Kapitel 4
Ü
berrascht wandte ich mich um.
Zwei Männer standen im Eingang. Der eine war so groß wie Rispo, hatte dunkelbraune, kurzgeschorene Haare, tiefgraue Augen und den Körper eines leinsamensüchtigen Fitnessgurus. Der andere war so groß wie ich, hatte rötlich schimmernde Haare, blasse Haut, wässrige blaue Augen und zwei kostenlose Rettungsringe um den Bauch.
Ihn kannte ich nicht. Den Möchtegern-Adonis schon. Ich hatte ihm schon einmal eine runtergehauen.
„Und deine süße, kleine Freundin, die möglicherweise eine Menge Blut an den Fingern hat, hast du auch dabei“, redete Thilo weiter und lächelte mir eklig freundlich zu. „Wunderbar. Wirkt überhaupt nicht verdächtig, wirklich.“
Ich spürte, wie sich Josh neben mir versteifte. Das überraschte mich nicht weiter, denn er war wirklich nicht gut auf Thilo zu sprechen. Was einerseits daran liegen mochte, dass er mit seiner Ex-Verlobten geschlafen hatte, andererseits auch daran, dass Rispo seinetwegen zwei Monate vom Dienst suspendiert worden war – nachdem er das Bedürfnis gehabt hatte, Thilo krankenhausreif zu prügeln. Gut, das war vielleicht auch von Joshs Seite aus nicht die feine englische Art gewesen, aber er hatte es nun einmal persönlich genommen, dass sein bester Freund und Partner die Frau, die er liebte, gevögelt hatte. Wer konnte es ihm verdenken?
„Hey, Sösser“, sagte Rispo steinern, jede Emotion von seinem Gesicht gewischt. Er nickte dem kleinen Mann zu, der die Hand zum Gruß hob, bevor er sich an seinen Kollegen wandte. „Und Thilo … was willst du hier?“
Joshs Stimme war nicht nett, schöpfte ihr Potenzial an Unfreundlichkeit jedoch auch längst noch nicht aus.
„Auch schön, dich zu sehen, Josh. Irgendwer musste diesen Fall doch übernehmen, nachdem du abgezogen wurdest, oder?“ Das Grinsen auf Thilos Gesicht wurde breiter. „Ich hoffe, das wird eine schnelle Nummer. Ich will nächstes Wochenende in den Urlaub. Die bessere Frage ist außerdem doch: Was willst du
hier, Josh?“ Interessiert neigte Thilo den Kopf zur Seite. „Du hast nicht die Befugnis, dich in den Fall einzumischen. Wurde es dir nicht sogar strengstens untersagt?“ Gespielt nachdenklich legte er einen Zeigefinger an sein Kinn. „Andererseits finde ich es überhaupt nicht überraschend, dass du die Kontrolle nicht abgeben kannst, Rispolein. Ich freue mich sogar darüber. Ich werde ab jetzt jeden Tag dafür beten, dass du irgendetwas Dummes tust, damit ich dir wegen Strafvereitelung eine Geldstrafe aufbrummen kann.“
„Du redest zu viel, Thilo“, sagte Rispo schroff und trat einen Schritt vor, sodass nur noch ein sehr dünner Mensch zwischen sie gepasst hätte. „Mir hat es besser gefallen, als dein Kiefer noch neben deinem Ohr hing. Vielleicht sollte ich da noch mal nachhelfen.“
Thilo verengte langsam die Augen. „Ich würde aufpassen, wem du hier drohst, Josh. Falls es dir noch nicht aufgefallen ist: Das Schicksal deiner Freundin liegt in meinen Händen. Und obwohl ich sie mag“, er lächelte mir kühl zu, „sehr
sogar – dein Frauengeschmack war schließlich immer tadellos –, wird es mir überhaupt nicht wehtun, sie in den Knast wandern zu lassen.“
Ich schluckte und griff nach Joshs Hand, bevor er sie zur Gänze heben konnte. „Lass es“, flüsterte ich. „Das ist es wirklich nicht wert.“
Der rothaarige Polizist neben Thilo trat derweil unwohl von einem Bein auf das andere und sah zwischen Rispo und seinem Partner hin und her. Unsicher, was er tun sollte.
