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Als er den Zoo verlassen hatte, kaufte Arkadi einen Blumenstrauß und ging zum Jaroslawski-Bahnhof, um Tatjana vom Zug abzuholen. Der Bahnhof war ein byzantinisches Konstrukt, furchterregend wie der Albtraum eines Kindes. Er erhob sich mitten in Moskau wie ein Kobold, die Fenster waren seine Augen, und ein dunkles, schräges Dach überschattete einen riesigen Eingang, der jeden Eintretenden verschlingen wollte.

Der Transsibirische Express fuhr ein, und Fahrgäste der Dritten Klasse, die keine Zeit zu verlieren hatten, stürmten aus dem Zug und ließen die Schweineställe zurück, die sie aus ihren Abteilen gemacht hatten. Alles voll von zerknülltem Einwickelpapier, Wurstzipfeln, fettglänzendem Käse, Bierpfützen und leeren Chipstüten. Ölarbeiter, Spieler und Bergleute – die Sorte, die niemals den Dreck unter ihren Fingernägeln entfernte – suchten ihre Ehefrauen. Babys heulten vor Missbehagen, und größere Kinder rieben sich den Schlaf aus den Augen.

Reiche Touristen entstiegen ihren Luxuswaggons und wurden von Gepäckträgern empfangen, die ihre Koffer und Taschen voller Souvenirs in Obhut nahmen. Tatjana würde in einem Wagen der Zweiten Klasse reisen, weder hart noch luxuriös, aber perfekt geeignet für diejenigen, die im Neuen Russland Geschäfte machten.

Hunderte von Reisenden schwärmten durch die große Halle oder tauchten hinab in die Tunnel der Metro. Arkadis Blick wanderte über die Menge und suchte nach Tatjana, während er erwartete, jeden Moment das energische Klackern ihrer Absätze auf dem Marmorboden zu hören. Er stolperte über Roma, die hingestreckt am Boden lagerten wie ruhende Paschas. Babuschkas verteidigten ihre süß duftenden Brote und Gläser mit selbst gemachten sauren Gurken vor Polizeihunden. Jungen verteilten Werbezettel von Bars, Cafés und Stripclubs der Umgebung.

Statt mit Arkadi über die Risiken zu diskutieren, die sie einging, verschwand Tatjana oft einfach, ohne ihm zu sagen, wohin sie wollte. Zwei Monate zuvor hatte sie ihre Wohnung verlassen und nur einen Eisenbahnfahrplan auf dem Küchentisch liegen lassen, in dem die Strecke Moskau-Sibirien unterstrichen war, als wollte sie sagen: »Fang mich, wenn du kannst.« Den 14. November, 13 Uhr 45, hatte sie mit einem Kringel als Rückkehrtermin markiert.

Als Investigativjournalistin war Tatjana eine natürliche Zielscheibe für Gangster – ein Stich ins Bein mit einer vergifteten Schirmspitze oder auch ein Schuss in den Hinterkopf. Sie kümmerte sich nie um solche Gefahren. Sie war fatalistisch und – seltsam genug – unbeschwert. Wenn er mit ihr zusammen war, hielt er stets Ausschau nach Individuen, die ihr vielleicht etwas antun wollten. Die eine zu straff zusammengerollte Zeitung bei sich trugen oder zu schnell oder zu langsam gingen.

Arkadi lief von einem Tunnel in den anderen, hin und her zwischen den Ständern mit Modezeitschriften und der elektronischen Anzeigetafel für Abfahrts- und Ankunftszeiten. Keine Tatjana, nirgends. Er warf seine Blumen in einen Blechmülleimer und ging.

Vom Bahnhof aus fuhr Arkadi geradewegs zum Büro der Staatsanwaltschaft, wo Staatsanwalt Surin sich über seine kürzlich durchgeführte Reise nach Kuba verbreitete. Vier Stellvertreter im blauen Serge mit Messingknöpfen hatten ihre Stühle herangerückt und schenkten Surin ihre hingerissene Aufmerksamkeit. Sein weißes Haar wurde allmählich dünner und seine Züge runzlig vom Alter, aber noch immer genoss er den Klang seiner eigenen Stimme.

»Ich habe unseren Partnern in Havanna unser tiefempfundenes Mitgefühl zum Tod unseres Genossen Fidel Castro übermittelt.«

Arkadi erinnerte sich an »Havana Club«-Rum und einschmeichelnde Musik. Es war zwölf Jahre her, dass er den Tod eines Kollegen, der in der Bucht von Havanna trieb, untersucht hatte.

Surin sah, wie der Ermittler, den er von allen am wenigsten leiden konnte, durch den Korridor schlich.

»Renko, warten Sie – warten Sie, ich will mit Ihnen reden. Nicht hier. In Ihrem Zimmer.«

In Arkadis Büro war es eng wie in einer Sardinenbüchse. Schreibtisch, Stuhl, Schrank, Garderobenständer und Aktenschränke drängten sich zusammen. Auf den Schreibtischen anderer Ermittler standen Fotos ihrer Frauen und Kinder wie eidesstattliche Bekundungen ihrer Tugend. Sein Tisch war im Vergleich dazu leer.

Surin schloss die Tür hinter sich. »Ich war da, wissen Sie – bei Fidels Gedenkfeier.«

»Das wusste ich nicht.« Arkadi hoffte, der Staatsanwalt werde merken, dass hier nur für eine Person Platz zum Sitzen war.

