5
Deputy Brian Briggs erwartete ihn vor dem Gerichtsgebäude, genau genommen an der Ecke Polk und Austin, wo er wie ein Rodeo-Clown winkte, als dächte er, Darren könnte das Gebäude direkt vor ihm womöglich übersehen, als wäre er ein Fremder, der keine Straßenschilder lesen könnte. Briggs war in seinen Zwanzigern und mit seiner Wampe ein paar Jahrzehnte zu früh dran. Er hatte die Haltung eines älteren Mannes, trotz seines jungenhaften Gesichts und seines Eifers. Er war weiß, was bei der Strafverfolgung in Marion County, Texas, fast selbstverständlich war, und mit den Händen auf den Hüften sah er dabei zu, wie Darren seinen Chevy auf einen freien Platz an der Pols Street stellte, neben dem Wandbild eines alten Dampfschiffs namens Mittie Stephens
. Sie waren nur einen Block vom Big Cypress Bayou entfernt, einst die wichtigste Reise- und Handelsroute nach Jefferson – eine Stadt, die nach dem dritten Präsidenten des Landes benannt und früher einmal die größte Stadt des Staates gewesen war. Der Bayou war eine breite Wasserstraße, die zirka acht Meilen östlich in den Caddo Lake mündete, der selbst eine alte Handelsroute über die Grenze nach Louisiana war. Früher kamen Dampfschiffe von Shreveport und New Orleans über den See in die damalige Hafenstadt Jefferson. Das alles verlieh der Stadt ihren unverwechselbaren Charakter, der stark beeinflusst von den französischen Siedlern in Louisiana war. Der Marktplatz sah aus wie ein geschrumpftes französisches Viertel – Gebäude im Kolonial- und Queen-Anne-Stil mit Laufgängen aus raffiniertem Schmiedeeisen –, jedoch ohne dessen Sinn für Humor oder irgendeine Spur von Ausschweifung. Er wirkte wie eine Kurtisane, die zu Jesus gefunden hatte. Jefferson hatte etwas Verkniffenes, nicht so sehr zugeknöpft als vielmehr verklemmt, einen Sinn für Anstand – die idyllischen Backsteingebäude in den Straßen des Stadtzentrums und die perfekt gepflegten Gärten der Wohnhäuser –, der zu bemüht war, so als gäbe es etwas zu verbergen.
Es war eine Stadt, die in der Zeit stehen geblieben war.
Der einst geschäftige Ort war kaum mehr als eine verschlafene Touristenattraktion, die Straßen voller Antiquitätenläden und Geschäfte, wo man Tickets für Besichtigungen historischer Kolonialhäuser, Geistertouren zu Spukorten oder Bücher über die Zeit vor dem Bürgerkrieg kaufen konnte – Jeffersons Blütezeit, bevor Shreveport die Stadt als Zentrum eines regen Flusshandels ablöste. Als die Eisenbahnbarone von Texas und der Pacific Railway Company Marshall gegenüber Jefferson den Vorzug gaben, war die Stadt endgültig erledigt. Darren war einmal hier gewesen, als er zwölf war, um Marcus Aldrich, Claytons Zimmergenossen im ersten Studienjahr an der Prairie View, zu besuchen. Marcus lebte seit fast zwanzig Jahren in Jefferson, nachdem er eine Weiße geheiratet hatte, die eins von zwei Dutzend Gästehäusern in der Stadt betrieb. Die Ehe hatte nicht gehalten, und Clayton war hingefahren, um seinem Freund beim Auszug aus dem Dogwood Inn zu helfen. Obwohl Darren vermutete, dass er die zweieinhalbstündige Fahrt unternommen hatte, um ihm eine Ich-hab’s-dir-doch-gesagt-Predigt zu halten und seinen Kumpel zu animieren, etwas aus seinem Doktor in Geschichte zu machen. Offensichtlich waren es nicht nur Darrens Lebensentscheidungen, bei denen sein Onkel Clayton ein Wörtchen mitreden wollte.