Er erinnerte mich stark an Marvin, den Recherchisten der Polizei und Rispos Superfan, mit dem ich des Öfteren zu tun gehabt hatte. Sösser war einer dieser Typen, die man schnell wieder vergaß. Und ähnlich wie Marvin schien seine Mutter ihn einzukleiden. Zumindest trug er eine blaue Anzugjacke mit dicken goldenen Knöpfen, die ihn wie einen Zirkusdirektor aussehen ließen.
„Hör auf deine Freundin“, riet Thilo Rispo. „Sonst tust du dir noch weh. Glaub mir, ich warte nur darauf, dass …“
„Ähm, Stetter“, unterbrach der Rothaarige seinen Kollegen endlich. „Sie sollten in der Öffentlichkeit vielleicht keine Drohungen …“
„Sösser, warum stehen Sie immer noch neben mir? Suchen Sie doch schon einmal die verdammte Bar ab, ja?“, blaffte Thilo genervt. „Das ist doch Ihr Job, oder nicht?“
Der Polizist schluckte hörbar, nickte jedoch. „Natürlich.“ Im nächsten Moment wandte er sich um und schritt die Sitzplätze am Rand der Bar ab.
„Wir werden jetzt gehen“, schlug ich vor. „Es ist ja offensichtlich, dass die Polizei hier alles unter Kontrolle hat. Wir haben ohnehin nur kurz vorbeigeschaut, um nach ein paar meiner verlorenen Sachen zu suchen.“ Ich legte Rispo meine Hand in den Rücken, um ihn zum Gehen zu animieren, doch er rührte sich nicht. Oh, nein. Das konnte ich jetzt wirklich nicht gebrauchen. Ein wütender Rispo war ein schlechter Rispo.
„Josh“, zischte ich. „Sei kein Arschloch.“
Ungläubig wandte er sich zu mir um. „Ich
bin das Arschloch?“
„Na ja, nein. Aber von Thilo kannst du diese Art der Reflexion nicht erwarten!“
Das brachte Josh zum Lächeln … und Thilo zum Schnauben. „Gott, das ist ja herzallerliebst“, sagte er verächtlich. „Rumpelstilzchen und die böse Königin haben zueinander gefunden. Bitte schickt mir die Fotos von euren hässlichen Babys, wenn es soweit ist. Aber bis dahin: Könntet ihr beide aufhören, mich zu nerven und mich meine Zeugen befragen lassen?“
Ich wollte gerade den Mund öffnen, um mich für das Kompliment zu bedanken, da tauchte Sösser wieder neben Thilo auf.
„Ich habe ein Handy und einen Schlüssel gefunden“, sagte er stolz und hielt die Gegenstände hoch.
Meine Augen wurden groß, als ich den Keks-Anhänger und die Hülle, die eine Schokoladentafel imitierte, erkannte. „Hey, das ist meins!“, sagte ich begeistert. „Wo haben Sie es gefunden?“
Sösser sah verwundert zu mir und nickte zu den Sitzecken am anderen Ende der Bar. „Es ist zwischen die Polster gerutscht.“
„Und Sie haben die Dinge ohne Handschuhe da rausgeholt?“, fragte Thilo mit verengten Augen und starrte auf die auffällig nackten Finger seines Kollegen.
Leichte Röte kroch seinen Hals hinauf und mit jeder verstreichenden Sekunde sah er schuldbewusster aus. „Oh, tut mir leid. Ich wusste nicht, dass sie Beweismittel sind.“
„Warum zum Teufel hat die Polizei Sie noch nicht gefeuert, Sösser?“, fragte Thilo kopfschüttelnd.
„Ähm …“ Sein Kollege wusste offensichtlich nicht, wie er darauf antworten sollte.
„Holen Sie die Beweisbeutel raus! Meine Güte, das ist doch der einzige Grund, warum ich Sie mitgenommen habe! Sie –“
„Also bekomme ich mein Handy nicht zurück?“, unterbrach ich Thilo laut, bevor er Zeit hatte, sich in seine Wut reinzusteigern.
Sein Kopf fuhr zu mir herum. „Josh liebt dich nur wegen deines Aussehens, oder?“, meinte er schnaubend. „Nicht, weil du etwas im Kopf hättest.“
Das glaubte ich nicht. Josh hatte mich schließlich schon beim Sport gesehen und war immer noch mit mir zusammen.
„Das ist ein … vielleicht?“, mutmaßte ich vorsichtig.
