Kapitel 15
A
brupt richtete ich mich in den Kissen auf. „Mama?“, fragte ich perplex.
„Ja, natürlich ist hier deine Mutter“, antwortete sie ungehalten. „Wen sollte dein Vater denn sonst betrügen?“
„Ich weiß nicht, ich … was?“ Blinzelnd zog ich ein Kissen auf meinen Schoß, um es fest gegen meine Brust zu drücken. „Wie kommst du darauf, dass Papa … dass er … das ist absurd, Mama!“
Mein Vater war der liebste, ruhigste, genügsamste und netteste Mensch der Welt. Das einzig Verrückte, was er jemals in seinem Leben getan hatte, war meine Mutter zu heiraten. Und klar, meine Eltern waren vielleicht kein Paar, das mit seiner Liebe hausieren ging, aber … ich hatte dennoch immer das Gefühl gehabt, dass sie existierte!
„Er betrügt mich, Lou. Ich weiß es“, sagte sie hart.
„Also hat er es dir gesagt?“, folgerte ich schockiert.
„Nein. Natürlich nicht! Wer würde so etwas schon zugeben?“
Nun … mein Vater! Er hatte doch auch zugegeben, dass er als Kind Bayern-Fan gewesen war. Und das war als Kölner noch sehr viel skandalöser, als es eine Affäre mit einer Stripperin wäre.
„Ich weiß es einfach, Lou. Genaueres erkläre ich dir, wenn du hier bist.“
„Ähm … was?“ Mein Vokabular war zugegebenermaßen gerade etwas beschränkt, aber … was zum Teufel?!
„Du holst mich ab. Du bist so was wie eine Detektivin! Ich will, dass du den Fall untersuchst.“
„Ich untersuche Mordfälle, keine Betrugsfälle. Ich habe gar keine Erfahrung im Nachspionieren. Vielleicht solltest du einfach mit Papa reden und …“
„Wart’s ab“, unterbrach mich meine Mutter laut. „Möglicherweise entwickelt sich das Ganze ja noch zu einem Mordfall. Bis gleich. Und zieh dich schwarz an. Ich will nicht erwischt werden.“ Im nächsten Moment legte sie auf.
Fassungslos starrte ich auf den Hörer in meiner Hand. Es schien so, als hätte ich herausgefunden, warum meine Mutter am Rad drehte. Und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als dass ich unwissend geblieben wäre.
Mir war nicht klar gewesen, dass meine Mutter Fan von schlechten Krimis war – diese Erkenntnis traf mich erst, als sie aus dem Haus kam, gekleidet wie eine verbrecherische Comicfigur. Sie trug eine riesige Sonnenbrille, die sie wie eine Fliege auf Drogen aussehen ließ, dunkle, klobige Stiefel und eine Montur aus schwarzer Jeans und schwarzem Pullover. Als wäre es nicht schon schockierend genug, sie in Jeans, der Hose der Menschen ohne Rückgrat und Kontrolle über ihr Leben, zu sehen, hatte sie um ihren Kopf ein schwarzes Tuch geschlungen, das die Wandlung der bekifften Fliege zur trauernden bekifften Fliege perfekt machte.
Kopfschüttelnd sprang ich aus dem Auto. „Mama“, zischte ich. „So kannst du draußen nicht rumlaufen! Die Nachbarn denken noch, dass du auf der Suche nach ein paar Kindern bist, um sie zu entführen!“
„Ach, wen interessiert’s“, sagte sie pampig und machte eine wegwerfende Handbewegung, bevor sie schnurstracks an mir vorbeilief, die Motorhaube umrundete und sich auf dem Beifahrersitz niederließ.
Mir klappte die Kinnlade herunter und fassungslos starrte ich ihr nach. So hatte ich meine Mutter noch nie erlebt! Sie atmete dafür, den Nachbarn, ihren Freundinnen, nicht zuletzt der ganzen Welt, zu zeigen, was für ein zivilisierter Vorzeigemensch sie war. Und bis gerade war mir nicht klar gewesen, wie viel Sicherheit mir das gegeben hatte. Doch jetzt war offensichtlich die Anarchie ausgebrochen und ich war ratlos, was ich tun sollte, um alles wieder geradezurücken. Doch ich musste
!
