12
Sergej Obolenski säuberte die Innenseite seines Aquariums mit einem kleinen Gummiwischer. Nach dem Überfall auf sein Büro hatte er eine neue Unterwasserausstattung gekauft, mit leuchtenden Neonsalmlern und einer versunkenen Piratenschatztruhe. Er hatte die Ärmel hochgekrempelt und Gummihandschuhe angezogen. Kurz, er sah aus wie ein Mann, der seine Sorgen bewältigte, indem er sich beschäftigte.
»Mit Neonfischen kann man nichts falsch machen«, sagte er zu Arkadi. »Sie sehen aus wie kleine Leuchtreklamen am Straßenrand.«
»Sollten Sie nicht die Armbanduhr abnehmen?«
Obolenski murmelte etwas Obszönes.
»Neuigkeiten von Tatjana?«
»Nein.«
»Haben Sie versucht, sie zu erreichen?«
»Ob ich es versucht habe? Natürlich habe ich es versucht, aber ohne Erfolg. Verdammt, wo ist der Kescher? Offenbar haben Sie noch nie mit Tatjana gearbeitet. Ich hab’s Ihnen schon einmal gesagt, sie arbeitet allein, auf eigene Faust, in ihrem eigenen Tempo. Wenn sie mit der Story fertig ist, wird sie zur Tür hereingetanzt kommen, und wir werden alle dastehen wie Idioten, weil wir uns Sorgen gemacht haben.« Obolenski redete, als sei ihm das schon mehr als einmal passiert.
»Was ist denn mit den Todesdrohungen, die sie bekommen hat?«
»Das ist weder neu noch außergewöhnlich.«
»Wie würden Sie sie denn im Notfall erreichen?«, fragte Arkadi.
»Sie hat keine lebenden Verwandten, und sie hat mit einem Einmal-Telefon angerufen. Ich bin also hilflos wie wir alle.«
»Haben Sie je die Polizei von dem Überfall hier in Kenntnis gesetzt?«
»Natürlich nicht. Sehe ich aus wie ein Idiot?«
»Na, Sie brauchen mir nicht zu helfen. Ich fahre selbst hin.«
Obolenski verlagerte das Gewicht. »Ein Oligarch in Irkutsk ist das Gleiche wie Gott.«
»Ich will sicher sein, dass sie gesund und wohlauf ist. Sie haben gesagt, sie hat sich in Irkutsk mit Kusnezow getroffen. Dann fange ich dort an.«
Arkadi wollte, dass Schenja und Sosi seine Wohnung übernahmen, solange er weg war. »Ich verlange nur«, sagte er, »dass ihr die Post hereinholt und darauf achtet, dass im Flur keine Eulen nisten.«
»Wo wollen Sie hin?«, fragte Sosi.
»Nach Sibirien.«
»Äh, wohin in Sibirien?«, fragte Schenja.
»Nach Irkutsk.«
»Wie lange?«
»Weiß ich noch nicht.«
Ein bisschen ernüchtert hakte Schenja nach: »Es geht um Tatjana, nicht wahr?«
Arkadi war überrascht. Er hatte nicht geahnt, dass Schenja von Tatjanas langer Abwesenheit wusste.
»Ja. Sie ist jetzt zu lange weg.«
»Ich kann hier Bewegungsmelder installieren«, schlug Schenja vor.
»Das glaube ich, dass du das kannst. Ich sehe schon, wie ich eines Nachts nach Haus gestolpert komme und von einem Cyborg zu Boden geworfen werde«, sagte Arkadi.
»Was ist mit der Polizei?«, fragte Sosi.
»Wenn ihr sie hereinlassen müsst, dokumentiert es per Video. Aber keine Schusswaffen, kein Widerstand.« Arkadi ging in sein Schlafzimmer, um zu packen.
Sosi kam hereingeschlendert. »Störe ich?«, fragte sie.
