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Am Montagmorgen wurde Darren als Erstes in das Büro seines Lieutenants gerufen, eine überraschende Bitte, die ihn nervös machte, sobald er das Büro betrat. Bei Fred Wilson hatte man zwei Wochen nach den Wahlen ein Magengeschwür diagnostiziert, obwohl Darren vermutete, dass er für den designierten Präsidenten gestimmt hatte – auch wenn diese Annahme lediglich auf dem Hut und den Cowboystiefeln des Mannes basierte, einem Paar aus Straußenleder, wie Darren selbst gerade eins trug. Doch das musste nicht unbedingt etwas zu bedeuten haben. Richtet nicht und so weiter.
Wilson hatte eine wachsende Zahl Hausmittelchen auf seinem Schreibtisch aufgereiht, eingeklemmt zwischen zwei hohen Aktenstapeln. Wie jeder gute Texaner behauptete seine Frau, mit der er seit fünfundzwanzig Jahren verheiratet war, dass sie zu einem Achtel Cherokee sei, und bestand darauf, dass Fred das, was ihm sein Hausarzt verschrieb, mit etwas ergänzte, das in der Erde wuchs. Aktuell knabberte er fortwährend an gedünstetem Kohl oder rohen Karotten oder nippte an irgendeinem wässrigen Gebräu, das ihm seine Frau täglich zubereitete. An guten Tagen rochen seine Rülpser nach Kokosnusswasser oder Banane. Heute war es Knoblauch. Es gab kein einziges Fenster im Gebäude, das sich öffnen ließ, und die Luft in Wilsons Büro roch abgestanden und säuerlich.
Darren setzte sich auf den Freischwinger Wilson gegenüber und legte seinen grauen Stetson auf sein Knie. Er trug heute dunkelblaue Hosen, die er bereits im Morgengrauen gebügelt hatte, dazu ein weißes Button-down-Hemd und eine schmale burgunderrote Krawatte. Er war heute Morgen von Camilla gekommen und hoffte, dass sich sein Zusammenstoß mit jemandem vom Sheriff-Department von San Jacinto County noch nicht herumgesprochen hatte. Wilson hatte vor sich eine Akte auf dem Schreibtisch liegen, eine Mappe, die dünn genug war für Darrens blühende Fantasie, um zu glauben, dass es sich um seine Personalakte handelte. Alles hatte sich wieder eingerenkt, sowohl persönlich als auch beruflich, und er hatte Angst, das könnte sich erneut ändern.
Wilson war der Auftakt.
Er rieb über eine Stelle mit Bartstoppeln, die er heute Morgen beim Rasieren übersehen hatte, als er sagte, dass Darren sich im Büro in Houston wieder gut eingelebt habe. Nach den erfolgreichen Verhaftungen in Lark im letzten Herbst sei er stolz gewesen, ihn wieder begrüßen zu können. Wilson hatte für Darren eine neue Stelle bei der gemeinsamen Arbeitsgruppe der Texas Ranger – in Partnerschaft mit der ATF, DEA und dem FBI – geschaffen, die daran arbeitete, zahlreiche Anklagen wichtiger Mitglieder der Arischen Bruderschaft von Texas wegen Drogenhandels, illegaler Waffenverkäufe und diverser anderer Verabredungen zu Straftaten vorzubereiten. Wilson meinte, Darren habe von seinem Schreibtisch in Houston aus unschätzbare Recherchearbeit geleistet, indem er tausende Seiten Mobilfunkverbindungen mit gelbem Marker durchgegangen sei und nach allem Ausschau gehalten habe, was die Feds gegen die Bruderschaft verwenden könnten. Dass er dabei vor Langeweile fast zu schielen angefangen hatte, behielt Darren für sich. Die Hände im Schoß gefaltet, hörte er Wilson zu, als dieser ihm sagte: »Bislang war ich froh, Sie wieder hier in Houston zu haben.«
Darren war sich nicht sicher, was er damit sagen wollte, doch es klang nicht gut.
»Wie läuft es zu Hause, Ranger?«
»Gut«, sagte Darren, obwohl ihm das Wort fast ihm Hals stecken blieb.
