Kapitel 1
E
s gab schreckliche Dinge auf der Welt.
Krieg. Die Pest. Donald Trumps Frisur. Atombomben. Analog-Käse.
Eines furchtbarer als das andere. Doch hätte man mich an diesem Morgen gefragt, was sofort abgeschafft werden sollte, hätte ich Sonnenlicht
geantwortet. Ich war nicht stolz darauf, aber es war die Wahrheit.
„Scheiße“, stöhnte ich und hielt mir die Hände vors Gesicht, um die lästigen Strahlen davon abzuhalten, mir die Augen aus dem Kopf zu brennen. Meine Schläfen schmerzten, als hätte eine Horde Sumoringer die ganze Nacht darauf Steppen geübt.
Ich rollte nach links, um meinen Kopf im Kissen zu vergraben, und stieß gegen etwas Warmes, Knittriges. Stirnrunzelnd tastete ich danach. Es fühlte sich nach einem riesigen, labbrigen Laib Toast an. Unter großer Anstrengung öffnete ich ein Auge. Erneut blendete mich das Licht und ein Schwall Übelkeit schwappte gegen meine Magenwände. Ich schluckte und musste würgen, weil mein Mund sich anfühlte, als habe es sich eine besonders haarige Katze dort drin gemütlich gemacht. Eine Katze, die lange nicht gewaschen worden war. Gott, war das ekelig.
Mein Gesicht vom Licht abschirmend, öffnete ich auch das andere Auge, um die Teigware neben mir näher betrachten zu können. Interessant. Das Toastbrot war pink und hatte Trudis Gesicht. Ich blinzelte mehrmals, bis die Konturen meiner 72-jährigen Angestellten aufhörten, Wellen zu schlagen. Waren ihre Haare schon gestern so rosarot gewesen?
Ich wusste es nicht mehr. Wenn ich raten müsste, hätte ich jedoch Nein getippt.
Moment, welcher Tag war heute? Sonntag, oder nicht? Das hieß, gestern war … richtig, Emilys Junggesellinnenabschied gewesen. Langsam kam die Erinnerung zurück. Wir waren in diese schäbige Bar gegangen, mit dem noch schäbigeren Namen und den schäbigen Möbeln und dem schäbigen Barkeeper und dann …
Ich schloss die Augen, denn mein Magen gab mir zu verstehen, dass er Licht noch immer scheiße fand.
Dann … dann hatten wir irgendetwas anderes getan. Mit Alkohol.
Mist, ich hatte keinen Schimmer mehr, mein Gedächtnis war wie ausgelöscht. Ich hatte ein komplettes Blackout. Wie viel zum Teufel hatte ich getrunken? Ich hatte es bei einem Glas Wein belassen wollen, doch dann waren wir bei diesem Burlesque-Tanzkurs gewesen, den Emily schon immer unbedingt hatte besuchen wollen. Trudi hatte begeistert mitgemacht, ein Kleidungsstück nach dem anderen ausgezogen – und sich nicht
die Kante zu geben, war auf einmal keine Option mehr gewesen.
Es musste ein aufregender Abend gewesen sein.
Ich war irgendwie froh, ihn vergessen zu haben. Aus Erfahrung wusste ich, dass ich betrunken äußerst peinlich werden konnte.
Mit der Zungenspitze befeuchtete ich meine Lippen und bemerkte mit einem Mal, wie furchtbar trocken mein Mund war. Die Katze war verschwunden und hatte die Sahara zurückgelassen. Ich brauchte Wasser. Und einen neuen Kopf.
Seufzend rollte ich mich zurück auf den Rücken und strampelte die Decke von meinen Beinen. Der nächste Versuch, die Augen zu öffnen, verlief besser. Die Übelkeit turnte zwar noch immer in meinem Magen, wurde aber langsam müde. Wenigstens war ich bekleidet. Ich sollte mich auf die positiven Dinge konzentrieren.
„Scheiße“, wiederholte ich krächzend und schwang die Beine von der Matratze. Ein lautes Uff-Geräusch erklang, als meine Füße auf etwas Weiches trafen.
„Hör auf, mich zu treten“, murmelte eine griesgrämige Stimme.
Ich verzog das Gesicht und beugte mich vor. Emmi lag auf meinem Bettvorleger. „Hör auf, auf meinem Boden zu liegen“, gab ich zurück.
