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An dem Abend, als Darren Mathews in den Trailer seiner Mutter einbrach, hatte er seit über einem Monat keinen Drink mehr gehabt. Nun, jedenfalls nicht mehr als ein, zwei Bier einmal oder zweimal die Woche – und stets im Beisein seiner Frau, deren Blick er vor dem ersten Schluck sekundenlang standhielt, um ihr die Gelegenheit zu geben, etwas zu sagen oder zu schweigen, wobei er für ihr Schweigen stets dankbar war. In dieser neuen, höchst prekären Phase ihrer Ehe machten beide Zugeständnisse. Ihr Privatleben hatte sich stabilisiert und war seit ihrer Trennung und seiner Zeit in Lark, Texas, in der rauen Strömung fest verankert – durch das Vergnügen von gutem Sex, der einem die besten Momente einer Ehe in Erinnerung brachte und die hässlichen vergessen ließ. Er hatte ganz vergessen, wie gut es sich anfühlte, seine Frau zu vögeln, und wie leicht der Akt zwei Seelen miteinander verflocht. Er hatte vergessen, wie sicher er sich bei Lisa fühlte, wie sehr sein Ich-Gefühl von ihrer Liebe und Aufmerksamkeit bestimmt wurde. Und von Lisa begehrt zu werden – ihre fast konstante Bereitschaft im Bett – hatte die Balance zwischen ihnen auf eine Weise verschoben, die neu war für Darren, der sich während ihres gesamten Liebeswerbens und ihrer Ehe gefühlt hatte, als müsste er sie fortwährend aufs Neue erobern und rumkriegen. Jetzt war es Lisa, die jeden Tag tat, was sie konnte, um ihm zu gefallen, um seiner wert zu sein.
Sie wusste, dass er beinahe nicht zu ihr zurückgekommen wäre, wusste, dass ein Leben allein in seinem Geburtshaus in Camilla eine Option für ihn war, wusste, dass ein Teil seiner Seele den Rest seines Lebens dort verbringen und auf dem Land seiner Vorfahren sterben könnte. Er zog einen Abend auf der hinteren Veranda in Camilla, von wo aus er das Wild in den umliegenden Wäldern beobachten konnte, den Annehmlichkeiten einer Stadt wie Houston vor. Er war noch immer ein Junge vom Land.
Er hatte seine Frau und sein Leben wieder.
Aber es hatte ihn auch etwas gekostet.
Mehrere Termine bei einer Eheberaterin im Stadtzentrum von Houston – einer korpulenten Weißen, die viel zu viel Türkisschmuck trug – hatten ihn zu dem Entschluss gebracht, den Außendienst zu quittieren. Zumindest glaubte er, dass es seine Entscheidung war. Es war hitzig zugegangen und ziemlich schweißtreibend gewesen, kleinliche Ressentiments hervorzukramen, nur um sie anschließend wieder zu begraben, diesmal endgültig. Ein paarmal hatte er dem Bedürfnis nachgegeben, gedanklich abzuschalten. Doch sie hatten ihre vier Termine durchgezogen – Ich glaube, Sie schaffen das –, und Darren hatte zugestimmt, in das Büro der Texas Ranger in Houston zurückzukehren und vom Schreibtisch aus für die Sondereinheit zur Arischen Bruderschaft von Texas zu arbeiten. Von Montag bis Freitag parkte er seinen Chevy vor dem Büro und trug sein Mittagessen zu seiner engen Arbeitsnische, wo er Stunden damit verbrachte, die digitale Überwachung der Arischen Bruderschaft zu überprüfen. Telefon- und Bankdaten. Austausch in Chatrooms. Er war jetzt ein Schreibstubenhengst und, je nach Verkehrslage, meistens gegen achtzehn Uhr zu Hause. Dass Lisa ihn nicht dazu zwang, das alles in stocknüchternem Zustand zu tun, brachte ihn dazu, sie noch ein bisschen mehr zu lieben. Genug, wie er hoffte, um den Zorn zu kaschieren, den er angesichts ihrer Forderung verspürte, von der Straße wegzubleiben. Nicht dass zu Hause zu sein so schlimm gewesen wäre.