Erst meine Mutter, dann meine Beziehung zu Rispo, dann der Mord. Eins nach dem anderen.
Schwer durchatmend ließ ich mich hinters Lenkrad sinken und sah meine Mutter fest an. „Mama“, flüsterte ich eindringlich. „Was ist passiert? Warum denkst du, dass Papa dich betrügt? Er ist überhaupt nicht der Typ dafür!“
„Du kennst deinen Vater nicht so, wie ich ihn kenne, Louisa“, sagte sie und reckte das Kinn. „Er ist ein gutaussehender Mann – und das weiß er nur allzu genau. Weshalb, glaubst du, geht er so gerne einkaufen? Weil er mit den Kassiererinnen flirtet!“
Ich verzog das Gesicht. Das konnte ich mir kaum vorstellen. „Aber Flirten ist doch harmlos. Er würde nicht –“
„Er hat mich angelogen, Louisa“, schnitt sie mir das Wort ab, den Blick stur durch die Windschutzscheibe gerichtet. „Er hat mir gesagt, dass er auf irgendeiner Fortbildung in der Eifel ist. Irgendetwas für die Hospizausbildung. Aber eine Freundin hat ihn Samstagabend im Merry Hotel
im Technologiepark gesehen. Warum sollte er ins Hotel gehen, wenn nicht um eine Frau zu verführen, Louisa? Kannst du mir das sagen?“
Ich schluckte hörbar. Zugegeben, in Mordfällen war ich immer Verfechterin der Affären-Theorie gewesen, aber jetzt, da es um meinen Vater ging … „Er könnte alles dort machen, Mama. Vielleicht wollte er sich nur ein paar ruhige Tage gönnen …“
„Du sollst nicht lügen, Lou. Hat dir der Konfirmationsunterricht überhaupt nichts beigebracht?“
Seufzend schnallte ich mich an. Ja, okay, ich glaubte meinen Worten ja selbst nicht. Aber sicherlich gab es irgendeine andere simple Erklärung dafür, dass Papa sich ins Hotel abgesetzt hatte.
„Ich habe nichts gefunden“, sagte Mama leise, und überrascht wandte ich mich zu ihr um.
„Was?“
„Ich habe das Haus auseinandergenommen, auf der Suche nach irgendeinem Hinweis seiner Untreue, habe aber rein gar nichts gefunden.“
Oh! Das war der Grund, warum das Haus ausgesehen hatte, als hätte die Hölle eine neue Zweigstelle aufgemacht.
„Ich habe sogar seine verdammten Zigarren auseinandergerollt, ich habe eine Putzhilfe bestellt, die mitgesucht hat – und trotzdem habe ich nichts gefunden“, fuhr sie hitzig fort. „Er ist gut, das muss ich ihm lassen. Verdammt gut. Aber …“
Mit offenem Mund starrte ich meine Mutter an.
„Was?“, wollte sie bissig wissen.
„Du hast verdammt
gesagt“, bemerkte ich starr. „Zweimal!“
„Welches Wort hätte ich sonst benutzen sollen?“, fragte sie gereizt. „Beschissen
ist so furchtbar vulgär.“
Oh mein Gott. Jetzt war es amtlich. Sonntagvormittag musste sich irgendeine Art von Paralleluniversum aufgetan haben. Anders konnte ich mir all das nicht erklären.
„Mama, denkst du nicht, dass du Papa einfach anrufen könntest, um ihn zu fragen –“
„Nein“, unterbrach sie mich. „Das denke ich nicht.“
„Aber –“
„Nein!“, wiederholte sie laut und wandte den Kopf, um mich intensiv anzustarren. „Louisa. Ich weiß, dass du deinen Vater lieber magst, aber mir würde es viel bedeuten, wenn du mir diesen Gefallen tun könntest.“
„Ich … was?“ Mit großen Augen sah ich sie an. „Ich mag Papa nicht lieber, ich …“
„Doch, natürlich.“ Sie lächelte schwach. „Er ist der lustige Elternteil. Der lockere Elternteil. Der Elternteil, der nie auf die Idee kommen würde, seine engelsgleichen Kinder zu kritisieren. Jeder mag diesen Teil lieber.“
Ich öffnete den Mund, um ihr zu widersprechen, doch fand nicht die richtigen Worte. Denn natürlich hatte meine Mutter recht. Ich war oft von ihr genervt, weil sie sich in mein Leben einmischte. Ich ärgerte mich über ihre Kritik an mir. Ich hatte manchmal ein wenig Angst vor ihr.
