Die Protagonisten der nordamerikanischen Milch-Lobby
Die Kuhmilch, die heutzutage in den Kühlregalen und -abteilungen der großen Supermärkte steht, ist nicht mehr die, die unsere Großmütter tranken.
Neulich hat mein Freund Don Orangensaft aus dem Supermarkt mit Milch verglichen. Er weiß, dass fast alles, was man heutzutage fertig abgepackt zu kaufen bekommt, so weit weg vom Baum ist, dass der vertraute Saftgeschmack eher von Geschmacksingenieuren als von frisch gepressten Orangen stammt. Aber um Himmels willen, »Milch ist Milch!«, sagte er, bevor er mit einem naiven »oder?« einen kleinen Rückzieher machte. Don glaubte allen Ernstes, dass man, wo man auch ist und in welchen Supermarkt man auch geht, darauf vertrauen kann, dass Milch gleich Milch ist. Ich bat ihn um Verzeihung, aber ich konnte einfach nicht anders. Ich musste in diese Seifenblase hineinstechen. Milch ist keine klare, unverfälschte Sache mehr.
MODERNE MILCH AUS DER MASSENPRODUKTION
Die unermüdliche Vermarktung von Milch als Grundnahrungsmittel hat aus dem einstigen Produkt mit eindeutiger Identität eines mit vielen rätselhaften Erscheinungsformen werden lassen. Milch gibt es in vielen Variationen:
Außerdem gibt es Sorten mit Geschmack. Doch diese sind uns weniger vertraut, als sie es auf den ersten Blick erscheinen mögen.1
Einer Sorte mit 3,5 Prozent Fett den Namen »Vollmilch« zu geben ist zum Beispiel falsch. Auch wenn das Produkt anfangs »Vollmilch« war, wurde im Verarbeitungsprozess Fett entfernt und wieder hinzugefügt, um sie auf den »vollen« Fettgehalt zu bringen.
Es gibt beinahe ebenso viele Verfahren zur Milchverarbeitung, wie es Sorten mit unterschiedlichem Fettgehalt und Geschmacksrichtungen gibt.
Um die Bezeichnung »Milch« tragen zu dürfen, muss sie nach den Vorgaben der amerikanischen Bundesbehörde zur Überwachung von Nahrungs- und Arzneimitteln (Federal Food and Drug Administration, FDA) pasteurisiert sein.2
Pasteurisierung ist in der Regel der erste Verarbeitungsschritt, dem die Milch nach Verlassen des landwirtschaftlichen Betriebs unterzogen wird. Doch sie erfolgt nicht mithilfe einer einzigen Methode. Die drei wichtigsten Verfahren sind: die Kurzzeiterhitzung (High Temperature/Short Time, HTST); die Dauererhitzung und die Ultrahocherhitzung (Ultra-high Temperature, UHT). Beim HTST-Verfahren wird die Milch mindestens 16 Sekunden lang auf 72 Grad Celsius erhitzt. Bei der Dauererhitzung wird mit einer niedrigeren Temperatur von 62 Grad Celsius gearbeitet, dafür dauert die Pasteurisierung mit dreißig Minuten deutlich länger. Und bei der Ultrahocherhitzung passiert, was der Name schon sagt: Die Milch wird ein paar Sekunden lang einer extrem hohen Temperatur von 138 bis 158 Grad Celsius ausgesetzt.
Wenn der Pasteurisierungsvorgang abgeschlossen ist, ist die Milch meistens zugleich auch homogenisiert, obwohl dies aus den Angaben auf der Packung nicht immer eindeutig hervorgeht. Das heißt, sie wird aufgerührt und dann unter hohem Druck durch winzige Düsen gespritzt, so dass es zu einer Zerkleinerung der Fetttröpfchen kommt. Den Milchverarbeitern gefällt diese Technologie aus verschiedenen Gründen: Es erleichtert ihnen, große Mengen Milch von verschiedenen Farmen zu mischen und doch ein im Hinblick auf die Beschaffenheit und den Fettgehalt einheitliches Produkt zu erhalten. Zudem wird die Haltbarkeit dadurch erhöht. Manche Forscher haben jedoch auf negative Begleiterscheinungen des Verfahrens hingewiesen. Die beiden Hauptkritikpunkte sind, dass die Homogenisierung die Milch anfälliger für Oxidation macht und die Neigung der Fetttröpfchen, nach der Zerkleinerung Milcheiweißfragmente anzulagern, zu allergischen Reaktionen führen kann. Auch wenn andere Forscher diese Theorie als nicht fundiert ablehnen, ist die Frage, ob homogenisierte Milch ungesund ist, weiterhin ungeklärt und Gegenstand laufender Forschungen.3
Natürlich kann man natürliche, unhomogenisierte, unpasteurisierte, rohe Vollmilch kaufen, aber es gibt sie nicht überall. In manchen Staaten der USA und ganz Kanada ist der kommerzielle Vertrieb von unpasteurisierter Milch verboten. In diesem Buch geht es nicht um solche Randerscheinungen, die wiederum eine ganz andere Geschichte sind. Mir geht es um die Milch, die wir nach dem Willen des US-Landwirtschaftsministeriums (USDA) und der Milchwirtschaft als Getränk zum Essen reichen sollen. Moderne Verarbeitungstechnologien haben die gedankliche Verbindung zwischen Milch und natürlicher Arznei zusätzlich gestärkt. Das spielt den Milch-Lobbyisten in die Hände. Denn sie wollen uns mit dem Gesundheitsköder davon überzeugen, dass es sich bei Milch um ein Grundnahrungsmittel handelt.