»Ich habe gehört, Sie waren am Wochenende draußen in San Jacinto.«
Los geht’s, dachte Darren.
Wilson griff nach einem Fläschchen mit No-name-Säureblockern. Er schüttete sich ein paar in seine linke Hand, die die Größe und Oberflächenbeschaffenheit eines Kinderbaseballhandschuhs hatte. »Hören Sie, ich will mich nicht in Familienangelegenheiten einmischen, solange es unsere Arbeit nicht beeinflusst.«
»Ich kann es erklären.«
»Nicht nötig. Was auch immer Sie bei Ihrer Mom zu tun hatten, geht nur Sie beide etwas an. Ich wollte eher wissen, wieso Sie auf Ihrem Familiensitz in Camilla waren.«
Dann fragte ihn Wilson rundheraus nach seiner Ehe.
»Haben sich Lisa und Sie wieder zusammengerauft?«
»Ich meine, würde sie Sie für ein paar Tage weglassen? Ich weiß, dass Sie darum gebeten haben, in Houston stationiert zu sein. Ich würde auch nicht fragen, wenn die Feds nicht eine Sonderanfrage geschickt hätten.«
Darren fuhr mit dem Finger an der Krone seines Huts entlang. Er merkte, dass er etwas in ihrer Unterhaltung nicht mitbekommen hatte. »Es tut mir leid, Sir. Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«
Wilson schlug die Akte auf. Sobald sie offen dalag, warf er keinen Blick mehr darauf, weil er den Inhalt auswendig kannte. »Wir haben ein vermisstes Kind oben bei Jefferson – am Caddo Lake, um genau zu sein – im Marion County.«
»Das ist der Zuständigkeitsbereich von Company B.«
»Ich weiß«, sagte Wilson seufzend. Er warf ein paar Magensäuretabletten ein, und Darren sah ihm dabei zu, wie er ein paar unbehagliche Sekunden lang kaute. »Doch dieser Fall bedarf besonderer Aufmerksamkeit. Vieles daran deutet auf Ärger hin.«
»Inwiefern.«
»Der Junge, Levi King …«
»Wie alt?«
»Neun.«
Darren sah sich selbst im Alter von neun, mit seinen vorstehenden Zähnen, egal welche Märchen seine Mutter über seine Zahnpflege und auch über die wichtige Rolle, die sie bei seiner Erziehung gespielt hatte, erzählte. Im Alter von neun waren die Männer, die ihn großgezogen hatten, seine Onkel William und Clayton Mathews, seine Welt.
Wilson nickte und stieß einen leisen Rülpser aus. Er nahm einen Schluck Cola, die ganz bestimmt nicht auf der Liste der Stärkungsmittel seiner Frau stand. »Nun, zu dem Jungen besteht eine Verbindung. Deshalb will das FBI jemanden, der damit umzugehen weiß.«
»Verbindung?«
»Die Familie des Jungen gehört zur Bruderschaft.«
Darren verzog das Gesicht.
Es wurde ihm erst bewusst, als Wilson sagte: »Das Kind kann nichts dafür.«
»Natürlich nicht«, beeilte sich Darren zu sagen. Er war nicht stolz auf den kurzen Moment, in dem seine Abneigung gegen die Arische Bruderschaft von Texas sein Mitgefühl mit dem Jungen überwog. Doch er konnte auch die schwelende Antipathie – vielmehr die Gleichgültigkeit – gegenüber einer Familie der Bruderschaft, die Kummer hatte, nicht abschütteln. Er verbarg sie jedoch gut genug, um eine naheliegende Frage bezüglich des FBI zu stellen: »Haben die mich angefordert?«
»Sie haben nach einem Ranger aus der Sondereinheit gefragt.« Ich habe Sie vorgeschlagen.«
»Danke«, sagte Darren. Es klang mehr wie eine Frage, und er hoffte, nicht den Eindruck zu erwecken, als würde er es geringschätzen oder den Ernst der Lage nicht erkennen. Trotzdem war der Zeitpunkt schlecht. Daran war nicht zu rütteln. Er konnte im Moment nicht in den Außendienst. Nicht jetzt, wo es mit Lisa gut lief. Und nicht nachdem ihm die Situation mit seiner Mutter entglitten war. Er musste mit ihr sprechen, weil die Waffe weder im noch unter dem Trailer war. Sie hatte auf keinen seiner Anrufe reagiert, und er hatte am Sonntag gut fünf Stunden auf den Stufen vor ihrem Trailer gesessen und darauf gewartet, dass sie nach Hause kam und sich rechtfertigte, war sogar bei Starfish Resort Cabins und RV Hook-up vorbeigefahren, um nach ihrer Chevette oder ihr selbst Ausschau zu halten, wie sie in ihrem abgewetzten blauen Arbeitskittel leicht wankend von Hütte zu Hütte ging.