Als Darren aus seinem Truck ausstieg, wartete Deputy Briggs bereits auf ihn. Er hatte seine breite Hüfte an eine alte Gaslaterne gelehnt, die mit Weihnachtslametta und winzigen Glöckchen behängt war, die in der leichten vom Bayou geschwängerten Brise klimperten. Sie waren nah genug am Caddo Lake und an Louisiana auf der anderen Seite, um die Sumpflandschaft, den Duft von Austernschalen und den süßlichen Geruch von Spanischem Moos zu riechen. Er erfüllte die Straßen von Jefferson genauso wie der Geruch von frittiertem Zwergwels und Alligator, der um die Mittagszeit aus den Restaurants im Stadtzentrum strömte.
»Ich habe meinen Streifenwagen hinter dem Amtsgericht abgestellt«, sagte Briggs. »Sie können bis zum Highway hinter mir herfahren. Es sind ein paar Abzweigungen bis dorthin, aber Sie bleiben einfach dicht hinter mir, und ich passe auf, dass Sie nicht verfahren.«
»Nicht nötig«, sagte Darren und lächelte, um ihm zu signalisieren, dass er den ganzen Aufriss zu schätzen wusste und nicht unhöflich sein wollte. »Beschreiben Sie mir den Weg, dann finde ich es schon.«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Hopetown liegt tief im Wald am Caddo Lake. Beim ersten Mal bin ich direkt daran vorbeigefahren«, sagte Briggs und zog seine Autoschlüssel heraus. »Außerdem ist das eine Anweisung vom Sheriff.« Der wiederum seine Anweisungen von Wilson bekam, wie Darren wusste. Er war damit einverstanden gewesen. Er nickte zustimmend und stieg wieder in den Truck, um auf Briggs Eskorte zu warten.
Als Darren seinen Truck hinter Deputy Briggs weißem Streifenwagen in dem winzigen Nest Hopetown abstellte, saßen Marnie King und Gil Thomason draußen vor ihrem Trailer – gestrichen in einem wässrigen Blau mit weißen Zierleisten und auf der einen Seite auf Ziegelsteinen aufgebockt. Fast zweiundsiebzig Stunden, nachdem sie Levi King als vermisst gemeldet hatten, weigerten sie sich noch immer, jemanden von der Polizei ohne Durchsuchungsbefehl in ihren Trailer zu lassen. Er kenne seine Rechte, sagte Gil Thomason und listete sie laut auf, als Darren aus seinem Truck stieg. »Ich meine, wenn der Junge drin wäre, hätten wir Sie schließlich nicht angerufen«, sagte er. Gil sah seine Freundin an, die Mutter des Jungen, weil er wollte, dass noch jemand diesen Unsinn bezeugte. Aber Marnie starrte geradeaus und blickte weder Gil noch die Männer des Sheriffs an, die im Vorgarten standen, der mit rostigen Bootsteilen und sonstigem Gerümpel zugemüllt war. Sie hielt eine nicht angezündete Zigarette in den Händen und rollte sie wie einen Handschmeichler zwischen den Handflächen hin und her. Schließlich griff sie unter den Bund ihrer Leggings und zog ein Feuerzeug heraus. Ihre Stimme war rau wie alte Melasse, die kristallisiert und scharfkantig geworden war. Und sie war winzig und hatte die Füße eines Kindes. Sie trug ein blassrosa Tanktop, und Darren konnte die Rippen durch den Stoff hindurch erkennen.
Alles in Hopetown sah so elend und unterversorgt aus wie Marnie King.
