Kapitel 5
I
ch hatte erwartet, dass ich nach den Geschehnissen des Tages unglaublich schlecht schlafen würde.
Ich wurde nicht enttäuscht.
Nach sieben Stunden wildem Herumgewälze, das nachts irgendwann dazu führte, dass Josh mich an seinen Körper zog und mit den Armen so fest umschloss, dass ich bewegungsunfähig war, öffnete ich gerädert und mit schwerem Herzen die Augen.
Den Blumenladen würde ich heute geschlossen lassen. Das hatte ich um halb vier beschlossen, als Rispo mir: „Du bist nicht allein, Lou, wir kümmern uns schon darum“, ins Ohr geflüstert hatte und ich spontan in Tränen ausgebrochen war. Ich fühlte mich heute nicht dazu in der Lage, Blumen zu verkaufen. Andererseits fühlte ich mich auch nicht dazu in der Lage, aufzustehen – aber hatte ich eine Wahl? Je eher ich aus dem Bett kam, desto eher konnten wir uns den Fall ansehen und desto eher konnte ich zu meinem normalen Leben zurückkehren, in dem ich zwar über Leichen stolperte, diese jedoch nicht in meinem Wohnzimmer lagen!
Rispo war natürlich schon längst wach und in der Küche, also war ich allein, während ich mich in seinem Schlafzimmer anzog und traurig bemerkte, dass der Kaktus, den ich ihm geschenkt hatte, mausetot auf seiner Fensterbank stand.
Es war ein Kaktus! Er brauchte doch nichts außer Licht und einen Tropfen Wasser alle paar Monate. Wie hatte Josh ihn umbringen können? Da ich jedoch einsah, dass diese Frage weit unten auf meiner heutigen Prioritätenliste stand, beschloss ich, Josh nicht mit seinem Versagen als Pflanzenpapa zu konfrontieren.
Als ich ins Wohnzimmer kam, stand Rispo an der Kücheninsel, das Telefon am Ohr, die Augenbrauen tief ins Gesicht gezogen. „Verstehe“, murmelte er. „Ja. In Ordnung.“ Er nickte, während der Gesprächspartner auf ihn einzureden schien. Schließlich sagte er: „Danke für den Anruf, ich mache mich gleich auf den Weg“, und legte auf.
„Und?“, fragte ich neugierig. „Gibt es Neuigkeiten?“
„Ja“, sagte er langsam, ließ das Telefon sinken und sah mich nachdenklich an. „Sie haben einen neuen Hauptverdächtigen.“
„Wirklich? Wen?“
„Mich.“
Ungläubig weitete ich die Augen. „Was?“
„Ja.“ Er verzog griesgrämig das Gesicht. „Ich habe einen Schlüssel, also die Möglichkeit, in deine Wohnung zu gelangen. Mein Alibi basiert auf der Aussage von vier betrunkenen Brüdern, die in meiner Wohnung kollabiert sind, also hatte ich die Gelegenheit. Ich war frustriert, dass wir Jorina nicht dranbekommen haben – und schon habe ich ein Motiv. Ich bin mit sofortiger Wirkung zwangsbeurlaubt.“
Mir wurde schwindelig. „Aber … aber das ist doch verrückt! Emily und Ariane haben auch einen Schlüssel, das muss doch gar nichts heißen.“
Rispo rieb sich kopfschüttelnd mit der flachen Hand über die Stirn und atmete schwer durch. „Ich weiß nicht. Wenn ich ehrlich bin, hätte ich mich auch verdächtigt. An Thilos Stelle sowieso. Es gab keine fremden Fingerabdrücke an deinen Schlüsseln und deinem Handy. Nur deine und die von Sösser. Deine Tür war verschlossen und es gibt keine Einbruchsspuren. Der Mörder muss einen Schlüssel gehabt haben – oder durch Wände gehen können. Sie haben dein Blut untersucht, du wurdest tatsächlich unter Drogen gesetzt. Irgendeine Roofies-Mischung. Sie wollten keine genauen Angaben machen. Der Gerichtsmediziner hat jedoch den Zeitpunkt des Todes auf zehn Minuten genau bestimmt – du warst mit ziemlicher Sicherheit während des Mordzeitpunktes in einem solchem Delirium, dass du unfähig dazu warst, jemanden zu töten. Aber weißt du, wer nicht