Meine Schwester sah zugegebenermaßen etwas schwach aus … aber ihre Hand heben und mir den Mittelfinger zeigen, das konnte sie noch. „Du hast mich aus dem Bett geschmissen, weil deine Hüften zu gebärfreudig sind“, erklärte sie, zog das Handtuch, das sie als Decke missbrauchte, höher ihre Schultern hinauf, drehte sich von mir weg und schlief weiter.
Ich rieb mir mit der Hand über die Stirn und atmete mehrmals tief ein, bevor ich mich dazu imstande fühlte, aufzustehen.
Wasser. Ich brauchte Wasser. Umständlich stieg ich über Emmi hinweg und stolperte in den Flur. Eine pinke Spur aus Glitzer führte in mein Wohnzimmer mit Einbauküche, und wie angewurzelt blieb ich ihm Türrahmen stehen.
Die Küche war ein einziges Schlachtfeld. So schlimm hatte es hier nicht mehr ausgesehen, seitdem ich Twinky, meinem verhaltensgestörten Kater, zu viel Kaffee gegeben hatte und er die Wände hochgegangen war. Er mochte sich zwar für einen Hund halten, aber seine Krallen waren noch immer die einer Katze.
Die Arbeitsfläche war mit Mehl und Schokoflocken gepflastert, so als habe eine betrunkene Meute Kinder versucht, etwas zu backen. Bierflaschen stapelten sich auf dem Herd, vier abgebrannte Wunderkerzen thronten in einem zerpflückten Salatkopf mit Sonnenbrille, und weiße Pillen – von denen ich sehr hoffte, dass sie Tic Tacs waren – lagen verstreut auf dem Boden vor mir. Kopfschüttelnd wandte ich mich um, um auch den Rest des Raumes zu bewundern. Zwei meiner Zimmerpflanzen lagen umgestoßen vor der Fensterbank, drei Handtaschen auf meiner Anrichte und eine bleiche Schaufensterpuppe auf meinem Sofa.
Wo hatten wir die denn her? Waren wir bei H & M eingebrochen? Ich würde es mir zutrauen, ich war sehr wütend auf das Geschäft, weil mir dessen Hosen nie passten!
Schnaubend tapste ich über die Hoffentlich-Tic-Tacs hinweg und verteilte den an meinen Fußsohlen klebenden Glitzer weiter in meiner Küche. Ich griff nach einem Glas und füllte es mit Wasser, bevor ich es gierig hinunterstürzte und gleich noch einmal unter den Hahn hielt.
Twinky strich um meine Knöchel und schnurrte auffordernd. Er hatte heute Morgen noch kein Futter bekommen und offensichtlich Angst, dass ich ihn vergessen hatte.
„Du kriegst gleich was“, murmelte ich müde lächelnd und hockte mich hin, um ihn zu streicheln.
Zufrieden rieb er seinen Kopf an meinem Schienenbein … und hinterließ dabei eine klebrige Spur auf meiner Haut.
Ich verzog das Gesicht. „Twinky, hast du dich am Bier vergriffen?“, wollte ich wissen und sah an mir hinunter. Doch es war kein Bier, das an meinem Bein haftete. Dafür war es zu dickflüssig … und zu rot. Stirnrunzelnd beugte ich mich weiter vor und nahm vorsichtig Twinkys Gesicht in meine Hände. „Was hast du da, Twinky?“, fragte ich leise und betrachtete seine rot getünchten Schnurrhaare, seine rosa Schnauze …
Erschrocken richtete ich mich auf. Ich war in meinem Leben oft genug hingefallen, um Blut zu erkennen, wenn ich es sah.
„Scheiße“, wisperte ich und ein beklemmendes Gefühl setzte sich in meiner Brust fest, drückte auf Zwerchfell und Lunge. „Wo hast du das her Twinky? Wo …“ Mein Blick schweifte über seinen Kopf hinweg, den Boden entlang, bis zu meiner Couch … neben der sich eine spiegelglatte, rote Blutlache gebildet hatte. Mit trockenem Hals, aufgerissenen Augen und heftig klopfendem Herzen starrte ich die Schaufensterpuppe auf dem Sofapolster an, das gestern noch nicht im Batiklook rot eingefärbt gewesen war.
Die Puppe lag auf dem Rücken. Ihr einer Arm hing über den Rand des Sofas und berührte mit den Fingerspitzen die rote Lache. Der andere war an die Seite ihres Körpers gepresst. Sie hatte lange rote Haare, die ihr Gesicht noch bleicher aussehen ließen, trug ein weißes Sommerkleid und bei näherem Hinsehen … ragte ein Küchenmesser aus ihrer Brust.