DIE WURZELN UND AUSWÜCHSE DES MILCHMARKETINGS
Ernährungsrichtlinien stellen nur eines der vielen Hindernisse dar, die es so schwer machen, den Menschen die Milch abzugewöhnen. Das weltumspannende Geflecht der Institutionen zur Förderung des Milchkonsums ist alles andere als lückenhaft. Allein in den Vereinigten Staaten gibt es ein riesiges, mächtiges Netzwerk, in dessen Mittelpunkt der Amerikanische Nationale Milchrat (National Dairy Council, NDC) steht. Dieser wurde im Jahre 1915 gegründet, um – wie es in einer Abhandlung zur Geschichte der Milchwirtschaft heißt – »der milcherzeugenden Industrie vor dem Hintergrund eines Ausbruchs der Maul- und Klauenseuche ihren guten Ruf in der Öffentlichkeit zu bewahren«. In jenen frühen Tagen übernahm der NDC eine führende Rolle, indem er die Milchwerbung sowie Informationskampagnen und Forschungsarbeiten zur Bestätigung der Vorzüge von Milch und Milchprodukten unterstützte. Gleichzeitig pflegte die Organisation enge Verbindungen zum USDA, jener Bundesagentur, die Präsident Lincoln 1862 gründete, um die Produktion und den Verbrauch von in den USA erzeugten Landwirtschaftsgütern zu fördern.4 Diese Strategie ging wunderbar auf, konnte man doch immer und zu jeder Zeit gewiss sein, dass die Regierung für die Milch Stellung beziehen würde. Das MyPlate-Schema illustriert als weiteres Beispiel die einzigartige Partnerschaft zwischen der Milchindustrie und dem USDA. Nur ihr wurde auf dem US-Musterteller für eine gute Ernährung eine eigene Farbe zugestanden, und nur sie muss sich nicht eine Nahrungsgruppe mit anderen Lebensmitteln teilen.
Es gibt noch andere US-weit operierende Organisationen, die ebenfalls am Mythos der Milch als unverzichtbares Lebensmittel stricken: Der Nationale Promotionsausschuss der Flüssigmilchverarbeiter leitet ein Promotionsprogramm der Flüssigmilchverarbeiter. Der Nationale Milch-Förderungs- und Forschungsausschuss verantwortet das Promotionsprogramm für Milch und Milchprodukte. Die 1995 gegründete Firma Milch Management (Dairy Management Inc., DMI), ein Tochterunternehmen der Nationalen Vereinigung der US-Milchproduzenten, leitet den Amerikanischen Nationalen Milchrat (National Dairy Council) und die Amerikanische Milch- und Milchproduktegesellschaft ist Gründerin des Innovationszentrums für US-Milch und Milchprodukte. Die DMI beschreibt ihre Aufgabe so: »Mit dem Ziel gegründet, den Absatz und den Bedarf an Milchprodukten zu steigern, arbeiten die DMI und die mit ihr verbundenen Organisationen darauf hin, den Bedarf an Milchprodukten durch Forschung, Information und Innovation zu steigern und das Vertrauen in Lebensmittel aus Milch sowie in Milchfarmen und -betriebe zu bewahren.«5
Neben diesen auf nationaler Ebene operierenden Organisationen leisten verschiedene Beiräte und Verbände in den einzelnen US-Bundesstaaten ihren arbeitsmäßigen und finanziellen Beitrag, um laufend weiter an dem Profil der Milch als perfektes, unverzichtbares Lebensmittel zu feilen. Kalifornien, das mehr Milch als jeder andere US-Bundesstaat produziert, kämpft an vorderster Front, um Milch auf Dauer ihren kompletten Kreis im MyPlate-Schema und ihren Platz in den Kühlschränken zu sichern. Jeder kennt die Plakate, die prominente Sänger, Schauspieler oder Sportler mit Milchbart zeigen. Die 1993 vom kalifornischen Ernährungs- und Landwirtschaftsministerium gegründete Kammer der kalifornischen Milchverarbeiter (CMPB) ist der Magier, der hier im Hintergrund die Fäden zieht. Die von den Milchverarbeitungsbetrieben des US-Bundesstaates finanzierte Organisation versuchte 1993, mit der Kampagne »Got Milk?« (wörtlich: »Hast du Milch?«, vergleichbar mit der deutschen Kampagne »Die Milch macht’s«) dem rückläufigen Verkaufstrend zu begegnen.