ausgeknockt war? Ich! Und jetzt rate mal, wessen Fingerabdrücke außer deinen auf dem Messer sind?“
„Deine“, hauchte ich und klammerte mich an der Kücheninsel fest. „Aber … du benutzt es wirklich zum Kochen! Das kann ich bezeugen!“
„Es spielt keine Rolle“, sagte Rispo trocken und gab ein freudloses Lachen von sich. „Ich bin ein so viel besserer Verdächtiger als du. Ich kenne das Opfer. Du nicht. Ich habe mehrfach laut bekundet, wie sehr mich der Drogenfall frustriert. Es wäre nicht schwer für mich gewesen, Jorina Stelz ebenfalls unter Drogen zu setzen und dann auf deiner Couch zu ermorden.“
Ich starrte Josh mit offenem Mund an. Seine Worte hallten in meinem Kopf wider … und unfreiwillig musste ich laut lachen. Mir war vollkommen klar, dass das unpassend war, aber ich konnte nicht anders. Diese Situation war einfach nur absurd. „Was ist so witzig?“, fragte Rispo düster.
„Na ja, du wärst ein richtiger Scheiß-Freund, wenn du mir anstatt Blumen eine Leiche mit in meine Wohnung bringen würdest!“, stellte ich fest und legte eine Hand auf meinen Mund, um das Lachen zu ersticken.
„Du bist dabei, hysterisch zu werden, oder?“, fragte Josh und durchleuchtete mich skeptisch.
Möglich. Ich konnte es nicht mit Sicherheit sagen. Alles, was ich wusste, war, dass ich mir schon zum dritten Mal in den Arm kniff und noch immer nicht aus diesem dummen Traum erwachte.
„Fuck“, stieß Rispo aus, legte den Kopf in den Nacken, atmete dreimal tief durch … und als er mich wieder ansah, war jegliche Wut, Verzweiflung und Frustration aus seinem Gesicht verschwunden. Denn mehr brauchte Josh nicht, um sich zusammenzureißen: drei Atemzüge und ein Schimpfwort. Man durfte sich nicht täuschen lassen, er kochte vor Wut, das erkannte man daran, dass seine Augen dunkler und sein Blick härter als sonst waren. Aber andere Anzeichen gab es nicht. Er war die reinste Zirkusattraktion.
„Okay, ich muss zum Präsidium, eine Aussage aufnehmen, versuchen mein Alibi zu untermauern. Meinen Brüdern einreden, dass sie nicht für mich lügen sollen, weil sie sonst wegen Falschaussage verknackt werden … das wird ein lustiger Tag.“ Er legte die Hände um mein Gesicht und küsste mich sanft. „Kommst du klar?“
Ich war mir nicht ganz sicher, nickte jedoch trotzdem. „Thilo denkt doch nicht wirklich, dass du der Mörder bist, oder?“, fragte ich leise. „Ich meine … er kennt dich. Du liebst das Gesetz. Du würdest es nicht brechen.“
Josh hob eine Augenbraue. „Ich habe vor, zusammen mit dir unautorisierte Recherchen anzustellen …“
„Ja, aber das liegt doch nur an meinem schlechten Einfluss auf dich! Dafür können sie dir doch nicht die Schuld geben.“
Rispo schmunzelte. „Ich werde sichergehen, das in meiner Aussage zu berücksichtigen.“
Fünf Minuten später war er aus der Tür.