Surin machte ein nachdenkliches Gesicht. »Das erinnert uns daran, dass die Revolution stets wachsam beschützt werden muss. Unseren statistischen Erfolg in der Bekämpfung von Gewaltverbrechen dürfen wir nicht als selbstverständlich ansehen.«

Die hohe »Aufklärungs«rate der russischen Mordermittler verdankte sich einem Rechtssystem, das sich weniger auf Beweise und mehr auf Geständnisse verließ. Aus einem unschuldigen Betrunkenen ein Geständnis herauszuprügeln, war einfacher, als es einem nüchternen Mörder zu entlocken. Doch Renko hatte das Talent, die schwierigsten Fälle aufzuklären, ohne Gewalt anzuwenden.

»Die jährliche Revision steht bevor. Was soll ich über Sie sagen?«, fragte Surin.

»Sagen Sie ihnen, ich könnte ein größeres Büro gebrauchen.«

»Ich habe daran gedacht, Ihre mangelhafte Bereitschaft zu kollegialer Zusammenarbeit zu erwähnen. Finden Sie kollegiale Zusammenarbeit nicht wichtig, Renko?«

»Doch, absolut.«

»Warum sind Sie dann nicht dazu bereit? Ihre Kollegen sagen, manchmal konterkarieren Sie ihre harte Arbeit sogar.«

»Wenn das Beweismaterial nichts taugt, ja.«

»Wenn jemand gestanden hat, was wollen Sie dann noch mit Beweismaterial? Ich habe Ihnen schon hundertmal gesagt, der beste Beweis der Welt ist ein Geständnis. Und die Zusammenarbeit unter Kollegen. Alle ziehen an einem Strick.« Dann überraschte Surin ihn. »Sie waren schon in Kuba?«

»Vor langer Zeit.«

»Dann sprechen Sie natürlich Spanisch.«

»Ganz schlecht.«

»Na, ein Mann mit Ihren Fähigkeiten – Spanisch, Russisch, vertraut mit den Einheimischen, Kenntnisse im Recht – wäre im neuen Kuba gut zu gebrauchen. Wenn er die richtige Einstellung hätte.«

»Das werden wir nie erfahren.«

»Man müsste Sie motivieren. Das verstehe ich.«

Arkadi stellte sich ein Leben unter einer Palme vor, wo er den herabfallenden Kokosnüssen auswich und auf einer Gitarre herumklimperte.

»Zu schön. Klingt nicht nach mir.«

»War nur ein Gedanke. Misstrauen wäre zu erwarten. Bei Ihnen gibt es immer eine Wolke des Misstrauens.« So plötzlich, wie Surin in eine Richtung abgebogen war, schwenkte er jetzt in eine andere. »Was denken Sie über Sibirien?«

»Es ist groß, und es ist kalt«, sagte Arkadi.

»Ich habe einen Auftrag für Sie. Nichts könnte einfacher sein. Nächste Woche fahren Sie nach Irkutsk, holen einen Möchtegern-Mörder namens Aba Machmud ab und bringen ihn in ein Transitgefängnis, wo Sie ein Verfahren gegen ihn eröffnen und dafür sorgen, dass er eine gute, lange Verurteilung bekommt.«

»Ein Möchtegern-Mörder?«

»Er ist Tschetschene, ein Terrorist. Er hat versucht, einen Staatsanwalt umzubringen.«

»Von dem Fall habe ich noch nichts gehört.«

»Er ist frisch.« Surin warf ein Dossier auf Arkadis Tisch. »Steht alles hier drin.«

»Um welchen Staatsanwalt handelt es sich?«

»Zufällig um mich. Sie sind mein Ermittler, und ich will, dass Sie für eine schnelle und ordentliche Verurteilung sorgen.«

»Warum ich?«

»Weil Sie dafür bekannt sind, schwierig zu sein. Niemand würde behaupten, Sie seien jemand, der sich beeinflussen oder steuern lässt.«

»Und wenn ich den Fall ablehne? Oder zu falschen Schlussfolgerungen komme?«

»Werden Sie nicht. Ich habe Sie endlich durchschaut, Renko. Sie halten sich für so unabhängig, aber Sie sind eine Geisel des Schicksals wie wir alle.«

»Soll heißen?«

»Ich höre, Ihr Stiefsohn ist ein ziemlich guter Schachspieler.«

»Schenja?« Surin hatte ihn noch nie erwähnt.

»Ja. Er sieht aus wie ein Traumtänzer, aber am Schachbrett ist er anscheinend ein echter Dynamo.«

Arkadis Gesicht fing an zu glühen. Gerade als er dachte, er sei der Schlange entkommen, verschluckte sie ihn ein kleines Stück weiter. Verschluckte ihn und lächelte dabei, denn wenn die Staatssicherheit die Zähne in Schenja geschlagen hatte, hatten diese Zähne auch ihn gepackt.

Surin nahm das Dossier und legte es Arkadi in die Hände. Es war mit einer roten Kordel zugebunden. »Ich glaube, hier erwartet Sie eine faszinierende Lektüre.« Zufrieden kehrte Surin zurück zu seinen Stellvertretern und seinem Besuch bei Fidel.