Aber das bedeutete doch nicht, dass ich meinen Vater lieber hatte! Es war nur eine andere Art der Gefühle, die ich ihr entgegenbrachte. Aber wie sollte ich ihr das erklären?
„Okay“, flüsterte ich und drückte ihre Hände, die sie in ihrem Schoß verschränkt hielt. „Wir fahren zum Hotel und spionieren ihm hinterher. Dann werden wir ja sehen, ob er sich mit einer Frau trifft.“
Meine Mutter nickte knapp. „Gut. Und kein Wort von dem hier zu deinen Geschwistern! Sie sind nicht so stark wie du.“
Verblüfft öffnete ich den Mund. „Du hältst mich für stark?“
„Natürlich“, sagte sie irritiert und schnallte sich an. „Du hast bereits vier Leichen gesehen und kannst nachts noch immer schlafen. Glaub mir, Jannis und Emily säßen schon längst beim Psychologen auf der Couch. Und jetzt fahr, es ist schon acht. Wer weiß, was dein Vater um diese Uhrzeit so treibt!“
Das Merry Hotel
lag etwas außerhalb der Innenstadt in Müngersdorf zwischen einem Mercedes-Benz-Verkäufer und einem Bildungszentrum, das Abendkurse jeglicher Art anbot. Trotz seiner drei Sterne war das Hotel ein recht ramponiert aussehender beiger Betonklotz mit einem großen, zwielichtig beleuchteten Parkplatz und einem „Garten“, der aus einer Eiche und einer Rutsche bestand.
„Hier will eine deiner superreichen, edlen Freundinnen Papa gesehen haben?“, fragte ich zweifelnd und parkte rückwärts in der dunkelsten Ecke, die ich finden konnte.
„Ja und dort steht sein Auto“, bemerkte meine Mutter knapp und nickte geradeaus auf die Parkreihe vor uns.
Scheiße, tatsächlich. Der dunkelblaue VW Golf meines Vaters stand keine hundert Meter von uns entfernt da. Ich erkannte ihn an der Schramme an der Fahrertür und der Delle in der Motorhaube. Die Schramme kam von meiner Nichte Lara, die ein waghalsiges Wendemanöver mit ihrem Bobbycar in der Einfahrt ihrer Großeltern geübt hatte. Die Delle von Jannis’ Faust, weil er es ihr verboten und sie nicht auf ihn gehört hatte.
Ich schluckte und räusperte mich. „Aber das muss immer noch nichts heißen, Mama.“
„Es heißt zumindest, dass er mich angelogen hat“, erwiderte sie mit seltsam belegter Stimme.
Dagegen konnte ich leider nicht argumentieren.
Unschlüssig darüber, wie unser nächster Schritt aussehen würde, schaltete ich den Motor aus und kaute auf meiner Unterlippe herum. Mein Vater war ein guter Mensch. Ein ruhiger Mensch. Ein langweiliger Mensch. Er würde Mama doch nicht betrügen … oder doch?
Er war im Hotel, weil er … sich als Hoteltester etwas dazuverdiente. Oder weil Mama schnarchte und er nur ein paar ruhige Nächte genießen wollte. Oder … oder … Gott, mir fiel nichts Besseres ein.
Ich war immer noch fieberhaft auf der Suche nach einer simplen Erklärung für die ganze Sache, als meine Mutter die Stille brach. „Habe ich dir jemals erzählt, wie dein Vater und ich uns kennengelernt haben, Louisa?“
Überrascht wandte ich mich zu ihr um. „Nein. Hast du nicht. Wart ihr nicht auf derselben Schule? Ich dachte, dort hättet ihr euch ineinander verliebt.“
Meine Mutter schüttelte den Kopf. „Dein Vater war ein paar Klassen über mir, dort sind wir uns nicht über den Weg gelaufen.“
„Wo habt ihr euch dann getroffen?“
„In der Schneiderei meiner Mutter. Als dein Vater bereits auf der Universität war. Dein Vater war einer der wenigen Jungen unseres Dorfes, die klug genug waren, um auf die Universität zu gehen.“ Stolz reckte sie ihr Kinn, den Blick noch immer auf Papas Auto gerichtet. „Jedenfalls bin ich meiner Mutter, seit ich vierzehn war, im Geschäft zur Hand gegangen.“
Das erklärte zumindest, warum sie immer den Kopf schüttelte, wenn ich Hosen trug, die aus modischen Gründen Risse hatten.