Ich blieb in der Küche zurück, unsicher darüber, was ich als Nächstes tun sollte, als Rispos Telefon klingelte. Er war einer der wenigen Menschen, die ich kannte, die noch einen Festnetzanschluss hatten. Ich war schon vor Jahren nur aufs Handy übergegangen. Andererseits benutzte er ja auch immer noch einen Notizblock, er war in manchen Bereichen einfach etwas altmodisch. Ich beugte mich über den Küchentresen und sah auf die Anruferkennung. Unbekannte Nummer stand auf der digitalen Anzeige.
Ach, schlimmer als eine Leiche im Wohnzimmer konnte der Anrufer nicht sein. Ich hob ab. „Bei Rispo?“, meldete ich mich.
„Lou! Was zum Teufel ist bei dir los?“, rief meine beste Freundin Ariane aufgebracht durchs Telefon. „Die Polizei war eben bei mir und hat mich verhört! Sie wollte wissen, was wir Samstagnacht so Wichtiges am Telefon besprochen haben. Steckst du in Schwierigkeiten?“
„Wir haben Samstagnacht miteinander telefoniert?“, fragte ich verwirrt.
„Natürlich. Weißt du das nicht mehr?“
„Ich weiß eine Menge nicht mehr, Ari“, sagte ich entschuldigend. „Ich wurde unter Drogen gesetzt, damit jemand in Ruhe eine Frau auf meiner Couch töten konnte.“
Abrupte Stille senkte sich über die andere Seite der Leitung.
„Nein!“, stieß Ariane schließlich schockiert aus.
„Doch.“
„Aber wer tut denn so etwas?“ Ihre Stimme überschlug sich.
„Wenn wir das wüssten, sähe meine Situation sehr viel besser aus“, bemerkte ich wahrheitsgemäß. „Aber wir haben da einen kleinen Informationsengpass.“
„Scheiße.“ Ari sog zischend Luft ein. „Wofür zum Teufel bestraft dich das Universum?“
Eine gute Frage, auf die ich wahrscheinlich niemals eine Antwort bekommen würde. Irgendwann innerhalb der letzten Jahre musste ich den Gott der Leichen sehr wütend gemacht haben. „Ich habe einen kompletten Filmriss, Ari“, sagte ich seufzend und lehnte mich mit dem Rücken gegen die Kücheninsel. „Wir haben Samstagnacht wirklich miteinander gesprochen? Worüber haben wir …“ Ich brach ab und schüttelte den Kopf. „Nein, weißt du was, ich komm vorbei.“ Ich wollte mit meinen Gedanken jetzt nicht allein sein.
„Okay, ich fahre jetzt allerdings zum Laden los.“ Ariane führte die Maisonette du Chocolat
, einen schokoladigen Feinkostladen in der Kölner Innenstadt.
„Umso besser, ich könnte eine Pralinendröhnung gebrauchen. Bis gleich.“
Als ich eine halbe Stunde und drei Geduldsfäden später einen Parkplatz gefunden hatte, der nicht zwei Kinderriegelpackungen in der Stunde kostete, rauchte mein Kopf. Ich war unfähig dazu, die Fragen zu ignorieren, die sich penetrant immer wieder in mein Bewusstsein schoben.
Wo kam der Glitzer her? Was hatte es mit dem Goldfisch in meiner Badewanne auf sich? Warum sollte es jemand auf mich abgesehen haben?
Eine Frage jedoch war besonders lästig: Wie zum Teufel war jemand ohne Schlüssel und Vorschlaghammer in meine Wohnung eingedrungen?
Ich wohnte im ersten Stock, und selbst wenn jemand eine Leiter benutzt hatte: Meine Fenster waren allesamt verschlossen gewesen. Solange es niemanden gab, der sich in eine Ameise verwandeln und durch den Riss in meiner Badezimmerwand quetschen konnte, gab es keine zufriedenstellende Antwort darauf.