Der Trailer von ihr und Gil stand in der Mitte eines Rasters unbefestigter Wege, an denen diverse mobile Wohnobjekte standen:
Trailer, ein paar Vans, ein Hausboot, das aus dem Wasser gezogen und zu einer Hütte umfunktioniert worden war. Jemand hatte eine Satellitenschüssel auf seinem Dach installiert und aus Muschelscherben einen Weg zu seiner Eingangstür angelegt. Sie war flankiert von zwei schwarzen Lawn Jockeys. Jemand mit einem seltsamen Sinn für Geschichte – und Humor – hatte ihnen winzige Konföderiertenflaggen in die Hände gesteckt. Darren ertappte sich dabei, wie er die Wegreihen nach Zeichen für die Arische Bruderschaft von Texas absuchte, ABT-Tattoos auf Gil Thomasons bloßer Haut mit eingeschlossen. Marnie Kings Freund trug ein langärmeliges T-Shirt von der Big Pines Lodge, und das einzig Erkennbare an ihm von Darrens Position aus war sein grimmiger Gesichtsausdruck. »Was zum Henker will der hier?«, blaffte er.
Er nickte in Richtung Darren.
Steve Quinn, Sheriff von Marion County, drehte sich zu Darren um. Er war Ende dreißig, jung für seinen Posten, und hatte dunkles Haar und ein weißes, pockennarbiges Gesicht. Trotzdem sah er attraktiv und vertrauenswürdig aus.
Er stand neben seinem Streifenwagen vor dem Trailer und musterte Darren eingehend, hatte nichts einzuwenden gegen das, was er sah, und ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.
»Ranger Mathews ist hier, um uns bei der Suche nach Ihrem Sohn zu helfen.«
»Meinem
Sohn«, stellte Marnie richtig. »Haben Sie schon mit seiner Großmutter gesprochen?«
»Noch einmal, Ma’am, die Vorschriften besagen, dass wir hier anfangen müssen, um mögliche Probleme zu Hause auszuschließen, sogar die einfache Möglichkeit, dass Ihr Sohn vielleicht weggelaufen ist, sich vielleicht irgendwo bei einem Freund …«
»Ich weiß genau, wo er ist«, sagte Marnie. »Das ist Rosemarys Werk.«
»Nun, wenn ich einen Blick in sein Zimmer werfen könnte, Ma’am, könnte ich ausschließen …«
»Was, ich soll dem Hurensohn die Gelegenheit geben, in meinen Sachen rumzuschnüffeln?« sagte Gil. »Sein Stern auf der Brust interessiert mich einen Scheiß, ich lass keinen Nigger in meine vier Wände.«
Sheriff Quinn seufzte mit einem Ausdruck, der genervt und eine Spur verlegen wirkte. Darren spürte, wie der Zorn ihn packte; es brachte sein Herz zum Rasen und seine Fingerspitzen zum Kribbeln. Am liebsten hätte er jemandem eine verpasst. Gil Thomason, aber auch seinem Lieutenant – dafür, dass er über zweihundert Meilen gefahren war, um dann beschimpft zu werden. Er versuchte, sich zu beruhigen und daran zu denken, dass es hier um einen Neunjährigen ging, versuchte wie immer, der bessere Mensch zu sein. Er seufzte unter dieser Last. Er nahm seinen Stetson ab und ging vor Marnie King in die Hocke, die auf den Stufen ihres Trailers saß. Sie roch nach Babypuder und Zigaretten und verströmte eine säuerliche Fahne von irgendwas, das sie getrunken hatte, bevor die Cops aufgetaucht waren. »Ma’am«, sagte er. Gil versuchte zwischen sie zu treten, bereit, Marnie vor dem fremden Schwarzen zu beschützen, wobei er sein Knie Darren beinahe ins Gesicht drückte. Darren schüttelte energisch den Kopf und sagte: »Sie müssen einen halben Meter zurücktreten, mein Sohn.« Das Sohn
, das wie Junge
klang, ließ Gil ausrasten.
»Hör mal, Nigger …«
»Was?«, sagte Darren, die Hand am Colt, bevor Gil noch näherkommen konnte.
Gil wich zurück, doch nur ein paar Zentimeter, und Sheriff Quinn sagte: »Na, na, na, das wollen wir doch nicht.« Es war nicht klar, ob er Gil oder Darren meinte.