1994 wurden zum ersten Mal nach über zehn Jahren wieder steigende Verkaufszahlen gemeldet.6 Mit einer 90-prozentigen Wiedererkennungsrate gilt die sehr spezielle, plakative Kampagne als eine der erfolgreichsten in der gesamten Geschichte. »Got Milk?« wurde 1995 als US-Trademark registriert und seither von Lobbyorganisationen in den gesamten Vereinigten Staaten in Lizenz lanciert.7 Die Kampagne kennt keine Grenzen. Selbst die Kanadier haben »Got Milk?«.
Neben der nach außen orientierten Kammer der kalifornischen Milchverarbeiter gibt es den Kalifornischen Milchrat, der sein Augenmerk eher nach innen richtet. Das ursprüngliche Ziel der 1919 gegründeten Organisation war sicherzustellen, dass die Kinder in dem US-Bundesstaat genügend Milch zu trinken bekamen. Das erste »Mobile Milchprodukte-Klassenzimmer« rollte in den 1930er-Jahren über Kaliforniens Straßen, um Schülern landauf, landab das Wer, Was, Wo und Wie der Milchwirtschaft beizubringen.8 Die Informationsprogramme des Milchrats, die von den Milchproduzenten und der verarbeitenden Industrie finanziert werden, sichern der Milch einen festen Platz in Kaliforniens Schulen und Kalifornien die Position als wichtigster Milchlieferanten der Vereinigten Staaten.
Die Liste der landwirtschaftlichen Erzeugnisse, die von für sie werbenden Organisationen profitieren, ist lang: Mandeln, Rindfleisch, Eier, Honig, Lamm, Pilze, Erdnüsse, Kartoffeln, Schweinefleisch und Sojabohnen, um nur einige zu nennen. Es gibt sogar einen Popcorn-Ausschuss und einen Rat zur Förderung der hochwachsenden Heidelbeere. Sprüche wie »Rindfleisch: Das gibt’s zum Abendessen« oder »Schweinefleisch. Das andere weiße Fleisch« sind vielen Amerikanern vertraut.9 So nämlich lauten die Werbe-Jingles, mit denen die Check-off-Organisationen für Rind- beziehungsweise Schweinefleisch die Vermarktung ihrer Produkte voranzutreiben versuchen. Keine Werbung hat sich jedoch als so ansprechend oder augenfällig erwiesen wie »Got Milk?« mit seinem Pantheon milchbärtiger Prominenter. Wenn Schweinefleisch nichts Besseres anzubieten hat, als in einem Atemzug mit Hühnchen genannt zu werden, sagt das nicht viel aus. Dass Rindfleisch abends auf den Teller kommen soll? Vergiss es! Der Slogan ist prosaisch und belehrend, so dass sich jeder frei denkende Mensch abwendet und sich auf die Suche nach etwas anderem begibt. »Got Milk?« dagegen spricht die Menschen direkt an. Die Frage, die so unschuldig klingt, als würde sie von Pfadfindermädchen beim Verkauf von Plätzchen gestellt, kommt witzig und spielerisch daher. Wobei man wohl sagen muss kam lange Zeit so daher. Die Ära von Spaß und Spiel ist jetzt vorbei. Wo jeder, ob das Militär, Michelle Obama oder die US-amerikanischen Nationalen Gesundheitsinstitute (NIH), die Amerikaner zum Abnehmen drängt, lassen sich Milch und Kekse nicht mehr so leicht verkaufen. Die Kammer der kalifornischen Milchverarbeiter hat die Zeichen der Zeit erkannt und weiß, dass Milch mehr sein muss als weiße Farbe im Gesicht und ein Getränk zum Nachtisch, wenn sie sich behaupten will. Neue Videos zeigen vor Milch-Kraft strotzende Jugendliche beim Breakdance, Basketball und Wettkampfschwimmen. Ein Glas Milch enthält 8 Gramm Eiweiß. Das ist die Botschaft, die die Kammer der kalifornischen Milchverarbeiter unters Volk bringen will: »Wie du mit 8 Gramm Eiweiß rüberkommst, wenn du deinen inneren Rockstar rauslässt«, wird als Botschaft zu dem Bild einer Frau an der E-Gitarre eingeblendet. »Milk Life« lautet der neue Slogan.10
Die Kammer der kalifornischen Milchverarbeiter und mit ihr die gesamte Milchlobby sind dabei, ihre ganze Schlagkraft zu bündeln, um Milch ihren Platz auf dem Tisch zu sichern. Wenn Sie sich daran setzen, brauchen Sie sich davon aber nicht umhauen zu lassen.