Mein
Küchenmesser.
„Nein“, hauchte ich und schlug schockiert die Hand vor den Mund. Das konnte nicht sein!
Neue Übelkeit wallte in mir auf, während ich das ausdruckslose Gesicht der fremden Frau betrachtete. Das Blut floss aus meinem Kopf, meine Hände fingen an zu zittern und jeder Atemzug brannte auf einmal in meiner Lunge. Keuchend beugte ich mich nach vorn und stützte mich mit den Händen auf meinen Oberschenkeln ab.
Das konnte doch nicht … warum sollte … was zum …?!
„Meine Güte, ich hab nicht mehr so viel gesoffen, seit mein Günter unter die Erde gelassen wurde. Gott hab ihn selig – und Tequila.“
Trudi wehte durch die Tür. Ihre pinken Haare strahlten mit ihrem Lächeln um die Wette und sie sah nicht aus, als habe sie gestern getrunken. Sie sah aus, als habe sie gestern den schönsten Kindergeburtstag ihres Lebens gefeiert.
Ich sah sie an, blickte zur Leiche, sah zurück zu Trudi – wandte mich um und übergab mich in mein Waschbecken.
„Du hättest mir auch sagen können, dass dir das Pink nicht gefällt“, murrte die alte Dame pikiert. „Ich finde, ich sehe fesch aus. Wie diese Sängerin, diese April Lawine in jungen Jahren. Die, die mit diesem Skater-Jungen abgehauen ist.“
„Avril Lavigne“, korrigierte ich sie mechanisch, spuckte aus, gurgelte mit Wasser … und vermied es, mich wieder umzudrehen. Vielleicht hatte ich mir die Leiche nur eingebildet. Vielleicht hatte mir jemand Drogen untergemischt und ich halluzinierte. Vielleicht musste ich nur kurz die Augen schließen und tief durchatmen. Wenn ich sie wieder öffnete, wäre die Tote vielleicht doch nur aus Plastik.
„Sag ich doch. April Lawine“, bestätigte Trudi. „Weißt du, mir geht es gut, aber ich fühle mich schon sehr merkwürdig, ich …“
„Trudi“, unterbrach ich sie heiser. „Liegt …“ Ich räusperte mich. „Liegt sie immer noch da?“
„Woher soll ich wissen, wo April liegt?“
„Die meine ich nicht. Ich spreche von der … von der Leiche“, stellte ich mit zitternder Stimme klar, die Augen fest zusammengekniffen.
„Eine Leiche?“, fragte Trudi begeistert. „Wo?“
„Auf meiner Couch.“
Einige Momente lang hörte ich nur das Blut in meinen Ohren rauschen, dann murmelte Trudi: „Na, da erschieß mich doch ein Pferd, da liegt tatsächlich jemand!“
Ich vernahm Schritte und wirbelte alarmiert herum. Wie erwartet, hatte die alte Dame neugierig ein paar Schritte nach vorn gemacht, um sich über den toten Körper zu beugen.
„Nein, Trudi! Fass sie nicht an. Das hier ist ein Tatort, wir … wir dürfen nichts berühren.“
„Tatort, papperlapapp“, sagte Trudi schnaubend, trat jedoch von der Leiche zurück. „Das hier ist dein Wohnzimmer, nicht CSI: Miami
.“
Ja, genau das war es, was mich beunruhigte.
„Sie sieht nicht echt aus", bemerkte sie noch immer skeptisch und kniff die Augen zusammen. „Ich sollte sie einmal anfassen, nur um sicherzugehen.“
„Das ist keine gute Idee.“
„Aber vielleicht ist es eine Wachsfigur, Louisa. Dann würden wir die Polizei vollkommen umsonst anrufen.“
„Warum sollte eine blutende Wachsfigur bei mir auf der Couch liegen, Trudi?“
„Warum eine Leiche?“
Guter Punkt. „Fuck“, fluchte ich, fuhr mir mit den Händen in die Haare und konzentrierte mich auf meine Atmung. Es war schwieriger als sonst, genug Sauerstoff in meinen Körper zu pumpen. Möglicherweise weil Panik meine Luftröhre verengte. „Fuck, Scheiße, Fuck. Ich weiß noch nicht einmal, wer sie ist! Ich meine: Kennst du sie, Trudi?“ Hilfesuchend wandte ich mich an die pinkhaarige Frau.