Mit Marnie sprach er in einem freundlichen Ton, der jedoch nicht sein Missfallen für ihre Entscheidungen im Leben verbarg, von denen jede einzelne für das Verschwinden ihres Sohns verantwortlich sein konnte. »Wie lange ist er schon verschwunden?« Er suchte nach etwas in ihren Augen, die schlammgrün waren, von der gleichen Farbe wie das Wasser des Caddo Lake.
»Er ist am Freitagabend nicht nach Hause gekommen«, sagte sie mit vorgerecktem, knochigem Kinn. Darren blickte auf seine Armbanduhr, als wäre ihm gerade erst eingefallen, dass Montag war. »Nun ja, Ma’am«, sagte er, »die Chancen, ein Kind zu finden, das länger als achtundvierzig Stunden vermisst wird, sind sehr gering. Wir wollen Ihnen dabei helfen.«
Das war nicht sein eigentlicher Auftrag hier, aber das brauchten
sie nicht zu wissen.
Ein vermisstes Kind zu finden, würde ihm jedenfalls ein besseres Gefühl geben angesichts des Plans, den er hundert Meilen vor Marion County ausgeheckt hatte: Wenn er irgendeinen Beweis finden konnte – echt oder konstruiert –, um Bill King mit dem Mord an Ronnie Malvo in Verbindung zu bringen, wären er und Mack beim San Jacinto County und bei Bezirksstaatsanwalt Frank Vaughn aus dem Schneider, und Wilson hätte, was er bräuchte, um Bill »Big Kill« King dranzukriegen. Einen Auftragskiller für einen Informanten anzuheuern, ergäbe eine hübsche Anklage, zusätzlich zu den Ermittlungen auf Bundesebene gegen die Arische Bruderschaft von Texas. Darren hatte in Gedanken bereits ein Quidproquo ausgearbeitet und mit seinem Onkel William während der Fahrt hierher ein imaginäres Gespräch geführt.
Bill würde seinen Jungen zurückbekommen im Tausch gegen ein Leben im Gefängnis, wo er auch hingehörte. William, der tot war, hatte kein Wort gesagt, und trotzdem hatte Darren seine Missbilligung spüren können, die so kalt wie der Atem eines Geistes in seinem Nacken gewesen war. Er hatte das Radio laut gestellt und die Fenster seines Trucks heruntergelassen, um sein Schwindelgefühl zu bekämpfen. So leicht war es also, von der Klippe seiner eigenen Moral zu stürzen. Es wurde Musik von Lightnin’ Hopkins und Jessie Mae Hemphill gespielt, Baumwollpflücker-Blues, aus einer Zeit, als es kein Gefühl für richtig oder falsch im Umgang mit Weißen gab. Es ging nur ums Überleben.
»Er ist nicht verschwunden
«, insistierte Marnie. »Seine Großmutter hat ihn.«
Sanft sagte Darren: »Und wenn es nicht so ist?«
Da sah er die Angst in ihren Augen. Marnie King war sich nicht sicher, doch sie klammerte sich an ihre Theorie, weil die Alternative zu schrecklich war. Darren konnte spüren, wie sie an ihrem Zorn festhielt. Er sah ein ängstliches Zittern auf ihrer zerfurchten Stirn. Selbst ihr Körper verströmte Angst. Sie blickte zu ihrem Freund Gil auf, der neben den Stufen stand, und verdrängte sie rasch. »Das war Rosemarys Werk«, sagte sie.
