebe den Computer zu ihr hinüber, und sie gibt das Passwort ein.

Wir drücken beide die Daumen und halten den Atem an, während sie die Eingabetaste tippt.

Und dieses Mal erhalten wir keine Fehlermeldung.

Wir schreien beide derbe Kraftausdrücke.

»Oh mein Gott, wir sind drin!«

Eine Stunde später haben Teagan und ich mehr als genug Beweise gefunden, um meinen Bruder als den Schuldigen zu entlarven. Irgendwie hat er es geschafft, an die Passwörter zu meinen Bankkonten heranzukommen und eine Reihe von Unterschriften zu fälschen. Er hat das ziemlich gut gemacht; ich glaube sogar selbst, dass einige der Unterschriften, die ich gesehen habe, meine sind.

»Wer zum Teufel macht so viele Pimmel-Fotos? Und an wen schickt er sie?« Teagan hält eine Hand vor den Bildschirm, um ein weiteres Bild vom Penis unseres Bruders zu verdecken. Es sind ganz schön viele davon in der Cloud. »Vielleicht ist das seine Version von Flirten?«

»Wie können wir nur mit ihm verwandt sein?« Teagan schüttelt den Kopf. »Dad wird so enttäuscht sein.«

Ich hatte überhaupt noch nicht darüber nachgedacht, wie Dad auf diese ganze Sache reagieren wird. Es ist schon schlimm genug, dass jemand drei Millionen Dollar aus der Stiftung seiner verstorbenen Frau gestohlen hat, aber herauszufinden, dass es der eigene Sohn war, wäre ein echter Schock. »Wie willst du die Sache angehen? Sollen wir es Dad sagen, bevor wir die Informationen weitergeben?«

Teagan beißt sich auf die Lippe und schweigt ein paar Sekunden, bevor sie antwortet. »Ich bin dafür, ein Familientreffen einzuberufen, aber wir geben Bradley keine Zeit zu fliehen. Fürs Erste muss er denken, dass er uns austricksen kann, also wollen wir ihm keine Vorwarnung geben. Und je eher wir es tun, desto besser.« Sie lässt sich wieder auf die Couch fallen. »Ich kann nicht glauben, dass wir unseren eigenen Bruder überführen müssen. Kann man sich etwas Schrecklicheres vorstellen?«

»Kaum.«

Ich war nicht immer der größte Fan meines Bruders, und durch die Entdeckung, dass er der Grund für alles ist, womit unsere Familie zu kämpfen hat, erreicht meine Meinung über ihn einen neuen Tiefpunkt.

* * *

Eine halbe Stunde und ein kurzes Gespräch mit Dillion später, in dem ich ihr sage, dass ich in die Stadt müsse, um eine Familienangelegenheit zu regeln, und dass ich sie über alles informieren werde, wenn ich zurückkomme, sind Teagan und ich auf dem Weg nach Chicago, mit mir auf dem Fahrersitz.

Die Landschaft wechselt von grünen Alleen zum Gedränge auf einer viel befahrenen Autobahn.

»Vermisst du das alles?« fragt Teagan, als wir uns unserer Ausfahrt nähern.

Mein Vater lebt außerhalb der Stadt in einem großen, zweistöckigen Haus. Teagan wohnt noch im Haupthaus, aber Bradley hat vor ein paar Jahren das Poolhaus übernommen. Ich war der Einzige, der ausgezogen ist und sich eine eigene Wohnung genommen hat. Ich glaube nicht, dass Teagan unbedingt zu Hause bleiben will; es ist wohl eher so, dass sie unseren Vater nicht allein in einem riesigen Haus zurücklassen will, das voller Erinnerungen an unsere Mutter steckt.

»Eine ehrliche Antwort? Das Einzige von Chicago, was ich vermisse, bist du.«

Sie nickt. »Das kann ich verstehen. Pearl Lake ist voller schöner Erinnerungen und großartiger Menschen.«

»Das ist es wirklich.« Ich fahre von der Autobahn ab und durch vertraute Straßen zurück zu dem Haus, in dem ich aufgewachsen bin. Es ist schon Monate her, dass ich hier war, und mir wird klar, dass ich dieses Haus überhaupt nicht vermisse. Sobald ich in die Einfahrt einbiege, spüre ich, wie mich die Fesseln einer Vergangenheit, der niemand von uns je zu entkommen scheint, wieder umklammern.

»Bist du bereit?«, frage ich Teagan, als ich neben dem protzigen Auto meines Bruders halte.

»So bereit, wie ich nur sein kann. Und du?«

»Dito.«

Wir seufzen beide, steigen aus dem Auto aus und schließen gemeinsam unsere Türen. Wir gehen nebeneinander her. Das Eingangstor ist groß und schwarz, mit einem schmiedeeisernen Ornamente in der Mitte. Die rote Backsteinfassade des Hauses ist elegant und prächtig, aber selbst von außen weiß ich, dass es eine hübsche Hülle ohne Herz ist.