Es gab Bier.
Und Sex.
Die Sache mit seiner Mutter nagte natürlich an ihm.
Doch eine Zeit lang gelang es ihm, sich einzureden, dass Bells Beweggründe weniger von Rachsucht als von Verzweiflung herrührten. Sie war kurz vor ihrem Sechzigsten und lebte allein in einem gemieteten Trailer, ihr einziger Sohn war kinderlos und mit Zuneigungsbekundungen sparsam, zufrieden damit, seine Mutter einmal im Vierteljahr zu treffen, oder noch seltener, wenn er glaubte, sich das erlauben zu können. Ihr Freund war sowohl verheiratet als auch ihr Chef, und er zahlte ihr weniger als den Mindestlohn dafür, dass sie an fünf Tagen in der Woche Toiletten schrubbte. Seit der Highschool hatte sie keinen Mann für sich allein gehabt, und sie hegte einen tiefen Groll gegen die Mathews-Familie, weil sie ihr das Leben gestohlen hatte, das ihr eine Ehe mit Darrens Vater ihrer Meinung nach ermöglicht hätte. Diese Verbitterung nährte sie wie ein Findelkind, das sie an ihre Brust hielt. Die Schuld lag jetzt bei Darren. Er hatte seine Mutter während der letzten beiden Monate täglich angerufen, war beinahe jedes Wochenende bei ihr vorbeigefahren, hatte freiwillig Büschel von Vogelmiere und Wiesenrispengras um den Trailer herum gerupft, die Stufen gefegt und die Dachrinne gereinigt und ihr jedes Mal ein paar hundert Dollar und eine Kiste Bier dagelassen.
Es war ein Tanz, den sie da veranstalteten, ein Country-Walzer, wobei sie so taten, als wäre Darren der Sohn, der nur auf die richtige Gelegenheit gewartet hatte, sich um seine älter werdende Mutter zu kümmern, und das hatte er jetzt davon: Erpressung. Obwohl sie nie ein so krasses Wort benutzte, und er ebenfalls nicht. Als er sie ein einziges Mal direkt nach der Waffe fragte, hatte sie das vielmehr als seine Art aufgefasst, darum zu bitten, mehr Zeit mit ihr zu verbringen, und war sogar so weit gegangen, sich selbst bei ihm zu Hause in Houston zum Abendessen einzuladen, was Darren als die Strafe erkannte, die es war. Begonnen hatte alles mit ihrer lächerlichen Bitte um Venusmuscheln mit Semmelbröseln und Speck und eine Schwarzwälder Kirschtorte, deren Rezepte sie aus einem alten Exemplar vom Ladies Home Journal aus der Rubrik »Kosmopolitische Lebensweise« ausgeschnitten hatte, das sie schon seit Highschoolzeiten besaß und dessen vergilbte Seiten sie Lisa geschickt hatte.
Sie war betrunken, als sie bei ihnen in ihrem Loft im Zentrum von Houston auftauchte, und fragte, noch bevor sie den Mantel abgelegt hatte, wo denn die anderen Gäste seien. Lisa hängte Bells abgewetzten Kaninchenpelz in den Flurschrank – und vergaß nicht, solidarisch Darrens Hand zu drücken, bevor sie Bell zum Esstisch führte. Sie hatten einen Blick auf den Buffalo Bayou, aber Bell ließ sich auch davon nicht beeindrucken. »Wir haben auf dem Land auch schmutziges Wasser«, sagte sie, als ihr Darren den Stuhl hinschob. Lisa beeilte sich, den ersten Gang zu servieren, eine kalte Zwiebelsuppe, die sie bei Kerzenschein aßen. Darren trank nichts und sah dabei zu, wie Lisa und Bell um die Wette die Flasche billigen Chardonnay leerten, den seine Mutter mitgebracht hatte.
In den letzten beiden Monaten hatte seine Frau sehr wenige Fragen gestellt.