Gil nickte und kratzte sich am Haaransatz, die vollen Locken schon leicht ergraut. Er trug ein weites Paar schwarze Wrangler, das an
einer backsteingroßen Gürtelschnalle hing, die, falls sie wirklich aus Silber war, genügt hätte, um dem Trailer einen neuen Anstrich zu verpassen und einen neuen Satz Reifen zu kaufen. Er war barfuß trotz der Steine und Erde um seinen Wohnwagen herum, als hätte er Angst, dass ihm der Sheriff womöglich hinein folgte, wenn er seine Stiefel holte. Was auch immer in dem Trailer war, war es Gil Thomason anscheinend wert, Levi King Zeit zu stehlen, die dieser nicht hatte. Als Darren aufblickte, sah er ein Mädchen im Teenageralter hinter dem vorderen Fenster stehen. Sie hatte milchweiße Haut und schwarz umrandete Augen, und sie trug eine Lederjacke, die zwei Nummern zu groß war. Sie betrachtete die Szenerie, Gil und Marnie vor ihrer Trailertür, den Sheriff und die Deputys und Darren. Ihr Blick begegnete seinem, und er sah deutlich, dass sie weinte, und das vermutlich schon eine ganze Weile.
»Glauben Sie mir, diesen Mist hat sich Rosemary King ausgedacht«, sagte Gil mit der Bestimmtheit eines Mannes, der sich mit Betrügereien auskannte. »Nimmt den Jungen, schaltet den Sheriff ein und bringt dann noch diesen Richter dazu, sich irgendwas auszudenken, um hier herumzuschnüffeln und zu sagen, wir wären nicht geeignet, und ruckzuck verliert Marnie das Sorgerecht, und Rosemary muss keinen Unterhalt mehr zahlen.«
Sheriff Quinn schüttelte den Kopf. »Sie waren es doch, die den Jungen als vermisst gemeldet haben.«
»Er wird nicht vermisst«, sagte Marnie mit schriller, eisiger Stimme. »Reden Sie mit dieser alten Hexe in Jefferson und bringen Sie mir meinen Sohn zurück.« Ihre Stimme brach beim letzten Wort und brach etwas in ihr weit auf. Marnie begann zu weinen, dicke Tränen fielen auf ihr rosafarbenes Tanktop und verfärbten den Stoff in ein dunkles Blutrot. Briggs hatte recht gehabt: Hopetown war schwer zu finden.
Es war ein gemeindefreies Stück Land am Ende einer einspurigen, unbefestigten Straße und so überwuchert – dicht stehende Pinien und Sumpfeichen, Vogelmiere, die in alle Richtungen wucherte –, dass jemand, der sich nicht auskannte, auf den ersten Metern aufgegeben hätte und umgekehrt wäre. Der einzige andere Zugang zu der winzigen Ortschaft war per Boot, indem man den nördlichen Teil des Caddo Lake überquerte. Doch das nahegelegene Seeufer war von
uralten Sumpfzypressen gesäumt, die von Spanischem Moos in der Farbe vom Bart eines alten Mannes bewachsen waren, und ihre knotigen Wurzeln standen aus dem Wasser wie eine Truppenlinie, die Eindringlinge fernhielt. Hier draußen wohnten Menschen, die sowohl vom Land als auch vom Wasser aus nicht zu sehen waren. Die Luft roch nach Torf und totem Fisch und der feuchten, sumpfigen Erde entlang des Ufers. Und nach Pferdescheiße. Seltsam, denn Darren konnte keine Vierbeiner entdecken, bis auf einen räudigen Hund, der an einer Verpackung eines Kirsch-Pies von Hostess schnüffelte.