„Das ist ein Nein!“, korrigierte mich Thilo genervt. „Natürlich kriegst du es nicht wieder! Es ist ein mögliches Beweisstück.“
Kein Grund, direkt unhöflich zu werden. Zuckrig lächelte ich ihn an. Er sollte ein wenig netter zu mir sein, sonst müsste ich ihm wieder beweisen, dass Rispo mich auch liebte, weil ich so gut zuschlagen konnte. „Keine Sorge, wir gehen ja schon. Nichts läge mir ferner, als euch dabei zu behindern, den wahren Mörder zu finden.“
Ich hob die Hand, und diesmal reagierte Josh auf meinen Faustschlag in seinen Rücken.
Bevor wir jedoch durch die Tür verschwinden konnten, rief Thilo Josh noch einmal zurück. „Rispo“, bellte er und sein Blick hatte jeglichen Spott verloren. „Misch dich nicht in den Fall ein, ist das klar? Es ist mein Job, meine Verantwortung. Du hältst dich raus! Wenn nicht, könnte dich das eine Menge kosten. Und wenn ich dich nur einmal an einem Ort sehe, an dem du nicht sein darfst … dann werde ich persönlich dafür sorgen, dass du suspendiert wirst.“
Josh antwortete nicht. Er hielt nur ein paar Sekunden Thilos Blick stand, dann wandte er sich wortlos um und stieß die Tür auf.
Ich seufzte schwer und lief ihm eilig hinterher. Die Sache mit seiner Verlobten war eine Ewigkeit her – knapp sieben Jahre –, doch Josh war noch immer unglaublich wütend wegen der Sache. Und ehrlich gesagt kratzte dieser Umstand ein wenig an meinem Ego. Wie sehr musste er Inessa geliebt haben, wenn es ihn immer noch so mitnahm?
„Ist scheiße, wenn dir jemand sagt, dass du dich nicht in den Fall einmischen sollst, oder?“, fragte ich in dem Versuch, die Stimmung aufzulockern.
Rispo antwortete nicht. Er war offenbar nicht bereit, aufgeheitert zu werden. Stattdessen lief er einfach vor, die Schritte lang und ruckartig, direkt auf seinen Wagen zu.
Ich seufzte erneut und beschleunigte meinen Schritt. „Josh“, rief ich. „Warte auf mich.“
Er wartete nicht auf mich. Ich erreichte ihn erst, als er die Fahrertür seines Audis öffnete.
„Josh, du solltest in dem Zustand wirklich nicht fahren“, stellte ich etwas außer Atem fest. „Das wäre verantwortungslos.“
Er wandte sich düster zu mir um. „Alles okay, ich habe mich beruhigt“, quetschte er zwischen den Zähnen hervor.
„Wirklich?“, fragte ich trocken.
„Ja! Mir geht es fantastisch.“
Ich schnaubte. „Natürlich. Du hast einen Penis.“
„Das ist korrekt, auch wenn ich den Zusammenhang nicht sehe.“
„Männern geht es immer gut.
Selbst wenn ihnen ein Holzpfahl in der Brust steckt!“
„Ich liege nicht im Sterben, Lou.“
„Nein, aber dein Gesicht sieht aus, als wollte es als Dampflok anheuern.“
„Lou“, sagte Josh angespannt und sah mir endlich in die Augen. „Hast du überhaupt eine Ahnung, was das für dich bedeutet, dass Thilo leitender Ermittler in diesem Fall ist?“
Ich schluckte und hob eine Schulter. „Ich … nun, er war dein Partner, er wird doch ein guter Polizist sein, oder?“
„Er ist beschissen gut – wenn er will. Er war der beste Partner, den ich je hatte. Aber bei diesem Fall? Bei diesem Fall wird er sich keine verdammte Mühe geben, Lou“, presste er zwischen den Zähnen hervor. „Er wird dich komplett auflaufen lassen. Nur, um mich anzupissen. Und jetzt haben wir auch noch deinen Schlüssel gefunden.“ Er fuhr sich mit der Hand über die Augen und legte den Kopf in den Nacken.
Erst jetzt dämmerte mir, dass Josh gehofft hatte, weder mein Handy, noch meine Schlüssel zurückzubekommen. Die Möglichkeit, dass der Mörder ihn mir gestohlen hatte, um die Leiche in meine Wohnung zu verfrachten, fiel damit weg. Mist, da hatte ich überhaupt nicht drüber nachgedacht.
