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Am Tag nach Benz’ Beerdigung kehrten Tatjana, Bolot und Arkadi nach Tschita zurück. Bolot und Aba fuhren mit seinem Wagen vom Flughafen zum Montblanc, um Tatjana abzusetzen, und brachten Arkadi dann zum Admiral Koltschak.
Saran lief ihm durch die Lobby entgegen und begrüßte ihn.
»Dorscho hat angerufen. Er wollte wissen, ob ich es war, die Sie zu ihm geführt hat.«
»Das klingt nicht nach einem freundschaftlichen Anruf.«
»Für ihn war es einer.«
»Das ist gut. Hatte er Bienen immer schon so gern?«
»Er hat nur Bienen gern, aber das Interessante ist, er kann Wespen nicht ausstehen, und es ist sehr schwierig, sie auseinanderzuhalten. Die größten Fachleute auf diesem Gebiet können Wespen nicht von Bienen unterscheiden, aber Dorscho kann es, und er hasst sie.«
»Sie kennen den Unterschied auch, oder?«
»Keine Sorge, er hat mir außerdem gesagt, ich soll den Mund halten und mich nicht in sein Leben einmischen.«
Als er wieder in seinem Hotelzimmer war, zerbrach Arkadi sich weiter den Kopf wegen Kusnezow. Er dachte an eine Bestattung, an der er in jungen Jahren in Moskau teilgenommen hatte: Ein Bandenchef war von seinem wichtigsten Rivalen umgebracht worden – nicht auf dessen Befehl, sondern von ihm persönlich, erwürgt in einer banja, wo die beiden versucht hatten, ihre Geschäftsgebiete aufzuteilen. Die Tradition verlangte, dass Bandenführer den Leichnam eines gefallenen Kollegen küssten. Es nicht zu tun, galt allgemein als Schuldeingeständnis. Es war eine Farce, an die man sich selbst dann hielt, wenn alle wussten, wer der Schuldige war.
An dieser speziellen Beerdigung hatten so ziemlich alle Oligarchen teilgenommen. Die meisten trugen prachtvolle Künstlernamen wie Iwan die Hand, Zyklop, Narbe und Schiwago. Alle küssten den Leichnam – alle bis auf den Schuldigen –, und dann kam es zu einer Schießerei.
Arkadi fragte sich, ob Kusnezow Benz’ Leichnam geküsst hätte, wenn der Leichnam da gewesen wäre. Vielleicht waren die Sitten heute ein bisschen anders, aber tief im Innern war Russland noch dasselbe.
Die Pläne, die Arkadi durch den Kopf gingen, waren so verworren, dass ihm fast schwindlig wurde. Alles, was er in Betracht zog, erforderte, dass zu viele Dinge im richtigen Augenblick stattfinden mussten.
Er hätte gern mit jemandem – irgendjemandem – gesprochen, aber er wusste, wenn er einer anderen Person von Surins Drohung erzählte, würde er denjenigen mit hineinziehen, ohne seine eigene Angst zu lindern. Mit anderen Worten, ein geteiltes Problem war ein doppeltes und kein halbiertes Problem.
Aber Viktor war jemand, mit dem er sprechen könnte, jemand, der ihn verstehen würde und ein Talent zur Intrige hatte.
Arkadi rief ihn an.
»Surin, dieser Drecksack«, sagte Viktor, »ich glaube, er steht Putin näher, als wir dachten. Ich wünschte, wir könnten ihn nach Kuba zurückschicken. Ich kümmere mich um die Gorillas, die Schenja im Nacken sitzen.«
»Dann wirst du umgebracht. Die haben automatische Waffen«, warnte Arkadi.
»Kannst du Kusnezows Ermordung faken?«
»Darauf wird Surin nicht reinfallen. Und ein Teil des Problems besteht darin, dass die Leute hier in der Gegend so verknallt in Kusnezow sind, dass sie es nicht auf sich beruhen lassen werden. Sie werden Antworten verlangen.«
»Tatjana hat in Moskau ihre eigene Ermordung vorgetäuscht.«
»Ja, aber das ist lange her, und die beiden Fälle sind komplett unterschiedlich. Eine Journalistin kann aus der Stadt verschwinden und untertauchen, aber bei einem Präsidentschaftskandidaten ist das eine andere Sache. Ich glaube nicht, dass das geht.«
»Tja, mit der Einstellung bist du im Arsch.«
Er wusste, er könnte Kusnezow umbringen. Er war oft genug in seiner Nähe gewesen, um als Teil der Einrichtung akzeptiert zu werden. Kusnezows Leibwächter hielten ihn nicht mehr auf und tasteten ihn schon gar nicht mehr ab. Vielleicht bestand die Lösung darin, Surin umzubringen, aber nein – es war ja nicht Surin, der Kusnezows Tod verlangte. Der Befehl, ihn zu ermorden, kam aus dem Kreml.
Am nächsten Morgen kam Bolot und holte Arkadi zu einem Spaziergang durch Tschita ab, um hier einen Kaffee und da ein stärkendes Glas Brandy zu trinken.
»Wie laufen die Ermittlungen?«, fragte er.
»Nicht besonders gut«, sagte Arkadi. Er wollte Bolot nicht belügen. Normalerweise antwortete er auf diese Frage, er stochere in Benz’ Angelegenheiten herum und hoffe, niemand würde merken, dass er nur so tat, als ob.
Er wechselte das Thema. »Glauben Sie, Aba möchte mit mir nach Moskau zurückfliegen? Oder ist sein Bruder Baschir immer noch eine Gefahr?«
»Seine Mutter sagt, er ist aus Moskau verschwunden; deshalb glaube ich, Aba möchte vielleicht zurück. Seine Mutter möchte, dass er zurückkommt, das weiß ich.«
Zum Lunch gingen sie in die Lobby des Montblanc, wo Tatjana sie einlud, sich die neuen Umfragewerte anzusehen. Anscheinend nahm die Unterstützung zu. Die ganze Sache wirkte wie eine Art Performance. Arkadi fragte sich, ob das alles wahr war – oder, vielleicht präziser gefragt, ob es wirklich wichtig war.
Was brachte einer Frau in Kasan ein Video von Kusnezow? Beeinflusste der eine oder andere der Kandidaten wirklich ihr Leben? Würde sie am Wahltag für Kusnezow stimmen? Würde sie andere ermuntern, zur Wahl zu gehen? Würden diese Stimmen gezählt oder einfach ignoriert werden? »Siebzig-siebzig« hatte Kusnezow zu ihm und Tatjana gesagt. Die Behörden wollten eine Wahlbeteiligung von siebzig Prozent und siebzig Prozent der Stimmen für Putin.
»Hast du Lust, morgen mit mir auf die Insel Olchon zu kommen?«, fragte Tatjana. »Wir drehen noch einen Werbespot. Diesmal vor einer Menge Zuschauer.«
Arkadi hatte kein Interesse daran, Kusnezow zuzusehen, wie er vor der nächsten Zuschauermenge auftrat.
»Wenn das die einzige Möglichkeit ist, dich zu sehen, dann ja.«