Wie Sheriff Quinn und Deputy Briggs hatte er seinen Wagen ein paar Meter vom Ufer entfernt neben einer Reihe Bootsschuppen geparkt, sodass die Männer offen sprechen konnten. Quinn ging mit Darren den letzten Tag des Jungen durch. »Die Mutter und der Freund waren in Jefferson und Marshall, um Besorgungen zu machen, was, wenn man Gil Thomason kennt, alles bedeuten konnte, von einem Halt bei Kroger, um Frisiercreme und Toilettenpapier zu kaufen, bis zum Verticken von Kreditkartennummern unter einer Brücke. Der Typ ist ein echtes Stück Scheiße. Falsche Personalausweise, Kreditkartennummern und Drogen natürlich. Er ist wirklich zwielichtiger Abschaum. Deshalb will er uns auch nicht reinlassen.«
»Ich bin überrascht, dass der Richter noch keinen Durchsuchungsbeschluss ausgestellt hat.«
»Jeder hofft wahrscheinlich, dass es eine einfache Erklärung für die Sache gibt, dass der Junge abgehauen ist oder die Großmutter tatsächlich involviert ist. Es fehlt nicht an häuslichen Problemen bei den Leuten«, sagte Quinn und nickte in Richtung des blauweißen Trailers in einiger Entfernung. So dicht am Ufer hatte Darren einen umfassenderen Blick auf Hopetown. Hinter den Trailerreihen befand sich eine leichte Senke, so üppig und grün wie der Trailerpark öde und trostlos war. Ein paar Häuser standen dort. Keine Wohnwagen, sondern richtige Häuser auf Fundamenten, die stabiler waren als Ziegelsteine und Räder. Es gab eine Art strohgedeckter Hütte, die rund wie ein Pilz war. Darren dachte erneut an die Pferde und fragte sich, was es dort gab, in dem anderen Hopetown. »Der Junge hatte Probleme«, sagte Quinn. »Schule schwänzen und leichter Vandalismus. Meine Deputys waren schon mehr als einmal hier
draußen.«
Darren verzog das Gesicht. »Er ist neun.«
»Und hat einen Dad im Knast und eine Mom, die mit einem Kriminellen zusammenlebt. Keiner würde das laut aussprechen, außer mir«, sagte der Sheriff. Er blickte zu dem Streifenwagen, der hinter ihnen stand, wo Briggs mit herausgestrecktem Bein auf dem Fahrersitz saß und eine Nachricht in sein Handy tippte. »Aber die Kings erregen nicht viel Mitgefühl hier in der Gegend. Außer Rosemary. Das mit ihr ist etwas anderes.«
»Ihr Sohn, Bill King, ist ein Captain bei der Bruderschaft.«
»Eine Menge Leute sind bereit, das zu vergessen. Rosemary King ist ’ne große Nummer in Jefferson.«
»Was ist mit Thomason? Gehört er zur ABT?«
»Ein Möchtegern-Mitglied«, sagte Quinn. »Das sind die schlimmsten.«
Darren nickte. Er mochte Quinn, spürte, dass er ehrlich zu ihm war, und der Sheriff schien nichts gegen Darrens Anwesenheit in seinem County zu haben. »Bill King will das wohl Gil anhängen«, sagte er. »Er glaubt, dass Marnies Freund dem Jungen vielleicht was getan oder Levi irgendwie in Gefahr gebracht hat. Die Leute sind ziemlich aufgebracht. Zum Teufel, ich habe zwei Kinder, und ich hätte in diesem County keinen Stein auf dem anderen gelassen, wenn sie verschwunden wären. Etwas stimmt mit Thomason tatsächlich nicht, der sorgt immer für Ärger. Aber bisher gibt es keine Anzeichen für irgendein mieses Spielchen, nichts in der Art. Der Junge ist einfach verschwunden.«
Wie Darren von Quinn erfuhr, war der Junge am Nachmittag von zu Hause weggegangen. Seine ältere Schwester – das Mädchen am Trailerfenster – hatte Levi gestattet, mit dem Boot ihres Großvaters rauszufahren, obwohl sie beide wussten, dass Marnie das nicht erlaubt hätte. Das Boot war seit dem Tod ihres Vaters im Herbst nicht oft benutzt worden, und niemand kümmerte sich richtig darum. Aber Dana King hatte ihren Freund zu Besuch und wollte ein wenig Privatsphäre. Sie befahl Levi, ein paar Stunden wegzubleiben. Der Junge fuhr den ganzen Weg nach Karnak auf die andere Seite des Caddo Lake – ein so großes Gewässer, wie Darren erfuhr, dass Teile davon einen eigenen Namen trugen, was ebenfalls für die Handvoll