Sie hatte das neu entdeckte Interesse an einer Beziehung zu seiner Mutter als entwicklungsbedingte Tatsache hingenommen, etwas Unvermeidliches, das sie lange vor ihm kommen sah. Sie sah nichts Schändliches darin, als er ganz nebenbei verkündete, dass er mehr Zeit mit ihr verbringen und sich mehr um sie kümmern wollte, wenn er konnte. Zweimal hatte sie es sogar als reizend bezeichnet. Heute Abend, das Haar zu einem schlichten Pferdeschwanz hochgebunden und mit goldenen Hängern an den Ohren, die jedes Mal hin- und herschwangen, wenn sie lachte oder nickte, genoss sie es, Bell dabei zuzuhören, wie sie Kindheitsgeschichten über Darren erzählte: wie sie ihm roten Pfeffer auf die Hände gestreut hatte, während er schlief, um ihm das Daumenlutschen abzugewöhnen (Das hätte fürchterliche Hasenzähne gegeben, wenn ich nicht gewesen wäre ); wie sie einen Faden an ihrer Eingangstür und Darrens losem Zahn befestigt hatte, um das blöde, kleine Mistding herauszureißen . Er wusste nicht, weshalb alle ihre Geschichten von Zähnen handelten. Aber was spielte das für eine Rolle? Seine Mutter hatte ihn nicht großgezogen und besaß nicht die Liebe oder das Vertrauen der Männer, die es getan hatten – seine beiden Onkel William und Clayton. Es war erfunden, und zwar alles zwischen Suppe und Hauptgericht. Bis auf die Geschichte, als sie vor dem Maschendrahtzaun seiner Grundschule stand und dabei zusah, wie ihr Sohn das Ampelspiel spielte, wie sie weinte, als Clayton Wind davon bekam und den Schuldirektor bat, sie vom Schulgelände zu verweisen. »Ist das wahr?«, fragte Darren. Als seine Mutter Ja murmelte, spürte er, wie ihm das die Kehle zuschnürte. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Beim Dessert war Lisa ziemlich beschwipst. Mit feuchter Haut und glasigen Augen blickte sie ihn an und fragte: »Darren, wieso lerne ich deine Mutter erst jetzt kennen?«
Bell stieß ein kleines, bellendes Lachen aus.
»Wirklich eine gute Frage, Darren. Wieso lernt deine Frau mich denn jetzt erst kennen?«, sagte sie in einem Ton, mit dem sie sich offen über Lisa lustig machte, was diese aufgrund ihres Alkoholpegels nicht registrierte – Konsonanten und Vokale klar artikuliert, jede Betonung an ihrem Platz, nicht wie die verwaschene Sprache, die sonst aus Bells Mund kam. Sie schenkte ihrem Sohn ein kleines Lächeln, während sie darauf wartete, dass er sich seiner Frau erklärte. Und als sie mit tiefem Schweigen konfrontiert wurde, griff sie zu der Weinflasche auf der anderen Seite des Tisches und schenkte sich den letzten Tropfen ein, bevor sie ihre Handgranate auf den elegant gedeckten Tisch rollte: indem sie ganz nebenbei bemerkte, dass es doch schade sei, dass das Sheriffbüro des San Jacinto County nie die kleine 38er Pistole gefunden hätte, mit der Ronnie Malvo erschossen worden war – der Grund, weshalb Mack in der Mordsache noch nicht freigesprochen war –, dass das Ding überall sein könne und irgendjemand bestimmt Bescheid wisse. Mensch, es bräuchte nur einen Anruf bei Frank Vaughn, um das Verbrechen aufzuklären . Sie blickte Darren an, um sich zu vergewissern, dass er begriff, dass sie den Namen des Bezirksstaatsanwalts von San Jacinto County kannte, während sie sich die Leinenserviette auf ihre Lee-Jeans legte. Darren bedachte sie mit einem Kopfschütteln, einer kraftlosen Warnung. Er hatte niemandem erzählt, dass seine Mutter die mutmaßliche Mordwaffe auf dem Grundstück der Mathews in Camilla gefunden hatte, dass sie sich in ihrem Besitz befand – dass sie ihn an den Eiern hatte.