Mein Herz wurde etwa einen Zentner schwerer, doch ich ignorierte das Gefühl, so gut ich konnte. Ich musste optimistisch bleiben. In Panik auszubrechen, würde mir nicht helfen.
„Ich glaube, du machst dir zu viele Gedanken“, sagte ich langsam. „Ich weiß, im Moment sieht es schlecht aus, aber Thilo ist kein abgrundtief böser Mensch. Er mag ein Arschloch sein, aber er dient immer noch dem Gesetz. Er würde mich nicht unrechtmäßig in den Knast werfen, nur weil er dich nicht mag, Josh. Wenn es andere Spuren gibt, wird er sie verfolgen.“ Und es musste
andere Spuren geben. „Er hat schließlich einen Eid geschworen.“
Kopfschüttelnd sah Josh mich an, eine Hand aufs Autodach gelegt, die andere in die Hosentasche gestopft. „Wie zum Teufel kannst du immer noch an das Gute im Menschen glauben, nachdem dich bereits drei Psychopathen attackiert haben?“
Ich hob unschlüssig die Schultern. „Keine Ahnung … ich habe als Kind eine Menge Märchen und Zeichentrickserien gesehen. Da wird einem eingebläut, dass Wunder passieren. Und überhaupt: Psychopathen wachsen nicht auf Bäumen. Nicht jeder Mensch ist geistesgestört und böse. Wenn man Gutes erwartet, wird einem auch Gutes widerfahren.“ Stand das nicht sogar in der Bibel?
„Lou, ich liebe dich, aber das ist ausgemachter Blödsinn“, sagte Josh feierlich. „Schlimme Dinge passieren. Ohne Grund. Kinder sterben, süße Tierbabys werden zu Pelz verarbeitet, Menschen werden unrechtmäßig ins Gefängnis geworfen – und Karma interessiert das einen Scheißdreck.“
„Das solltest du unbedingt aufschreiben, das ist der Kram, aus dem berührende Kinderbücher für die ganze Familie gemacht werden.“
Josh lachte nicht. „Ich meine es ernst, Lou. Ich werde dein verdammtes Schicksal nicht dem Zufall überlassen, nur weil du an Schutzengel und die Gebrüder Grimm glaubst.“
Ich verschränkte die Arme und neigte nachdenklich den Kopf zur Seite, während ich versuchte, zwischen den Zeilen zu lesen. „Heißt das … wir schnappen den Mörder selbst?“, folgerte ich.
„Ja“, sagte Josh grimmig.
Mein Magen zog sich freudig-ängstlich zusammen. Na, dann hatte das Zusammentreffen mit Thilo ja doch noch etwas Gutes gebracht. Josh war ein tausendmal besserer Ermittlungspartner als Trudi und Emily.
Trotz allem – obwohl ich Angst hatte, obwohl das Bild der toten Frau noch immer in meinem Geist herumspukte – brach ein breites Grinsen auf meinem Gesicht aus. „Joshua Rispo läuft auf die dunkle Seite der Macht über“, flüsterte ich und legte ihm eine Hand in den Nacken. „Diese düstere Seite an dir gefällt mir.“
„Ich weiß. Du redest im Schlaf“, stellte Josh trocken fest. „Aber ich muss dich enttäuschen: Ich werde kein Batmankostüm anziehen. Was ich jedoch tun werde, ist, einen Backgroundcheck durchzuführen …“
„Von wem?“
„Dem Barmann natürlich. Hast du den Puls an seinem Hals nicht gesehen? Er hat so unglaublich schlecht gelogen, dass er die goldene Lügenhimbeere bekommen sollte. Außerdem sind ihm Tränen in die Augen gestiegen, als er gehört hat, wie Thilo über mögliche Zeugen und den Mord geredet hat. Er kennt Jorina nicht nur als Stammgast.“
Oh. Rispo hatte noch auf den blonden Kappentyp geachtet? Ich hatte ihn komplett ausgeblendet, nachdem Thilo und sein Gehilfe aufgetaucht waren.
„Okay. Wir konnten ihn nur leider nicht mehr fragen, ob er weiß, wo Emmi, Trudi und ich als Nächstes hingegangen sind.“
„Kein Problem. Darum kümmern wir uns morgen“, versprach Rispo. „Jetzt will ich erst mal ins Bett.“
Das hörte sich nach einer fantastischen Idee an.