Nachdenklich rümpfte Trudi die Nase. „Ich glaube nicht. Aber meine Augen sind auch nicht mehr die Besten. Wenn du mich etwas nach vorn gehen lassen würdest, um …“
„Nein!“, sagte ich scharf und hob warnend einen Zeigefinger. Ich hatte jetzt keine Zeit dafür, Trudis irrationalen Wunsch, eine Tote zu berühren, zu berücksichtigen. „Trudi, eine tote Frau macht es sich auf meiner Couch gemütlich. Falls du es noch nicht wusstest: Das ist nicht
gut!“
Betreten wiegte die alte Dame ihren Kopf von der einen Seite zur anderen. „Es hätte schlimmer kommen können“, versuchte sie mich zu beschwichtigen und tätschelte meinen Arm.
Ungläubig sah ich sie an, während ich mir mit dem Handrücken über den Mund wischte. „Ach ja? Wie?“
„Nun … deine Couch hätte ein teures Designerstück sein können.“
Ich lachte trocken auf. Gegen die Logik konnte ich nicht argumentieren.
Die Tür zum Wohnzimmer ging erneut auf und heraus trat eine sehr zerknautscht aussehende Emily. „Hey, Loubalou, wusstest du, dass ein Goldfisch in deiner Badewanne lebt?“
Die Lippen zusammengepresst schüttelte ich steif den Kopf.
Irritiert sah meine Schwester erst in mein entsetztes und dann in Trudis unsicheres Gesicht. „Wer ist denn hier gestorben?“, wollte sie wissen.
Ich streckte zitternd den Arm aus und deutete auf die tote Rothaarige. „Sie dort.“
„Ist nicht wahr.“ Mit offenem Mund und aufgerissenen Augen starrte Emily zu der Leiche. Einige Momente lang schien sie sprachlos – und wäre die Frau auf dem Sofa nicht tot gewesen, hätte ich ihr für diese Leistung gratuliert – schließlich flüsterte sie ehrfürchtig: „Aber … aber die ist doch nicht echt, oder?“ Ihr Blick wanderte panisch zu mir. „Ich meine, sie sieht aus wie eine Wachsfigur.“
„Mein Reden“, unterstützte Trudi sie. „Ich war in Berlin in dieser Wachsfigurenausstellung und die sahen alle genauso aus wie die Frau auf dem Sofa.“
Ich schüttelte nur immer wieder den Kopf. „Glaubt mir einfach. Ich habe in meinem Leben schon genug Leichen gesehen, um … nein, Twinky! Aus! Aus!“ Mein Kater war mitten in die Blutlache spaziert und hatte angefangen, die Flüssigkeit vom Boden aufzulecken. „Du kannst dich nicht für einen Hund und eine Mücke gleichzeitig halten, Twinky“, fuhr ich meinen Kater an, der schuldbewusst innehielt.
„Ich glaube, Lou rastet aus“, murmelte Emmi laut hörbar aus ihren Mundwinkeln heraus.
„Eine Frau wurde in meinem Wohnzimmer ermordet“, herrschte ich sie an. „Natürlich raste ich aus!“
„Das weißt du doch gar nicht. Vielleicht wurde sie draußen umgebracht und dann erst hier hochgeschleppt.“ Sie sah zur Tür. „Fragt sich nur, wie der Mörder sie durch die verschlossene Tür bekommen hat.“
Das war gerade tatsächlich meine geringste Sorge. „Kennst du sie, Emmi?“, fragte ich fahrig. „Weißt du, wer sie ist?“
„Keinen Schimmer. Aber sie hat einen hübschen Nasenring. Frag mich, wo sie den hat machen lassen. Ich hatte nämlich überlegt –“
„Emmi, konzentrier dich!“
Sie verdrehte die Augen. „Ja, sorry! Ich bin schockiert, wirklich. Aber ehrlich gesagt ist der ganze gestrige Abend etwas nebelig, und mein Körper fühlt sich noch immer taub an. Ich erinnere mich nur noch an den Burlesque-Kurs und das Dreieck
.“
Richtig, das war der Name der Bar gewesen. „Trudi? Was ist mit dir? Was weißt du noch?“
„Wir waren nach dem Tanzen noch in irgendeiner komischen Bar?“, fragte die alte Dame verwirrt.
Zischend stieß ich die Luft aus und legte den Kopf in den Nacken, bevor ich mit den Händen meine Taschen abtastete. Wo war mein Handy?
Ich zwang meinen Blick nach unten, blickte mich in der Küche um, konnte das Mistding jedoch nirgendwo finden.
„Emmi, gib mir dein Telefon.“
„Wen rufst du an?“, fragte sie unsicher, reichte mir jedoch ihr Handy.