„Sie hat praktisch für das ganze Dorf die Kleidung ausgebessert – so wie auch meine und die meiner Geschwister. Meine Güte, unsere Hosen und Pullover sahen aus wie Flickenteppiche, und deine Oma hat sie uns erst wegwerfen lassen, wenn sie wortwörtlich auseinandergefallen sind. Wir hatten nicht viel Geld, meine Mutter war alleinerziehend mit drei Kindern, deshalb haben wir uns nicht beschwert. Auch wenn die anderen in der Schule sich über die Ironie des Ganzen lustig gemacht haben. Die Tochter der Schneiderin war diejenige mit der ramponiertesten Kleidung. Zum Totlachen.“ Sie lächelte knapp, doch es war ein trauriges Lächeln. „Meine Mitschüler haben keine Gelegenheit ausgelassen, bei mir im Laden vorbeizuschauen und mir ihre dreckigen Socken zu geben, damit ich sie ausbessern konnte. Und ich habe sie lächelnd entgegengenommen – denn Geld war Geld.“
„Das wusste ich alles nicht“, stellte ich verblüfft fest und blickte meine Mutter mit großen Augen an. Sie hatte mir noch nie etwas so Persönliches erzählt.
Ja, mir war klar gewesen, dass meine Eltern nicht in der Kölner Innenstadt aufgewachsen waren. Sie waren im Kreis Heinsberg in der Nähe von Aachen groß geworden, in irgendeinem Dreihundert-Seelen-Dorf. Mama hatte jedoch immer in die große Stadt gewollt und Papa hatte ihrem Wunsch nach Jannis’ Geburt nachgegeben. Aber sonst … sonst wusste ich kaum etwas über ihre Kindheit oder Jugend.
Es war merkwürdig. Man stand seinen Eltern am nächsten und wusste doch am wenigsten über sie. Ich vergaß ständig, dass sie auch mal jung gewesen waren. Auch Fehler gemacht hatten, auch Hausarrest aufgebrummt bekommen hatten, auch Erfahrungen gemacht hatten, die sie gerne wieder vergessen wollten.
Sie waren eben meine Eltern. Keine … nun, normalen Menschen.
„Frank kam eines Tages mit einem dreckigen, zerfetzten Hemd zur Tür hineinspaziert und wollte, dass ich es flicke. Ich habe ihm gesagt, dass er den Lumpen zum Ofenputzen benutzen und mich in Ruhe lassen soll.“
Meine Mundwinkel zuckten. „Was hat Papa daraufhin erwidert?“
„Dass es sein Lieblingshemd sei und er sich von einem Dornenbusch nicht den Tag vermiesen lassen wollte. Ich wollte es dennoch nicht retten. Ehrlich gesagt … war ich ziemlich gemein zu ihm.“ Sie seufzte und starrte nachdenklich aus dem Fenster. „Du kennst mich. Ich habe ein Talent dazu, andere zu kritisieren – und ich dachte, er wäre nur einer dieser Jungen, die sich darüber lustig machten, dass ich unbezahlt bei meiner Mutter aushelfen musste. Er ist gegangen … und am nächsten Tag mit demselben Hemd wiedergekommen. Und egal, wie fies ich zu ihm war, wie sehr ich seinen Klamottenstil verspottet habe, er hat immer nur gelächelt und genickt und ist am nächsten Tag wiedergekommen.“
Ja, die Geduld meines Vaters bewunderte ich noch heute.