Inseln galt – von denen ein paar mehrere Meilen lang waren –, die sich zwischen Wasserlilien und mit Moos behängten Zypressen erhoben. Quinn, der eine Karte vom See in seinem Streifenwagen hatte, breitete sie auf der Motorhaube des Wagens aus. Er fuhr mit seinem haarigen, ausgestreckten Finger über einen Zufluss namens Clinton Lake, hinter Goat Island und der Bucht von Carter Lake im Westen, wo Levi einen Großteil des Nachmittags bei einem Freund verbracht und Videospiele gespielt hatte. Der Junge, C.T., war der Erste gewesen, den Dana angerufen hatte, nachdem ihr Bruder nach Einbruch der Dunkelheit nicht nach Hause gekommen war. Darren sah sich die Karte genauer an. Sogar auf dem Papier war der See größer, als er ihn sich vorgestellt hatte. Er sah aus wie ein Tier, das man quer über die Landkarte gelegt hatte, mit einem feuerspeienden Kopf im Norden – die Bayous und Bäche, die aus seinem Maul schossen, ähnelten einer gespaltenen Zunge und Flammen – und einem mächtigen Körper, der Teile von Louisiana beanspruchte. Es war ein wildes Binnenmeer, völlig ungezähmt. Darren blickte an den Bootsschuppen vorbei zu Hopetowns überwuchertem Ufer. Nur ein geübter Bootsführer konnte durch das Dickicht aus Sumpfzypressen navigieren, deren Wurzeln – auch Kniewurzeln
genannt – wie Schlagstöcke aus dem Wasser ragten. Caddo Lake war sowohl majestätisch als auch makaber. »Das ist ein weiter Weg für einen Neunjährigen in einem untüchtigen, alten Boot.«
»Das ist eine andere Welt hier draußen. Ich habe Siebenjährige gesehen, die fünfzehn Fuß lange Fischerboote gesteuert haben. Hier wird man in ein Kanu gesteckt, sobald man laufen kann. Die Alten erzählen, wie sie mit dem Boot zur Schule gefahren sind und versucht haben, ihre Hausaufgaben nicht nass werden zu lassen. Für die Leute am See gehört das Wasser einfach dazu.«
»Trotzdem hätte ihm da draußen was zustoßen können.«
»Nein, wir haben einen Augenzeugen, der behauptet, dass er das Boot zurückgebracht hat«, sagte Quinn, während er zu Deputy Briggs in seinem Streifenwagen hinübersah. »Ein Nachbar von dort«, sagte er und streckte seinen Arm aus, um an den Trailern und Vans vorbei auf das andere Hopetown zu zeigen. »Er sagt, er hätte gesehen, wie der Junge den Bootsschuppen abgeschlossen hat. Das Boot selbst hat er nicht gesehen, aber angenommen, dass er damit
zurückgekommen ist. Marnie und Gil haben uns auch da nicht reingelassen, aber man kann sehen, dass es abgeschlossen ist.« Er zeigte auf eine Hütte aus rohen Schindeln mit einem Blechdach, an deren Türgriffen ein großes Vorhänge-schloss hing. Darren blickte nach oben. Er konnte weder Straßenlaternen noch Lampen an den Bootsschuppen entdecken, überhaupt keine Beleuchtung. »Ist er sicher, dass es Levi King war?«
»Wollen Sie ihn selbst fragen?«
Darren bemerkte erneut den Pferdegeruch und vernahm Hufgeklapper. Er wusste, dass es drei waren, bevor er den Kopf drehte und den berittenen Trupp sah. Der vorderste Reiter war ein Schwarzer um die siebzig, die anderen beiden waren jünger und saßen auf zwei dunkelgrauen Mustangs. Es waren Ureinwohner – texanische Indianer –, der eine ein Teenager, der andere Ende dreißig. Seine Haut war ledrig und bronzefarben, und er hatte beide Hände an den Zügeln und lenkte seinen Hengst mit minimalen Bewegungen. Sie waren bewaffnet mit zwei 45er Revolvern und einem Gewehr, das der Teenager an einem Lederriemen über dem Rücken trug. Der Schwarze sah Darren an, nickte und nannte seinen Namen: »Leroy Page.«