„Was glaubst du denn?“, erwiderte ich schnaubend, suchte in ihren Kontakten nach dem R und betätigte den grünen Hörer. Ich hatte schließlich so etwas wie eine Tradition, wenn ich Leichen oder Körperteile fand.
Nach dem dritten Klingeln hob jemand ab. „Egal, wer du bist, ich hasse dich.“
Ich runzelte die Stirn. Das war nicht Joshs Stimme.
„Finn?“, fragte ich verwirrt. „Bist du das?“
„Natürlich bin ich das! Du hast mich angerufen.“
„Du hast Finn unter Rispo eingespeichert?“, fragte ich Emily verwirrt.
„Na, so heißt er doch.“
„Mit Nachnamen!“
„Und? Ich hatte seinen Vornamen vergessen.“
„Du willst ihn nächsten Samstag heiraten! Er ist dein Verlobter!“
„Ja, aber als ich ihn eingespeichert habe, war er das noch nicht.“
„Egal“, sagte ich kopfschüttelnd. Ich musste mich auf das Wesentliche konzentrieren. „Finn, bist du zufällig gerade bei Josh? Ist er in deiner Nähe?“
„Ja, ich bin bei ihm. Wir haben gestern Junggesellenab–“
„Ist mir egal“, unterbrach ich ihn. „Gib mir Josh. Wo ist er?“
„Louisa, es ist elf Uhr an einem Sonntag!“, quengelte Finn. „Jeder weiß, dass man nicht so früh anruft. Ich kann nicht klar denken.“
Es war schon elf? Den Sonntagsbrunch bei meiner Mutter würden wir heute wohl verpassen.
„Finn“, sagte ich scharf und meine Stimme zitterte wie ein Fähnchen im Wind. „Das ist kein Spaß, gib mir deinen Bruder.“
„Ich glaube, der steht unter der Dusche, zumindest läuft das Wasser, aber …“
„Hol ihn.“
„Nein! Ich will ihn nicht nackt sehen“, beschwerte Finn sich.
„Dann mach halt deine beschissenen Augen zu. Wir stecken in Schwierigkeiten und ich brauche Josh.“
„Schön!“, murrte er, dann knackte es in der Leitung und im nächsten Moment war es still. Vielleicht hatte Finn das Handy abgelegt.
„Sie ist sehr hübsch, oder?“, sinnierte Trudi verträumt und starrte die Tote an. „Das Blutrot steht ihr. Passt zu den Haaren. Und ihr Körper ist sehr ästhetisch über deine Couch drapiert. Der Mörder muss eine künstlerische Ader haben. Wenn ich irgendwann getötet werden sollte, dann bitte von so jemandem.“
Interessiert sah Emily sie an. „Du bist eher der Glas-Halbvoll-Typ, oder, Trudi?“
Ich ignorierte die beiden und konzentrierte mich wieder darauf, nicht zu hyperventilieren. Ich war nicht gut darin, Blut zu sehen, war in den letzten Jahren jedoch etwas abgehärtet worden. Ein abgetrennter Finger, ein Paketbote mit einer Stricknadel im Hals, ein Vergiftungsopfer, ein zerfleischter Tierpfleger … man lernte, sich zu kontrollieren.
„Was ist los, Lou?“, drang eine dunkle Stimme durch den Hörer.
„Josh“, quietschte ich panisch. „Josh, hier liegt eine tote Frau in meinem Wohnzimmer."
Stille.