Emily musste ihren Schlüssel noch haben – wie sonst waren wir Samstagnacht wieder bei mir reingekommen? –, aber vielleicht war Ariane ihr Schlüssel ja abhandengekommen. Mit diesem hoffnungsvollen Gedanken überquerte ich zügigen Schrittes den Heumarkt und bog in die Seitengasse ein, in der Ariane ihren Laden hatte. Ich blinzelte verdutzt, als ich von Weitem sah, dass Ari eine Art grell-orangene, birnenförmige Vase vor ihrer Confiserie aufgestellt hatte. Erst als ich nur noch zehn Meter vom Eingang entfernt war, erkannte ich, dass es sich gar nicht um einen Gegenstand handelte. Es war Trudi, die offenbar eine Karriere als Kürbis anstrebte. Das leuchtende Ballonkleid, das sie trug, war modisch noch hinter einem Kleid aus Fleisch und einem Bärenfellumhang anzusiedeln.
Neben ihr stand Emily, die finster in meine Richtung sah. Sie wirkte wütend. Andererseits kniff sie die Augen vielleicht auch nur so missmutig zusammen, weil sie von Trudis Outfit geblendet wurde. Wer konnte das schon so genau sagen?
„Du sagtest, du rufst uns an!“, begrüßte sie mich vorwurfsvoll.
Ja, aber ich hatte meiner Mutter mit achtzehn auch erzählt, dass ich nach Alkohol roch, weil ich das Badezimmer mit Wodka geputzt hätte. Mir war einfach nicht zu trauen.
„Ich hatte mein Handy nicht“, sagte ich entschuldigend. „Das ist jetzt offizielles Beweismittel. Und woher wusstet ihr überhaupt, wo ihr mich finden könnt?“
Emmi schnaubte verächtlich. „Oh, bitte. Du bist gestresst und geizig und brauchst Schokolade. Ariane ist deine billigste Möglichkeit, an einen Nougat-Schuss zu kommen.“ Dafür, dass Emily letztes Jahr meinen Geburtstag vergessen hatte, kannte meine Schwester mich überraschend gut. „Also, warum willst du nicht, dass wir mit dir auf Mörderjagd gehen?“
Weil ich an meinem Leben hing und Emily das letzte Mal sogar darin versagt hatte, Schmiere zu stehen – obwohl das, abgesehen davon, Nachos in die Mikrowelle zu tun, die einfachste Aufgabe der Welt war!
„Schick siehst du aus, Trudi“, versuchte ich vom Thema abzulenken und nickte der alten Dame anerkennend zu.
„Oh, danke. Ich dachte, ich probiere die Farbe Orange mal aus, damit es für mich nicht eine solche Umgewöhnung wird, falls wir hinter schwäbischen Gardinen landen.“
„Schwedische Gardinen“, korrigierte ich sie. „Und du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen. Niemand verdächtigt dich.“ Und die Farbe ihrer Kleidung wäre im Knast das letzte ihrer Probleme.
„Schwedisch?“ Trudi kräuselte verwirrt die Nase. „Aber das ergibt keinen Sinn. Die Schweden machen wunderbare Gardinen! Warum sollte man nicht mehr Zeit dahinter verbringen wollen? Warst du noch nicht bei Ikea? Jeder weiß hingegen, dass die Schwaben nicht mit Stoff umgehen können. Warum sonst sollten sie Teppich sagen, wenn sie Bettdecke meinen?“
Auf die Frage hatte ich leider keine passende Antwort und da ich die Schwaben nicht zu Unrecht inkriminieren wollte, nickte ich nur vage.
„Gott, heute reden alle Menschen Schwachsinn!“, zischte Emily gereizt.
„Alle? Wer denn noch?“, wollte ich verwirrt wissen.
Sie presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. „Ich will nicht drüber reden“, murrte sie und zwängte sich an mir vorbei in den Laden.
Trudi schnalzte mit der Zunge, murmelte: „Junge Leute“, und zusammen folgten wir ihr.
Es gab nicht viele Dinge auf der Welt, die ich mehr zu schätzen wusste, als die Erfindung von Schokolade.