»Was?«, sagte Lisa, presste ihren Finger auf Schokoladenkrümel auf ihrem Teller und leckte sie ab. Ihre Seidenbluse hatte einen winzigen Fleck. Ein Tropfen Kirschsaft von der Schwarzwälder Kirschtorte. Sie war noch immer beschwipst, und Darren hatte das Bedürfnis, sie und den Frieden, der sich auf ihre Ehe gesenkt hatte, zu beschützen. Seine Mutter würde auch diesen zerstören, wenn er es zuließ. Es genügte nicht, seine Stellung als Texas Ranger zu gefährden. Bell Callis wollte, dass auch seine Ehe am seidenen Faden hing. In der Nacht hatte er nicht geschlafen. Aber dann war er am nächsten Morgen aufgestanden und hatte es wieder getan.
Guten Morgen, Mom, brauchst du irgendwas? Ich habe gerade an dich gedacht .
Wochenlang hatte er fortwährend an sie denken müssen – mehr wollte sie auch nicht, sagte er sich. Die Bedrohung konnte kontrolliert werden. Natürlich hatte er vermutet, dass die 38er irgendwo in dem knapp vierzig Quadratmeter großen Trailer lag, den sie ihr Zuhause nannte, weshalb ihm der Gedanke gekommen war, eines Tages reinzustürmen und sie ihr einfach wegzunehmen. Doch seine Mutter hatte die Schnelligkeit und das Temperament einer Wildkatze. Irgendeine plötzliche Bewegung, und sie würde angreifen. Sie würde ihn dafür bezahlen lassen, wenn er ihr diese neue Macht wieder wegnahm. Also sagte er sich, er hätte alles unter Kontrolle, eine Lüge, die ihn abends einschlafen ließ. Bis sie das nicht mehr tat.
Der Freitag, an dem es schließlich mit ihm durchging, begann völlig harmlos.
Er war an diesem Abend mit ein paar Ranger-Freunden verabredet, wobei Darren an der Reihe war, sie zu bewirten. Doch nachdem sich Roland Carroll beim letzten Mal auf ihrer Gästetoilette übergeben und dabei die Toilette um knapp einen Meter verfehlt hatte, war Lisa zu dem Schluss gekommen, dass sie seine Ranger-Kumpel nicht mehr so bald in ihrer Wohnung haben wollte. Also hatte Darren die Party neunzig Meilen den Highway 59 hinauf verlegt, auf seinen Familiensitz in Camilla. In der Rückschau erkannte er, dass er bereits an einem Aktionsplan gearbeitet hatte, was seine Mutter betraf. Und das, bevor er hörte, wie an dem Nachmittag ein Wagen auf dem unbefestigten Weg zum Farmhaus vorfuhr. Er hatte gerade die Chilischoten neben der Veranda gegossen – und gedacht, dass er sie rechtzeitig für das Weihnachtsessen einlegen könnte –, als Frank Vaughn, Bezirksstaatsanwalt von San Jacinto County, in die Auffahrt einbog und die Reifen seiner Ford-Limousine Klumpen feuchter roter Erde aufwühlten. Darren hatte den Mann seit seiner Zeugenaussage vor der Grand Jury nicht gesehen – als Rutherford »Mack« McMillan, langjähriger Freund der Familie, einer Anklage wegen Mordes an Ronnie »Redrum« Malvo, einem Mitglied der Arischen Bruderschaft von Texas und ein Riesenarschloch, entkommen war. Damals verdächtigte Vaughn Darren, zu wissen, wo sich die Mordwaffe befand – Mack zu decken –, und die Grand Jury hatte schließlich eine Strafverfolgung abgelehnt. Bis zu welchem Grad Frank Vaughn Darren dafür verantwortlich machte, war schwer zu sagen. Aber Darren wusste, dass das kein zwangloser Besuch war. Als Vaughn aus seinem Wagen stieg, fiel die Mittagssonne auf sein dichtes Haar und den Diamantsplitter seines A&M-Absolventenrings. »Hallo«, sagte er mit zusammengekniffenen Augen, was seinem Gesicht einen fast maskenhaften Ausdruck mit dunklen Augenschlitzen verlieh. Er war ein paar Jahre älter als Darren, hatte vielleicht sogar schon die fünfzig erreicht und hätte beruflich längst den Sprung in eine Großstadt schaffen müssen, wenn er das Talent und die Lust dazu gehabt hätte. Sein Bezirk schloss mehrere umliegende Countys mit ein, alle in seinem Herrschaftsbereich; die Mühlen der Justiz in diesem kleinen Teil von Osttexas mahlten auf seine Weisung hin, und so gefiel ihm das.
»Kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragte Darren.
Er streckte die Hand nach dem Wasserhahn an der Hausseite aus, und als Vaughn die Verandastufen erreichte, war das lauwarme Wasser nur noch ein Rinnsal.
»Ich meinte, ich hätte Ihren Truck in Camilla gesehen.« Das Gebaren des Bezirksstaatsanwalts war grimmig, aber keineswegs unfreundlich – eher nachbarschaftlich, als würde er vorbeischauen, um Darren vor einem aufziehenden Sturm zu warnen, damit er die Fensterläden schloss und sich auf schweren Regen einstellte.
»Nun, Sie haben mich gefunden«, sagte Darren mit ruhiger Stimme, um sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihn die Vorstellung beunruhigte, dass ihn der Bezirksstaatsanwalt überhaupt aufsuchte. Darren war nur allzu bewusst, dass er wegen Justizbehinderung oder Schlimmerem angeklagt werden konnte, falls die Behörden von der kurzläufigen 38er Wind bekamen, die seine Mutter im Herbst genau auf diesem Grundstück gefunden hatte. Er würde seine Marke verlieren und ins Gefängnis wandern.
Darren wickelte den Wasserschlauch um einen rostigen Haken, den Mack – der für die Mathews-Familie arbeitete – vor Jahrzehnten in den Rahmen der Holzveranda genagelt hatte. Es war kühl draußen, die Luft ziemlich frisch, der Himmel wie geschliffener Lapislazuli und der Regen prasselte aus grauen Wolken nieder, als schuldeten sie jemandem Geld. Sie waren noch ein gutes Stück von einem richtigen Dezemberfrost entfernt. Nicht nötig, die Zwiebeln und Kohlköpfe in den nächsten zwei Wochen abzudecken, dachte Darren, als er den Schlauch aufhängte. Er tat es sorgfältig und geduldig in Vaughns Beisein, eine Demonstration stoischer Ruhe.
»Nun, Sie wissen, dass wir die Sache nicht einfach auf sich beruhen lassen können«, sagte der Bezirksstaatsanwalt, als würden sie eine erst kürzlich begonnene Unterhaltung fortsetzen. »Mit dem Toten und alldem. Ronnie Malvo war Abschaum, das war kein Geheimnis. Aber wir können nicht zulassen, dass Leute einfach Selbstjustiz üben. Nicht in meinem Bezirk, Ranger.«
»Keine Ahnung, was das mit mir zu tun hat. Ich habe meine Aussage vor Gericht gemacht.«
»Das haben Sie.«
»Und Mack wurde freigesprochen.«
»Er schon, ja«, sagte Vaughn. »Vorerst.« Er kam ein wenig näher, sodass er und Darren sich neben dem Haus direkt gegenüber standen. »Aber falls da noch jemand in die Sache verwickelt ist, find ich’s raus. Sie wissen das, Ranger. Betrachten Sie das also als einen Höflichkeitsbesuch.« Er blickte hinunter auf seine Stiefelspitzen, dunkelbraune Roper, die in der Erde auf dem Mathews-Grundstück ihren Glanz verloren. Als er wieder aufblickte, hatte er ein leichtes Grinsen im Gesicht und sagte Darren auf den Kopf zu: »Ich hätte auch in das Ranger-Büro unten in Houston kommen und rumtönen können, dass sie in der Sache nicht unbedingt aus der Schusslinie sind.«
»Ich? «
»Ich hoffe, dem ist nicht so, wirklich«, sagte Vaughn. Trotzdem wurde das Grinsen breiter, und die Fältchen um seine schmalen Augen herum verzogen sich, als er hinzufügte: »Aber falls Sie vorhaben, Rutherford McMillan weiterhin zu decken, werden Sie vielleicht auf zwölf Männer und Frauen treffen, die über Ihr Schicksal befinden. Es wird auf jeden Fall eine weitere Grand Jury geben, merken Sie sich meine Worte, Ranger. Sie können vor ihr aussagen oder derjenige sein, der den Gerichtsbeschluss ausbaden muss.«
Darren erstarrte sichtbar.