Darren rutschte auf seinem Stuhl hin und her, seine langen Beine steif wie Zündhölzer.
Durch die Wand von Wilsons Büro hörte er das fortwährende Klingeln von Telefonen, Gespräche von Rangern auf dem Flur und ihre schweren Schritte auf dem dünnen Industrieteppich. Auf seinem Schreibtisch lag im Augenblick ein Stapel Telefonunterlagen neben hunderten Seiten abgefangener Gefängniskorrespondenz von Mitgliedern der Bruderschaft. Er hatte gedacht, er würde den Tag damit verbringen, nach Mustern und Verbindungen zu suchen, Code-Wörter zu knacken, die entweder Anschläge befahlen oder mit denen kiloweise Meth verkauft oder Bargeld in Läden gewaschen wurde, die in Kleinstädten überall im Staat alles Mögliche anboten, von Autoreifen über Schönheitspflege bis zu Linoleum. Seit er wieder in Houston war, war das Darrens einziger Beitrag zur Sondereinheit gewesen, die schon seit Jahren hinter der Arischen Bruderschaft her war.
Doch jetzt wurde Darren an die Front gerufen.
»Der Vater des Jungen – Bill ›Big Kill‹ King – ist ein ABT-Captain, der wegen Drogendelikten eine zwanzigjährige Haftstraße im Telford-Unit-Gefängnis in der Nähe von Texarkana verbüßt. Handel, Herstellung, bewaffnete Raubüberfälle, alles Mögliche.«
Obwohl die Anklage wegen Körperverletzung, nachdem ein Schwarzer, Vater von zwei Kindern, zu Tode gekommen war, fallen gelassen wurde, dachte Darren.
»Und während er seine Schuld an der Gesellschaft begleicht«, fügte Wilson hinzu, »lässt sich seine Frau auf so einen beschränkten Mitläuferarsch namens Gil Thomason ein, der schon ein paarmal eingesessen hat, meistens wegen Betrugs. Schneeballsystem und alte Damen um ihr Bingo-Geld bringen. Es heißt, Bill King will nicht, dass sein Junge länger in Gesellschaft dieses Kerls ist.«
»Denken Sie, es geht ums Sorgerecht?«
»Wir wissen es nicht«, sagte Wilson. »Aber der Junge ist seit Freitagabend verschwunden.«
»Das sind zweieinhalb Tage«, bemerkte Darren.