Sie tippt den Code ein und öffnet die Tür. »Dad?«

»Ich bin in meinem Büro!«

Wir sehen ihn hinter seinem Schreibtisch sitzen, die Brille halb auf der Nase, einen Stapel Papiere vor sich, der Computerbildschirm beleuchtet.

Im Laufe der Jahre sind seine Schultern durch das ständige Sitzen am Schreibtisch rund geworden. Es ist neun Uhr abends und er arbeitet immer noch, und genau das wird er tun, bis er zu müde ist, um noch länger die Augen offen zu halten. Trotz der späten Stunde und der Tatsache, dass er sich in seinem eigenen Haus befindet, trägt er immer noch einen Anzug. Sein grau meliertes Haar ist kurz geschnitten und ordentlich frisiert. Er macht einen guten Eindruck, aber das ist nur Fassade. Ich erkenne mich in ihm wieder und weiß, wie meine Zukunft aussehen könnte, wenn ich jemals in seine Fußstapfen träte – ein trauriger, einsamer Mann.

Er lächelt, als ich hinter Teagan auftauche. »Donovan! Ich wusste gar nicht, dass du hier bist. Es ist schön, dich zu Hause zu haben. Bleibst du für eine Weile?« Er steht auf, geht um seinen Schreibtisch herum und nimmt mich in die Arme.

»Hm, wahrscheinlich nicht. Ist Bradley zu Hause?«

»Ich glaube schon. Ist alles in Ordnung?« Er runzelt die Stirn und schaut von mir zu Teagan und wieder zurück. »Ist etwas passiert?«

»Ja, und ich glaube nicht, dass du darüber besonders glücklich sein wirst.«

Teagan und ich setzen uns zu ihm und zeigen ihm, was wir gefunden haben. Die gefälschten Unterschriften, die betrügerischen Konten, die Offshore-Konten, die auf meinen Namen eingerichtet wurden und zeigen, dass die Hälfte des Geldes aus der Stiftung bereits weg ist, verprasst in nur wenigen Monaten.

»Wie willst du vorgehen, Dad?«, fragt Teagan leise.

Er lehnt sich auf seinem Stuhl zurück und wischt sich mit einer Hand übers Gesicht. Während dieses Gesprächs scheint er in einer halben Stunde um fünf Jahre gealtert zu sein. Es kann nicht einfach sein, in seiner Haut zu stecken und herauszufinden, dass eines seiner Kinder versucht hat, seinem anderen Sohn etwas anzuhängen, und es auch geschafft hat.

»Ich habe Bradley häufiger aus der Patsche geholfen, als ich zählen kann. Und vielleicht war das der Fehler.« Er seufzt. »Diesmal kann ich ihm nicht helfen. Er wird die Konsequenzen seines Handelns tragen müssen.«

Dad greift zu seinem Telefon und ruft Bradley her.

Fünf Minuten später kommt er in Dads Büro geschlendert, angezogen, als würde er gleich in seinen Club gehen. Seine Augen flackern, als er Teagan und mich sieht. »Was ist hier los?«

»Du solltest dich setzen.« Papa deutet auf den freien Stuhl.

»Ich bin eigentlich gerade auf dem Sprung.« Bradley wirft einen Blick über die Schulter und schaut mich an, während er einen vorsichtigen Schritt in Richtung der Tür macht, durch die er gerade hereingekommen ist.

»Ich fürchte, deine Pläne für den Abend haben sich geändert.«

Dad dreht den Laptop und zeigt Bradley, was wir alle wissen: dass er ein Dieb und ein Lügner ist. Bradleys Miene verfinstert sich, und er verschränkt die Arme vor der Brust. »Was ist das?«

»Angesichts der vielen gefälschten Schecks und falschen Konten würde ich es als Betrug bezeichnen.« Dad faltet die Hände auf dem Schreibtisch. »Warum tust du deiner eigenen Familie so etwas an, Bradley?«

»Wo soll ich anfangen? Wie wäre es mit deiner Behauptung, Bees Cottage sei einen Dreck wert, und dass du zugelassen hast, dass sie den Besitz, der Millionen wert sein könnte, deinem Goldjungen überlassen hat? Oder vielleicht sollten wir darüber reden, wie du unser Geld seit Moms Tod für leichtfertige Anschaffungen, die du nicht brauchst, verprasst hast. Das Haus ist bis unters Dach mit Hypotheken belastet. In einem Jahrzehnt wird nichts mehr übrig sein.« Er fuchtelt mit einer Hand herum. »Oder all das Geld, das in einer verdammten Stiftung liegt, und wofür? Ein Steuersparmodell für Geld, das wir gar nicht haben? Mir ist schon vor langer Zeit klar geworden, dass du mir nichts als Schulden hinterlassen wirst, also habe ich die Sache selbst in die Hand genommen. Ich wollte mein Erbe haben, bevor es nichts mehr zu erben gibt. Arbeite klüger, nicht härter, Dad.«

»Du bist ein egoistischer Mistkerl«, schnauzt Teagan ihn an.