In den Monaten, in denen der Mord an Malvo ein so verheerendes Chaos in Darrens Leben und Karriere angerichtet hatte, war der Bezirksstaatsanwalt einer Drohung noch nie so nah gewesen. Er versuchte sie abzuschwächen, indem er eine Hand auf Darrens Schulter legte, um ihm ein entspanntes Gefühl zu vermitteln, eine Geste, die irgendwie peinlich war, weil Darren gut fünf Zentimeter größer war, mit Stiefeln zehn, sodass sich keiner der beiden Männer mit der Machtverteilung wirklich wohlfühlte. »Ich hoffe, ich kann in dieser Sache auf Ihre Kooperation zählen«, sagte Vaughn, als er sich zu seinem Wagen umwandte. »Mein Büro wird sich den Fall noch mal in allen Einzelheiten vornehmen. Wir werden Zeugen befragen, neue«, sagte er und hielt inne, um die Wagenschlüssel aus der Tasche seiner marineblauen Hose zu fischen und den nächsten Schlag zu platzieren. »Ihre Mutter zum Beispiel.«
Darren spürte einen Anflug von Panik.
Er wusste, dass er vorsichtig sein musste, und trotzdem war seine Stimme so laut, dass es ihm peinlich war. Meine Güte, er klang erschrocken, sogar fassungslos. »Bell Callis ist Ronnie Malvo nie begegnet, sie hat überhaupt keine Ahnung, wer er ist.«
»Aber sie kennt Sie .« Vaughn sah Darren über den Rand der Fahrertür an. Das Grinsen wollte ihm nicht mehr aus dem Gesicht weichen. Darren erkannte jetzt das selbstgefällige Vergnügen, den Blick eines Mannes, der ein paar Hunderter mehr und ein gutes Blatt hatte. »Sie waren in letzter Zeit häufig bei ihr draußen. Jedenfalls haben mir die Deputys aus der Gegend das erzählt.«
»Keine Ahnung, was das Ihrer Meinung nach zu bedeuten hat«, erwiderte Darren.
»Vielleicht gar nichts … vielleicht aber doch.«
»Haben Sie mit ihr gesprochen?«, fragte Darren und bereute die Worte in dem Moment, in dem sie ihm wie lockere Zähne aus dem Mund fielen. Er verspürte einen Kontrollverlust, der ihn zuerst beschämte und dann erschreckte. Als er wieder das Wort ergriff, geschah es voller gerechtem Zorn. »Meiner Mutter geht es nicht gut«, sagte er, weil es in gewisser Weise einfach so sein musste. »Falls ich herausfinden sollte, dass Sie sie belästigen …«
Vaughn hob eine Hand, nicht so, als wollte er sich verabschieden, sondern vielmehr so, als entließe er Darren vorerst nur. »Wir reden noch, Mathews«, sagte er und glitt auf den Fahrersitz seines Fort Taurus. »Wir reden noch.« Ein paar Sekunden später hörte Darren, wie der Motor angelassen wurde. Er stand reglos da, so als wären aus dem Boden Ranken hochgeschossen und hätten sich um seine Fußknöchel gelegt. Er konnte sich nicht bewegen, selbst als von Frank Vaughn nichts mehr zu sehen war außer aufgewirbelter roter Erde in der Auffahrt. »Scheiße«, murmelte er. Das Spiel war aus. Er würde wegen Bell etwas unternehmen müssen.