Wilson nickte, und beide wussten, dass das kein gutes Ende verhieß. »Der Vater, King«, sagte er, »schwört, er weiß nicht, wo sein Junge ist. Berichte aus Telford besagen, dass er deswegen am Boden zerstört ist. Er bettelt darum, dass das Sheriffbüro in Jefferson etwas unternimmt und seine Verbrechen nicht dem Jungen anlastet. Er hat sogar einen Brief an den Gouverneur geschrieben.« Zum ersten Mal blickte Wilson in die aufgeschlagene Akte auf dem Schreibtisch. Obenauf lag ein handgeschriebener Brief von Bill King an den Gouverneur, der vom Texas Department of Criminal Justice abgefangen worden war, TDCJ NR. 657372212. Als Adresse hatte King lediglich geschrieben Capitol Hill, Austin . Wilson reichte ihn Darren über den Schreibtisch. Der Gouverneur hatte den Brief nie erhalten, und jetzt lag er in seinen schwarzen Händen. Er las ihn nicht gleich. Er legte ihn in seinen Schoß, um die Bleistift-Markierungen nicht zu verwischen. Dann blickte er auf und sagte: »Sieht nach einer lokalen Angelegenheit aus.«
»Offiziell ja«, sagte Wilson. »Aber ich müsste lügen, wenn ich behaupten wollte, dass wir darin keine Gelegenheit sehen.«
»Gelegenheit?«
Als Wilson das Wort aus seinem Mund hörte, verzog er das Gesicht. Er legte die Hände schwer auf den Schreibtisch und verschränkte seine dicken Finger. »Hören Sie«, sagte er, »in gut einem Monat haben wir einen neuen Mann im Weißen Haus, ein brandneues Justizministerium, und wer weiß, wie das ausgeht, ob deren Prioritäten überhaupt mit dem übereinstimmen, was wir mit dem FBI sechs Jahre lang in der Sondereinheit gemacht haben. Sechs Jahre, Ranger, versuchen wir jetzt schon, dieser terroristischen Vereinigung das Handwerk zu legen.«
Terroristische Vereinigung .
Noch nie hatte er seinen Vorgesetzten die ABT so bezeichnen hören. Und ihm war vage bewusst, dass es zu seinem Vorteil war, dass Wilson etwas verkaufte.
»Zwanzig Captains und zwanzig einfache Mitglieder der Bruderschaft sind bei diesem Deal unter Umständen dran. Es ist ein guter Fall, Darren. Das könnte die Wende bringen, könnte die Sache sein, die die Bruderschaft in diesem Staat ein für allemal zu Fall bringt.«
»Was brauchen Sie von mir?«, fragte Darren.
»Wir brauchen eine Anklage, besser früher als später. Die Feds wollen das vor dem Wachwechsel in Washington vor eine Grand Jury bringen. Bevor das Trump-Justizministerium die Arische Bruderschaft mit einer Art Ehrengarde verwechselt. Die Feds sagen, sie stünden kurz davor, das möglich zu machen.«
Diesmal schob Wilson die gesamte Akte in Darrens Richtung. »Zwei Mitglieder der ABT sind in einen häuslichen Streit verwickelt, wobei jeder mit dem Finger auf den anderen zeigt …«
»Ist es das, was hier läuft?«
Wilson nickte zu dem handgeschriebenen Brief in Darrens Schoß, damit er ihn las, und redete dann weiter. »Einer von den beiden oder die Ehefrau redet vielleicht über die Machenschaften der Bruderschaft, über die sie zuvor nicht reden wollten, Informationen, die einer Anklageschrift den letzten Schliff geben könnten. Das FBI hat es nicht geschafft, Bill King mit diesem größeren Fall der Bruderschaft in Verbindung zu bringen. Vor allem weil er schon sechs Jahre im Knast sitzt und behauptet, er hätte sich geändert. Doch wenn die Ehefrau und der neue Freund sauer genug werden, vielleicht …«
»Sie wollen das Kind als Druckmittel benutzen?«
Wilson verzog angesichts der Schlussfolgerung das Gesicht. »Wir wollen bei den Ermittlungen umsichtig sein, das ist alles. Falls im Verlauf der Suche nach dem Kind irgendwelche Geheimnisse zutage kommen, können wir sie vielleicht nutzen.«
»Sie glauben, er lebt noch?«, fragte Darren, obwohl er nicht genau wusste, wie er auf die Frage kam. Er hatte die Akte nicht gelesen und wusste so gut wie nichts. Nur dass der Junge bereits wieder aufgetaucht wäre, wenn es sich um einen familieninternen Streit gehandelt hätte. Die Frage erschütterte Wilson, und sein Gesicht nahm eine blassgraue Färbung an.
»Wie gesagt, es sind schon fast drei Tage, und je eher Sie zum Sheriff-Büro von Marion County fahren, desto besser«, sagte er.
»Wieso ich?«, fragte Darren schließlich. »Aus offensichtlichen Gründen.«
»Ich kann Ihnen nicht folgen«, sagte Wilson.