„Wie seid ihr denn dann jemals zusammengekommen?“, fragte ich neugierig. „Eure Treffen scheinen mir bis zu diesem Punkt nicht sehr harmonisch verlaufen zu sein.“
Zu meiner Überraschung lachte meine Mutter laut auf. „Nein, in der Tat nicht. Aber als dein Vater das neunte Mal in den Laden gekommen ist und ich darauf beharrt habe, dass sein Hemd nicht zu retten sei, hat er mir ein Angebot gemacht. Er würde das Hemd wegwerfen, wenn ich mit ihm ausging. Allerdings unter einer Bedingung.“
„Welcher?“
Sie schmunzelte in sich hinein und betrachtete ihre ordentlichen, sauberen Fingernägel. „Ich müsse etwas Nettes über ihn sagen. Damit er sichergehen könne, dass ich nicht so schrecklich sei, wie so viele im Dorf behaupteten.“
„Und, hast du?“
Meine Mutter hob eine Schulter. „Ich habe ihm gesagt, dass ich seinen Mund mögen würde. Vor allem, wenn er still ist.“
Ich musste lachen. „Sehr schlagfertig, Mama.“
„Na, von irgendeinem Elternteil musst du das ja haben“, sagte sie knapp, bevor sie mich ansah. „Weißt du, Louisa, mir ist vollkommen bewusst, dass ich kein leichter Mensch bin. Dein Vater ist der einzige Mann, der jemals gelassen und geduldig genug war, sich mit mir abzugeben. Er …“ Ich konnte sie schlucken sehen. „Er hat mehr in mir gesehen als die arme Schneiderstochter mit dem Flickenteppich als Kleid. Seine Familie war sehr wohlhabend, seine Mutter hat mich nicht akzeptiert … und dennoch hat er mich geheiratet. Und jetzt haben wir in zwei Wochen unseren 35. Hochzeitstag … und er betrügt mich.“ Sie presste die Lippen aufeinander und wandte erneut ihren Blick ab.
Meine Brust und mein Hals wurden unangenehm eng und meine Augen fingen an zu brennen. Ich hatte meine so sorgsam kontrollierte Mutter nur zweimal in meinem Leben weinen gesehen. Das erste Mal bei der Beerdigung meiner Oma, ihrer Mutter. Das zweite Mal, als Jannis von einem Auto angefahren worden war und wir ihn im Krankenhaus besucht hatten. Und auf einmal hatte ich Angst, dass heute Abend das dritte Mal sein könnte.
Ja, meine Mutter war eine schwierige Person. Aber sie hatte auch die ganze Nacht neben meinem Bett gesessen und meine Zwiebelwickel erneuert, als ich eine Mittelohrentzündung gehabt hatte. Sie hatte mir Taschentücher gekauft und wortlos meine Haare gestreichelt, als mir das erste Mal das Herz gebrochen worden war. Sie hatte Jannis Salz ins Nutella gemischt, als er mir erzählt hatte, ich würde wahrscheinlich innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden sterben – das habe er im Radio gehört. Sie war meine Mutter – und ich ertrug es nicht, sie traurig zu sehen.
„Oma … Oma hat dich nicht akzeptiert?“, fragte ich leise, einfach weil ich die Stille brechen wollte.