»Nein, nur zu. Setz dich.«
Sie sah zu, wie er eine Sporttasche packte und wieder auspackte. Sein Ziel war es, kaum mehr als eine Zahnbürste und einen Rasierer mitzunehmen.
Sie ließ sich auf einen Stuhl fallen und sah sich im Zimmer um. »Sie haben aber viele Bücher.«
»Lass dir nichts vormachen. Ich habe sie nicht alle gelesen. Aber wenn mir eins gefällt, lese ich es auch zweimal.«
Sie nickte und summte vor sich hin. Heute trug sie eine Brille mit lila Gläsern, passend zu ihrem Haar. Es war ein bisschen so, als habe er Besuch vom Mars, dachte Arkadi.
»Ich habe mich ein bisschen umgesehen«, sagte sie. »Gehören all die Fahnen und Orden Ihnen?«
»Nein. Sie haben meinem Vater gehört.«
»War er ein Held?«
»Man muss gerechterweise sagen, dass seine Männer ihn sehr geliebt haben.«
»Wie Sie das sagen, klingt es …«
»Er hat mehr Feinde als eigene Leute getötet, aber es war knapp.«
»Schenja bewundert Sie wirklich. Ich weiß nicht, ob Sie das wissen.«
Er warf einen Blick zu ihr hinüber, um zu sehen, ob ihm ein Anflug von Sarkasmus entging. »Nein, das wusste ich nicht.«
»Er spricht dauernd von Ihnen. Arkadi würde dies tun, Arkadi würde das tun.«
Arkadi lächelte. »Das muss ich dir wohl glauben.«
»Sie wollen nach Sibirien? Waren Sie schon mal da?«
»Einmal kurz«, sagte Arkadi.
»Es ist kalt da. Ich meine, richtig kalt.«
»Du hast Verwandte in Sibirien?«
»Meine Eltern waren als Gastprofessoren an der Uni in Irkutsk. Sie waren gute Lehrer.«
»Sind sie noch da?«
»Nein, sie sind nach Armenien zurückgegangen und haben es mit der Landwirtschaft versucht, aber ihr Weinberg litt unter Pilzbefall, und dann wurden alle ihre Trüffel von Schweinen gefressen. Jetzt arbeiten sie wieder in Ararat bei der Gaspumpstation. Ich bin in Moskau geblieben, als sie umgezogen sind, weil ich noch hier an der Uni war und eine Aufenthaltserlaubnis hatte, aber die läuft in ein paar Monaten ab, und ich schlafe, wo ich kann. Schenja ist sehr nett.«
Arkadi hatte aufgehört zu packen.
»Woher kennst du ihn?«
»Er hat gesehen, wie ich in einem Restaurant Brot geklaut habe, und ist mir nach draußen gefolgt. Er hat mir zu essen gegeben.«
Arkadi musste an Viktor denken, der streunende Katzen fütterte. Was wäre, wenn jede Annahme, die man im Leben traf, falsch war? Oder auch nur um zehn Grad danebenlag? Da käme einiges zusammen.
»Waren Sie schon mal verheiratet?«, fragte Sosi.
Das kam aus heiterem Himmel, dachte Arkadi. »Vor Jahren.«
»Und haben Sie Kinder?«
Arkadi zögerte. »Vermutlich könnte man sagen, Schenja ist mein Sohn.«
Mit einer umfassenden Handbewegung fragte sie: »Wem wollen Sie das alles hinterlassen? All die Fahnen und das ganze Zeug? Das muss doch eine Menge wert sein.«
»Das habe ich mir nie überlegt.«
»Meinen Sie nicht, dass Sie das mal tun sollten? Was wäre, wenn die schlimmsten Leute Ihre besten Sachen bekämen?«
»So kann man es sicher sehen. Vermutlich denke ich mir, es gibt eine Zeit loszulassen, statt immer alles festzuhalten. Das kann man nämlich nicht, weißt du.«
»Ich weiß nur, dass Sie diese kleine Tasche jetzt zehn Mal gepackt haben, seit ich hier sitze.«