Darren hasste es, wenn Weiße das machten – wenn sie so taten, als wäre Rasse etwas, woran sie nicht gedacht hätten, bis man selbst das Thema ansprach. Wahrscheinlich hatte man ihnen beigebracht, dass es höflich sei oder so etwas, so wie man nicht erwähnte, dass der andere einen Krümel schwarzen Pfeffer zwischen den Zähnen hatte. Doch Darrens niederschmetternde Erkenntnis war, dass die Person, die ihm gegenüber saß, ihn in den letzten fünfzehn Minuten nicht richtig wahrgenommen hatte. Es war eine Unsichtbarkeit, die ihn wütend machte. Er hatte geglaubt, dass er und Wilson das bereits hinter sich gelassen hätten. »Kommen Sie«, sagte er zu seinem Lieutenant. »Wenn Sie mich schon zu einem Schlamassel mit der Bruderschaft schicken, dann sagen Sie mir wenigstens, wieso.«
Wilson machte ein verkniffenes Gesicht; er sah aus, als würde er einen besonders schmerzhaften Nierenstein ausscheiden. Er stieß die Luft aus und räumte dann ein: »Es gibt Berichte über zahlreiche Rassenkonflikte in der Gegend, aus der der Junge kommt, eine kleine Gemeinde namens Hopetown am See, ungefähr fünfzehn Meilen von Jefferson entfernt.«
»Nie ein Hopetown auf einer Karte von Texas gesehen«, sagte Darren.
»Ich glaube nicht, dass es in den letzten zwanzig oder dreißig Jahren überhaupt auf einer Landkarte vermerkt war. Es ist eine sterbende Kleinstadt da draußen, und die Probleme wurden wohl von Neuankömmlingen heraufbeschworen, die mit den Leuten, die wer weiß wie lang schon dort leben, aneinandergeraten sind. Jemand, der das Problem angehen will, muss mit zahlreichen Zeugen reden, und die werden nicht alle wie die Leute von der Bruderschaft aussehen oder reden, wenn Sie wissen, was ich meine.«
»Es gibt Schwarze in Hopetown«, brachte Darren es auf den Punkt.
»Ein paar, ja.«
Darren war einverstanden, bevor er wusste, wie er das seiner Frau erklären sollte.
»Ein Deputy vom Marion County wird Sie begleiten.«
»Glauben Sie mir, ich finde mich schon zurecht in Osttexas.«
»Es ist zu Ihrem eigenen Schutz«, sagte Wilson.
»Das ist nicht nötig …«
»Das war kein Vorschlag«, sagte Wilson abschließend.
»Irgendwas Bestimmtes, worauf ich achten soll?«, fragte er.
»Jedes Stück Papier und jede Zeugenaussage, die Bill King mit Aktionen der Bruderschaft in Verbindung bringen«, sagte Wilson. »Es ist unsere letzte Chance.«
Darren stand auf, die Akte in der Hand, in der Bill Kings Brief sorgfältig verwahrt war, und stülpte seinen Stetson auf den Kopf. Er musste zum Friseur, aber dafür war jetzt keine Zeit. Erst als er an der Tür war, hielt ihn Wilson noch einmal auf. »Und Mathews«, sagte er mit wissendem Blick, »keine Einbrüche mehr, ja? Sie sind endlich wieder da, wo ich Sie haben will. Vermasseln Sie das nicht.«
Darren schenkte seinem Lieutenant ein schmales Lächeln.
Dann tippte er sich an den Hut und ging.
Nur um zwei Sekunden später in Wilsons Büro zurückzukehren. »Weil wir von der Sondereinheit gesprochen haben«, sagte er und versuchte lässig zu klingen. »Haben Sie je daran gedacht, das San Jacinto County darüber zu informieren, dass Ronnie Malvo ein Spitzel war?«
Wilson zog die Brauen zusammen. »Um eine Ermittlung auf Bundesebene zu gefährden?«
»Oder den Bezirksstaatsanwalt auf Trab zu bringen, damit er tut, was er bereits hätte tun sollen, bevor Malvo unter der Erde war – andere Verdächtige in Betracht zu ziehen.«
Nicht dass Darren nicht schon früher daran gedacht hätte.