„Das ist nicht witzig, Lou.“
„Ich weiß
, dass das nicht witzig ist“, erwiderte ich, meine Stimme so hoch wie mein Puls. „Mir ist gerade auch überhaupt nicht zum Lachen zumute – genauso wenig wie der Rothaarigen auf meiner Couch, der ein Messer aus der Brust ragt!“
Einige Herzschläge lang konnte ich nur seinen Atem durch die Ohrmuschel hören, schließlich meinte er leise: „Weißt du, was ich mich frage, Lou? Warum rufst du mich nie an und sagst: Josh, ich habe heute eine vollkommen lebendige Frau im Zoo kennengelernt. Sie hatte noch alle ihre Finger, hat gestrickt und mir vom Eishockey erzählt und wird wohl noch über hundert Jahre alt. Die Sätze würde ich gerne mal hören! Nicht den ganzen anderen Scheiß.“
Ich lachte hysterisch auf. „Das nächste Mal, wenn ich jemand Lebendigen sehe, werde ich dran denken. Aber jetzt … jetzt brauche ich jemanden, der mir sagt, dass es keine gute Idee ist, ihn Ohnmacht zu fallen und darauf zu hoffen, dass die Frau weg ist, sobald ich wieder aufwache.“
„Warte. Moment“, sagte er fahrig. „Du machst wirklich keine Witze?“
„Nein!“
„Scheiße“, fasste Rispo die Situation passend zusammen. „Was zum Teufel ist passiert, Lou?“
„Ich weiß es nicht!“, rief ich aufgebracht und fuhr mit einer Hand in meine Haare. „Ich erinnere mich an nichts mehr. Irgendwer muss uns was untergemischt haben. Wir wissen alle nicht mehr, was wir gestern Nacht getan haben! Trudi und Emmi sind auch hier und haben keine Ahnung. Wir … wir waren auf dem Junggesellinnenabschied und dann anscheinend hier und dann …“ Ich schluckte. „Dann lag da plötzlich eine Tote in meinem Wohnzimmer.“
„Okay … okay“, murmelte Josh, und meiner inneren Ruhe half es überhaupt nicht, dass er sich dabei sehr nervös anhörte. Rispo wurde nicht nervös! Er war ein eiskalter Bulle. Er hatte sich immer unter Kontrolle. Wenn er
schon durchdrehte …
„Josh, was mach ich denn jetzt?“, wisperte ich ängstlich. „Ich kenne die Frau nicht! Und das Blut ist in meine Couch gesickert und Twinky hat es, glaube ich, getrunken und …“
„Beruhige dich.“
„Ich kann
mich nicht beruhigen!“, fuhr ich ihn an. „Mein Kater ist womöglich ein Vampir und ich will Nutella, keine tote Frau zum Frühstück. Und offensichtlich habe ich auch noch einen Fisch in meiner Badewanne! Ich mag Fische nicht einmal. Sie sind dämlich.“
„Ja, der Fisch ist tatsächlich beunruhigender als die Leiche in deinem Wohnzimmer.“
„Josh!“
„Ich weiß. Okay.“ Er sog zischend Luft ein. „Lou, pass auf: Fass nichts mehr an, atme tief durch – und ruf die Polizei. Es kommt besser, wenn du es bist, die die Tote meldet, und nicht ich.“
„Warum das?“
Einige Momente lang war es still auf der anderen Leitung, dann murmelte er: „Weil es dich als primäre Mordverdächtige entlasten könnte.“
„Primäre
was?
“ Ich konnte nicht verhindern, dass meine Stimme unnatürlich laut wurde. „Nur weil es mein Messer ist, das aus ihrer Brust ragt, heißt das doch noch lange nicht, dass ich sie umgebracht habe! Ich kann kein Blut sehen. Wie dumm wäre es von mir, ihr ein Messer in die Brust zu rammen? Womöglich wäre ich über ihr kollabiert.“
„Es ist … dein
Messer?“, fragte Rispo zögerlich, seine Stimme ungewohnt hoch.
„Ja, aber … warum klingst du so alarmiert?“
„Weil das nicht gut ist, Lou!“
Als ob mir das nicht klar wäre! „Erzähl mir etwas, das ich noch nicht weiß!“, blaffte ich zurück.
Wieder atmete er tief durch. „Ruf die Polizei, Lou … und sieh zu, dass Emily, Trudi und du gleich exakt dieselbe Geschichte zum Besten gebt. Und sag den beiden, dass heute nicht der Tag ist, an dem sie ihre Erlebnisse übertrieben darstellen oder hübsch ausschmücken sollten.“
„Sie würden nie …“
„Bestimmt steckt die Mafia dahinter“, sagte Trudi leise an Emily gewandt. „Ihnen scheinen die Pferdeköpfe ausgegangen zu sein. Jetzt, wo ich darüber nachdenke: Ich meine, mich daran erinnern zu können, in der Bar gestern einen Haufen zwielichtige Anzugträger gesehen zu haben, die mir schäbige Blicke zugeworfen haben. Erst dachte ich, sie wären an meinem Körper interessiert. Jetzt, da ich wieder vergeben bin, reihen sich die wollüstigen Kerle bei mir vor der Tür. Aber mit der toten Frau und allem …“ Vielsagend hob sie die Augenbrauen.
Scheiße. Josh hatte recht.
„Ich kümmere mich darum“, sagte ich und rang die kalte Panik nieder, die durch meine Adern kroch. „Bitte, komm einfach her.“
„Bin unterwegs“, sagte Josh und legte auf.