„Oh, nein. Ich war arm, ungebildet und nicht das, was sie sich als Schwiegertochter erhofft hatte. Irgendwann ist sie über meinen unzulänglichen Familienstand hinweggekommen, aber es war ein langer, anstrengender Weg – und ich habe mir geschworen, dass ich meine Kinder so gebildet und vernünftig wie möglich aufziehen würde, damit ihnen kein Leben voller Missbilligung und giftiger Blicke bevorsteht.“
Mit geöffneten Lippen starrte ich sie an. Denn plötzlich ergab vieles, das ich nie verstanden hatte, einen Sinn. „Deswegen ist es dir so wichtig, was alle von dir halten?“, fragte ich vorsichtig. „Deswegen bist du so darauf bedacht, dass deine Charity-Frauen nur das Beste von dir und deiner Familie denken? Deswegen erinnerst du mich andauernd daran, dass ich meine Serviette benutzen und aufhören soll, mich wie ein Bauer zu benehmen? Weil du Angst hast, dass eure Freunde sonst die arme Schneiderstochter in dir erkennen, die du eigentlich in deinem Herzen noch immer bist?“
Die Wangen meiner Mutter liefen rosa an, und missbilligend zog sie ihre Mundwinkel nach unten. „Du liest zu viele Romane. Ich sage dir, dass du deine Serviette benutzen sollst, weil du, seit du fünf bist, überall im Haus Schokoladenflecken hinterlässt, Louisa“, bemerkte sie. „Und ich freue mich ja darüber, dass du so leidenschaftlich im Dreck wühlst, aber Erde gehört in den Garten und nicht auf meine Couch.“
Das Gewicht auf meiner Brust ließ etwas nach. Das war Gitti Manu, wie ich sie kannte und liebte. „Mama“, flüsterte ich sacht und tätschelte ihre Schulter. „Ich habe Papa nicht lieber als dich. Wenn ich ein Problem hätte oder traurig wäre, würde ich immer eher zu dir als zu ihm gehen.“ Größtenteils deswegen, weil meinen Vater geballte Emotionen schlichtweg überforderten. „Es ist nur leichter, mit ihm umzugehen, weil er nicht so unglaublich begabt darin ist, meine Fehler zu sehen. Du hingegen findest jeden einzelnen und erklärst ihn mir dann auch noch. Und mir ist schmerzhaft bewusst, wie unperfekt ich bin … aber dauernd hören möchte ich es trotzdem nicht.“
Meine Mutter nickte. „Das ist mir klar, aber irgendwer muss dir nun einmal die Möglichkeiten aufzeigen, dich zu bessern.“
Ich zog eine Grimasse. „Muss?
Das ist ein sehr starkes Wort, das zu fehlgeleiteten Entscheidungen führen kann.“
„Louisa, ich möchte nur das Beste für dich“, sagte meine Mutter seufzend. „Du hast es schwerer als andere Frauen, den passenden Mann zu finden.“
Ich biss mir auf die Unterlippe. „Tatsächlich? Warum das?“
„Weil du selbstständig und stark bist“, fuhr meine Mutter fort. „Weil du weißt, was du willst, und sehr kreativ darin bist, es zu bekommen. Viele Männer kommen mit einer solch starken Persönlichkeit nicht klar.“
Moment … was? Diese Kritik hatte sich fast nach einem Kompliment angehört.
„Ich möchte nur, dass du glücklich bist, Lou. Deswegen versuche ich dich ab und zu in die richtige Richtung zu schubsen, damit du bei der Verfolgung deiner Ziele nicht vergisst, nach rechts und links zu gucken. Aber das ändert nichts daran, dass ich sehr stolz auf dich bin und dich sehr liebe. Dein Polizist scheint ja auch ein anständiger Kerl zu sein.“
Der Kloß in meinem Hals war zurück und ich nickte mit feuchten Augen. „Er ist ein sehr anständiger Kerl … so anständig, dass er gerade mit seiner Ex-Verlobten zu Abend isst, um ihr den Abschluss zu geben, den sie sich wünscht.“
Meine Mutter hob die Augenbrauen. „Mhm“, war alles, was sie dazu zu sagen hatte.
Jap, meine Rede!
Ich holte tief Luft, drückte noch einmal die Schulter meiner Mutter und nickte dann zum Hotel. „Sollen wir reingehen und nach seiner Zimmernummer fragen? Wir könnten –“ Ich brach ab, denn eine Gestalt schlenderte über den Parkplatz, die ich innerhalb weniger Sekunden als meinen Vater identifizierte. Niemand sparte so effizient Energie beim Gehen wie Frank Manu. Er hob die Füße nicht vom Boden und würde in der Wüste eine stetige Schleifspur hinterlassen. Scheiße. Was, wenn Mama recht hatte? Wenn er sie betrog? Ich war zu alt, um Scheidungskind zu werden!
Meine Mutter musste ihn ebenfalls gesehen haben, denn sie rutschte unruhig auf ihrem Sitz hin und her, während sie sich über meine Armatur nach vorn beugte, um ihn dabei zu beobachten, wie er in sein Auto stieg und losfuhr.
„Hinterher?“, fragte ich leise und startete meinen Motor.
Sie nickte bestimmt. „Wie gut bist du im Beschatten?“
Grauenhaft.
„Brillant. Er wird uns nicht bemerken.“