Die Arische Bruderschaft von Texas, auch ABT genannt, ließ Spitzel nicht einfach singen und weiterleben. Sie schnitten ihnen die Zunge heraus und zwangen sie, sie zu essen. Theoretisch hätte jeder in ihrer Gang einen Killer auf Malvo ansetzen können. Wenn er tagelang über endlosen Seiten voller Bruderschaft-Delikten saß – ABT-Mitglieder, die allem Möglichen verdächtigt wurden, von Drogenhandel über Raubüberfälle bis hin zu Mord –, dachte Darren manchmal, wie einfach es wäre, sich einen Namen herauszugreifen, so als würde man in einen Bingokorb fassen und eine Gewinnzahl ziehen. Es erschreckte ihn, wie leicht es wäre, Frank Vaughn das Fahndungsfoto eines tätowierten Mitglieds der Bruderschaft auf den Tisch zu knallen und damit den Mordverdacht von Mack und Verdacht auf Beihilfe von ihm selbst wegzulenken. Er konnte die Missbilligung seines verstorbenen Onkels William spüren, der ebenfalls ein Texas Ranger gewesen war, ein Mann, den Darren wegen seiner Integrität und seinem blinden Vertrauen in das Gesetz verehrte. Aber Darren war sich nicht mehr sicher, ob das Gesetz dieses Vertrauen noch verdiente. Er hatte Mack instinktiv beschützt, weil seine eigene Lesart der Geschichte ihm sagte, dass ein schwarzer Mann ein Recht auf seine Angst hat. Andernfalls würde er wegen der eines anderen sterben. Entweder sie oder wir, stimmt’s? Diese Überzeugung fühlte sich wie ein Stein in seiner Brust an, der bei jedem Atemzug an den Knochen seines Brustkorbs rieb und ihn so von innen heraus mürbe machte. Doch war es deswegen weniger wahr? Hatte seit den Wahlen irgendetwas seinen Zynismus widerlegt? Vielleicht mussten die Regeln tatsächlich geändert werden. Vielleicht war Gerechtigkeit genauso wenig ein starres Konzept wie die Liebe, und Dichter und Blues-Musiker kannten die Regeln besser als alle anderen. Er erinnerte sich an eine alte Platte von Lightnin’ Hopkins, an einen Song, aus dem sich sein Onkel William nichts gemacht hatte, den sein Zwillingsbruder Clayton jedoch mit einem sarkastischen Lächeln mitsummte. Yeah, I’m black and I’m evil, but this black man did not make hisself . Ich bin schwarz und ich bin schlecht, aber dieser Schwarze hat sich nicht selbst erschaffen. Für Clayton war Gerechtigkeit stets relativ.
Wilson sah ihn befremdet an und sagte: »Meine Auffassung ist, dass Frank Vaughn einen ziemlich wasserdichten Indizienprozess in einem ›Hängt ihn höher‹-County verloren hat …« Etwas an seiner Schilderung ließ Darren erröten, als hätte er in einem Aufzug plötzlich einen fahren lassen. Er räusperte sich und fuhr fort: »Vaughn hatte seinen großen Tag, er hatte seine Grand Jury und die Klage wurde abgewiesen. Das sollte ihn vielleicht lehren, es so bald kein zweites Mal zu versuchen.«
»Oder jetzt erst recht.«
Wilson schien einen Moment lang darüber nachzudenken und wiederholte dann seine Anweisung von vorhin: »Vermasseln Sie das nicht, Mathews. Ich mein’s ernst. Mack ist nicht Ihr Problem. Dieser Mordfall ist nicht Ihr Problem.« Er konnte Wilson nicht sagen, dass er völlig falschlag – nicht ohne die ganze schmutzige Geschichte mit der Waffe und seiner erpresserischen Mutter ans Licht zu bringen. Und das kam auf keinen Fall infrage. Er nickte lediglich pflichtbewusst, als ihm sein Lieutenant sagte, dass er so schnell wie möglich nach Jefferson fahren sollte.