Die Symbolik des Mittelfingers befand sich wohl sehr weit oben auf meiner Liste. Von Rispo initiierte Orgasmen noch ein paar Plätze davor. Das Video, auf dem ein Pandababy nieste, war auch in den Top Ten zu finden. Aber direkt danach kam das Kind aus der schönsten und sinnvollsten Ehe der Welt: der zwischen Kakaobohnen und Zucker.
Und Arianes Geschäft war ein Schrein für den Grund, warum meine Oberschenkel Wackelpudding imitierten, wenn ich rannte. Sie hatte Schokolade zur Kunst und diese Kunst zu ihrem Beruf gemacht – und allein das machte sie schon zu einer Freundin fürs Leben. In den Regalen neben mir reihten sich Monumente aus Schokolade. Die Freiheitsstatue. Der Eiffelturm. Der Kölner Dom. Alles, was im echten Leben eben auch aus Schokolade bestehen sollte.
„Was machen wir denn jetzt?“, wollte Emily missmutig wissen, während der runzlige Kürbis mit den pinken Haaren bestätigend nickte. So als hätte er sich dieselbe Frage gestellt. „Ich habe mich extra krankschreiben lassen, um mitzurecherchieren.“
Emily machte seit letztem Herbst eine Ausbildung zur Floristin. Zugegebenermaßen nahm sie die Berufsschule und ihren Job ernster als so manches andere in ihrem Leben – was jedoch nicht viel hieß, da es dort nicht viel Platz nach unten gab. Emilys Prioritätenliste sah in etwa so aus:
1. Spaß haben.
2. Vom Spaß erholen.
3. Mehr Spaß haben.
Das war eine fantastische Liste für eine Fünfjährige, aber für eine Frau Mitte zwanzig, die sich von Marihuana und Schokobons ernährte, eher problematisch. Ich hatte immer geglaubt, dass sie irgendwann einen sehr ernsten, sehr reichen Mann kennenlernen würde, der sie etwas erdete. Doch jetzt wollte sie Finn heiraten, den ich zwar unglaublich gern hatte – er war schließlich ein Rispo, und die waren alle recht liebenswert –, dessen langfristiges Ziel es jedoch war, jeden Burger aus jedem Fast-Food-Restaurant probiert zu haben. Ambitioniert, kein Zweifel, aber auch irgendwie … dämlich. Andererseits: Emmi hielt diesen Plan für die beste Idee seit Kondomen, also was wusste ich schon darüber, was ihr Traummann für Eigenschaften mitbringen musste?
„Nun, ich weiß nicht, was ihr tun werdet, aber ich werde einen Haufen Pralinen essen und Ariane danach fragen, was ich ihr gestern am Telefon erzählt habe“, meinte ich leichthin.
„Gute Idee“, sagte Emmi und ihre Miene erhellte sich ein wenig. „Ich hab noch nicht gefrühstückt. Ich musste heute Morgen etwas überstürzt aufbrechen.“
„Warum?“, wollte Trudi wissen. „Das Frühstück ist die wichtigste Mahlzeit des Tages. Den Mitternachtssnack jetzt mal außen vor gelassen.“
Emmi verzog griesgrämig ihr Gesicht. „Hatte ich nicht erwähnt, dass ich nicht darüber reden will? Lasst uns lieber Schokolade essen.“
Trudi und ich nickten aufgrund dieses fundierten Vorschlags und wagten uns weiter in den Laden hinein.
Meine beste Freundin – blond, schlank und trotzdem der netteste Mensch, den ich kannte – stand hinter dem Verkaufstresen und verstaute gerade die Pralinen in der gläsernen Auslage vor ihr. Als sie mich erblickte, flog ihr Blick besorgt über meine Erscheinung, so als suche sie nach einer offenen Stichwunde oder zumindest einem Pfeil in meiner Brust. „Dir geht es gut“, stellte sie schließlich erleichtert fest.
Ja, zumindest von außen. „Ich bin es ja nicht, die auf meiner Couch erstochen wurde“, meinte ich achselzuckend.