»Und du bist sein verdammtes Schoßhündchen!« sagt Bradley und deutet auf unseren Vater. »Es ist erbärmlich, wie du immer alles tust, was Dad will. Du bemutterst ihn, als sei er schon ein Invalide. Du bleibst in diesem blöden Haus wohnen, und wofür?« Sein wütender Blick wandert zu Dad. »Es ist ja nicht so, als ob irgendjemand von uns etwas bekommen würde, wenn du endlich ins Gras beißt. Du bist eine wandelnde Leiche. Du hast aufgehört zu leben, als Mom gestorben ist; du hast nur nicht den Anstand, dich umzubringen. Stattdessen vergräbst du dich in Arbeit! Geld ist das Einzige, was du uns noch geben kannst, und nicht einmal davon ist noch viel übrig.«

»Bradley, pass auf, was du redest«, schimpfe ich. »Du hast bereits genug bedauerliche Dinge getan. Zerstöre nicht noch die letzten Brücken, nur weil du einen unangebrachten Rachefeldzug führst.«

»Ich habe nichts falsch gemacht!«

Ich kann nicht glauben, wie locker er mit dem umgeht, was er getan hat. Es ist, als wüsste er nicht einmal, dass es unrecht war. Das erinnert mich an etwas, das Dillion gesagt hat – dass wir manchmal die Wahrheit nicht sehen wollen und deshalb erfinden wir eine, die uns besser gefällt.

»Aber es war auch nicht richtig, was du getan hast«, sagt Papa leise. »Geld von der Stiftung zu stehlen und es deinem Bruder in die Schuhe zu schieben, ist keine Lösung. Mir ist klar, dass ich nicht das beste Vorbild oder gar ein sehr guter Vater war, aber es gibt mehr im Leben als Geld, Bradley.«

»Was ist mit Grammys Cottage? Warum wolltest du dir das auch noch unter den Nagel reißen, besonders nachdem du schon die drei Millionen gestohlen hattest?« Ich brauche eine Antwort, auch wenn sie mir wahrscheinlich nicht gefallen wird und ich seine Beweggründe nicht verstehe.

»Dir fällt alles in den Schoß. Du warst schon immer der Goldjunge, der nichts falsch machen kann. Es spielt keine Rolle, was ich tue, ich werde nie so gut sein wie du. Verdammt, ich habe mit Dad gearbeitet, seit ich berufstätig sein konnte, und trotzdem dreht sich alles nur um dich und all deine Erfolge und wie viel du erreicht hast. Jeder kriecht dir in den Hintern. Hast du eine Ahnung, wie frustrierend das ist? Also dachte ich mir, ich nehme dir das weg, was dir am wichtigsten ist, damit du mal merkst, wie es ist, zu verlieren.«

»Was du deiner eigenen Familie angetan hast, ist beschämend, Bradley«, sagt Dad. »Wenn deine Mutter noch hier wäre, wäre sie am Boden zerstört.«

»Nun, sie ist tot, und ich habe sie deinetwegen nie wirklich gekannt. Sie ist seit fast zwei Jahrzehnten tot, also ist es kaum relevant, wie sie sich gefühlt hätte. Hör auf, in der verdammten Vergangenheit zu leben!«

Mein Vater springt von seinem Stuhl auf. »Das ist kein guter Grund, um das, was von deiner Familie noch übrig ist, auseinanderzureißen, Bradley. Das ist nichts, was ich für dich in Ordnung bringen kann. Du wirst mit diesem Schlamassel allein fertig werden müssen.« Diese Version meines Vaters habe ich schon lange nicht mehr gehört.

Bradleys Verhalten ändert sich, und er sieht plötzlich panisch aus. »Und was willst du jetzt tun? Willst du, dass ich alles zurückzahle?«

»Nein.«

Bradleys Schultern sacken vor Erleichterung herab, aber nur für einen Moment.

»Du wirst dich selbst beim Vorstand und bei der Polizei anzeigen und dann die Konsequenzen für dein Handeln tragen. Und wenn du nicht anrufst, werde ich es tun.«

Sein Blick fliegt durch den Raum, und sein Grinsen verblasst langsam, als er Teagan und mich betrachtet, die ihm wie eine düstere, geeinte Front gegenüberstehen. Ich sehe den Moment, in dem er erkennt, dass Dad es ernst meint.

»Aber ich könnte ins Gefängnis kommen!«

»Das hättest du dir überlegen sollen, bevor du deinen eigenen Bruder reingelegt hast.«

Es ist keine Genugtuung, mit anzusehen, wie mein Bruder in Handschellen aus unserem Haus abgeführt wird. Mein eigener Name ist jetzt reingewaschen, aber es ist nicht die Art von Abschluss, die ich mir gewünscht habe, denn es wirft ein weiteres Mal ein negatives Licht auf meine Familie. Und all die Probleme, die mein Vater jahrelang verdrängt hat, kommen endlich ans Tageslicht. Ich kann damit umgehen, weil ich nicht hierbleiben und die Konsequenzen tragen muss, aber mein Vater und meine Schwester haben nicht die Möglichkeit zu fliehen wie ich, und ich befürchte, dass uns das nur noch weiter auseinanderbringen wird.