Kopfschüttelnd sah Ariane mich an, bevor sie drei Champagner-Trüffel-Pralinen auf den Tresen stellte. „Die gehen aufs Haus. Kriegt heute jeder, der eine Leiche in seiner Wohnung gefunden hat.“
Emily und Trudi, die sich offensichtlich angesprochen fühlten, langten sofort zu. Ich konnte es ihnen nicht verübeln und beeilte mich, die letzte Praline zu nehmen. „Hab ich dich wirklich angerufen?“, hakte ich unsicher mit vollem Mund nach. „Wir drei haben leider einen kleinen Filmriss.“
„Verrückt“, bemerkte Ari schlicht. „Du hast dich sogar zweimal bei mir gemeldet. Einmal, um mir kichernd mitzuteilen, dass ihr gleich in einen Stripclub weiterziehen würdet, um eure neugewonnenen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen, und ob ich nicht mitkommen wollte und das zweite Mal keine Minute später, um mich zu fragen, ob es in Deutschland Ein-Euro-Scheine gäbe, Münzen auf Go-go-Tänzerinnen zu werfen, wäre so respektlos.“
Die Praline blieb mir im Halse stecken und ich fing an zu husten. „Wir sind in einen Stripclub gegangen?“ Und ich erinnerte mich nicht mehr daran? Verdammt! Da machte ich mal was Aufregendes und verpasste es komplett.
„Ja. Ihr wolltet in irgendeinen Laden Namens Pussycat
, den euch jemand in irgendeiner Bar empfohlen hat. Emmi und Trudi waren begeistert, weil sie nackte Frauen schön finden, und du fandest die Idee super, weil du gehört hast, dass sie dort ein großartiges Buffet haben.“
Mhm. Ja, das hörte sich nach mir an.
„Hast du das der Polizei genau so erzählt?“, hakte ich nach.
Sie nickte und legte diesmal Knusper-Krokant-Pralinen auf den Tresen, die schneller verschwanden als Pumuckl, wenn sich Besuch ankündigte. „Hätte ich das nicht tun sollen?“, fragte sie unsicher und strich sich eine blonde Strähne hinters Ohr. „Sie haben mir ehrlich gesagt etwas Angst gemacht und ich wusste ja nicht, dass du in Schwierigkeiten steckst, also …“
Ich tätschelte ihre Hand und lächelte sie beruhigend über den Tresen hinweg an. „Alles gut. Wir sind absolut unschuldig und haben deswegen keine Geheimnisse vor der Polizei. Haben wir dir sonst noch irgendetwas verraten? Oder eine rothaarige Frau namens Jorina erwähnt, die wir mit nach Hause nehmen wollten? Oder eine Person, die uns etwas in den Drink gemixt hat?“
„Nein. Aber es hat laute Musik im Hintergrund gespielt. Ihr wart, glaube ich, noch immer in der Bar.“
Das ergab Sinn, da ich mein Handy ja auch dort hatte liegen lassen. „Okay. Und mein Ersatzschlüssel wurde dir nicht zufällig geklaut?“
Sie schüttelte entschuldigend den Kopf.
Mist. Frustriert atmete ich durch und sog dabei so viel Schokoladengeruch ein wie nur möglich. Zur Beruhigung.
Wie zum Teufel war das möglich? Hatten wir die Tür einfach offen stehen lassen und jemand war hindurchgeschlüpft?
„Die Tote heißt Jorina?“, wollte Emmi neugierig wissen und beugte sich über meine Schulter. „Woher weißt du das?“
„Rispo kannte sie. Sie war Verdächtige in einem seiner Fälle. Eine Tänzeri–“ Ich brach ab. Moment. Josh hatte erwähnt, dass Jorina Stelz Tänzerin gewesen war. Er war jedoch nicht dazu gekommen, ihre Berufsbeschreibung genauer zu erläutern. Was, wenn sie Go-go-Tänzerin war? Wenn wir sie im Stripclub getroffen hatten? Wenn wir mit ihr gequatscht, sie sympathisch gefunden und zu mir nach Hause eingeladen hatten? Und ihren Mörder gleich mit? Zugegeben, dieser Tathergang war etwas weit hergeholt, aber mir waren schon verrücktere Dinge passiert. Es konnte nicht schaden, sich ein paar glitzernde, halbnackte Tänzerinnen anzusehen. Außerdem war bald Mittag und wenn das Buffet so gut war, wie es mir offenbar versprochen worden war …
„Gehen wir in den Stripschuppen?“, fragte Trudi und ich konnte nicht umhin, zu bemerken, dass sie hoffnungsvoll klang. „Vielleicht erinnern sie sich noch an uns.“
„Fände ich gut“, stimmte Emmi sofort mit ein. „Ich finde es schade, dass ich mich nicht an meinen ganzen Junggesellinnenabschied erinnere und die Stripperinnen würden mich bestimmt auf schöne Gedanken bringen. Und du magst doch Katzen, Lou. Pussycat
scheint ein Ort nach deinem Geschmack zu sein.“
Unschlüssig sah ich zwischen meiner Schwester und meiner ehemaligen Angestellten hin und her, bevor ich mich hilfesuchend an Ariane umwandte. Die hob abwehrend beide Hände in die Höhe. „Ich hab dir schon gratis Schokolade gegeben. Ein Ratschlag würde extra kosten“, informierte sie mich.
Ich seufzte laut. Was blieb mir schon für eine Wahl? „Schön, wir fahren hin“, knickte ich ein. „Aber ihr verhaltet euch unauffällig!“ Drohend richtete ich meinen Zeigefinger auf sie.
„Klar“, sagte Trudi und fuhr sich durch ihre pinken Haare, bevor sie ihr grellorangenes Kleid glattzog. „Ich bin eine sehr unauffällige Person, Lou. Fast unsichtbar. Das weißt du doch.“
„Ich ziehe mich manchmal an wie eine Stripperin“, bot Emily an. „Ich werde da bestimmt ganz gut reinpassen. Du hingegen …“ Vielsagend sah sie an meinen Jeans hinab. „… solltest dir Gedanken machen. Du ziehst dich an wie ein Bauarbeiter und passt genauso gut in den Stripclub wie eine Selleriestange in deine Hand.“
Ach, ich kam klar. Ich konnte gut lügen.
„Oh, ich hoffe übrigens, euch macht es nichts aus, dass ich Manfred eingeladen habe, beim Fall mitzumachen?“, sagte Trudi mit leuchtenden Augen. „Er sollte gleich hier sein. Er hat noch nie einen Mord untersucht und wäre gerne dabei. Außerdem meint er, dass wir am Samstag kurz bei seinem Konzert waren. Er kann uns vielleicht dabei helfen, unser Gedächtnis anzukurbeln.“
„Wann soll das gewesen sein?“, fragte Emily.
„Ach, irgendwann um kurz nach zwölf“, meinte Trudi und hob die Achseln.
„Konzert? Wirklich?“, fragte ich skeptisch. Da sollten wir auch noch gewesen sein?
Trudi streckte stolz ihre Brust raus. „Hatte ich nicht erzählt, dass mein Manni in einer Band spielt? Er ist ein richtiger Bad Boy. Er hat sogar ein Piercing. Na ja, eigentlich nur ein Loch im Ohr, das er sich während der Schulzeit aus Versehen mit einem Zirkel zugefügt hat, aber das zählt!“
Emmi grinste breit. „Ah, ein Rockstar. Was spielt er denn?“
„Triangel.“
Emily hob eine Augenbraue, während ich nur die Lippen zusammenpresste.
Trudi kicherte laut und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ihr solltet eure Gesichter sehen! Das war ein Scherz. Natürlich spielt Manni nicht die Triangel. Ich würde mich doch nicht mit einem solchen Langweiliger zufriedengeben“, sagte sie wichtigtuerisch. „Mein Manfred ist durch und durch Rock ’n’ Roll. Er spielt das Akkordeon.“