8
Das ursprüngliche Hopetown erinnerte an eine Geisterstadt: die verrottende hölzerne Hülle einer alten Kirche und ein Gemischtwarenladen, der nur noch aus einer grauen Rahmenstruktur bestand, leere Häuser überall in der Umgebung, Unkraut und Wildblumen, die zwischen den Dielen der Veranden wucherten, Baumwurzeln, welche die Fundamente anhoben. Und trotzdem war hier wieder Leben, in diesem anderen Hopetown. Es gab Obstbäume und Maisfelder und eine üppige Vegetation in den Gärten, die sich vor den wenigen Häusern erstreckten, die noch immer aufrecht und stolz dastanden und in Gelb, dunklen Rosa- und gedeckten Blautönen gestrichen waren – außer Leroy Pages Haus, das weiß war wie weihnachtlicher Schnee, der gelegentlich auf den Caddo Lake fiel. Ein durchdringender Farbgeruch umgab das Haus, als Darren aus dem Truck stieg. Es war einstöckig mit einem großen Dachfenster, ein starres Auge auf die Welt hinter Mr. Pages ordentlicher Veranda. Er züchtete Kohl und Steckrüben, Mangold und Gurken, hatte einen Pekannussbaum, der einen Teil des Hauses beschattete. Im Augenblick sammelte er mit gebeugtem Rücken die restlichen Nüsse vom Boden unter dem Baum auf und warf sie in eine zerknitterte Papiertüte in seiner Hand. Sein Haus stand auf einem Viertel Morgen, neben Ställen und einer kegelförmigen Strohhütte, die auf einem kleinen, kompakten Erdhügel thronte. Donald Goodfellow und sein Sohn kümmerten sich um die drei Pferde.
Leroy Page richtete sich auf und nickte Darren zu. »Sie können dem Sheriff sagen, dass wir noch nichts entdeckt haben. Die Sonne geht bald unter. Wir machen morgen weiter.«
Er rief nach Donalds Sohn Ray, damit er die Pekannüsse zu seiner Großmutter brachte. »Sag ihr, ich nehme ein halbes Dutzend Eier dafür.« Ray, der gleich angerannt kam, als der ältere Mann seinen Namen rief, nahm die Papiertüte und rannte querfeldein auf ein gelbes Haus in ungefähr zwanzig Metern Entfernung zu. In diesem Teil von Hopetown gab es keine Straßen, jedenfalls keine, die nicht von wildem Gras überwuchert waren, sodass nichts die Grundstücke voneinander trennte, als wären sie eine einzige große Familie.
Tatsächlich kam Rays Großmutter, eine kleine, gedrungene Frau mit bronzefarbenem Gesicht, das mit Leberflecken gesprenkelt war, heraus auf ihre vordere Veranda, nahm die Tüte mit Pekannüssen in Empfang und rief zu Mr. Page hinüber: »Eier sind alle, Leroy, Lou und ihre Mädchen waren schneller, aber ich hab roten Maispudding im Backofen. Wir essen um halb sieben, falls du rüberkommen magst.«
Mr. Page nickte unverbindlich, eine Geste, die für die Frau auf die Distanz wahrscheinlich nicht zu deuten war. Dann blickte er zu Darren und schüttelte den Kopf. »Margaret weiß, dass ich ihren Maispudding nicht essen kann. Wir Pages, die Schwarzen in Hopetown, haben unseren süß gegessen. Das Rote in ihrem Maispudding ist Habanero, wenn ich davon auch nur einen Bissen nehme, kann ich die ganze Nacht nicht schlafen.« Er zuckte mit den Achseln. »Ich züchte sie, kann sie aber nicht mehr essen.«
Darren sagte zu Mr. Page, dass er ein paar Nachforschungen anstelle und dienstlich hier sei. Der alte Mann nickte zustimmend. »Dann kommen Sie mal rein. Wenn’s dunkel wird, bleib ich nicht länger draußen, jedenfalls nicht ohne meine Pistole.«
Sie gingen durch das dämmrige Haus – vorbei an sepiafarbenen Familienfotos in Mahagonirahmen, Zeitungsstapeln, die sich im Flur türmten, einer Angelausrüstung, Malerzubehör und Stoffmustern, die in einen Eichensekretär gestopft waren – in die Küche, wo ein Radio auf einem Kühlschrank der Marke Frigidaire stand. Ein blecherner Jessie-Mae-Hemphill-Blues lief, das Gefidel einer Country-Violine. Like a tree planted by the water, I shall not be moved .
Darren fragte ihn: »Sind Sie sicher, Mr. Page, dass Sie diesen Jungen am Freitagabend bei dem Bootsschuppen gesehen haben?« Er hielt ihm das Schülerfoto hin.
Der alte Mann warf nur einen kurzen Blick darauf. »Ich kannte den Jungen schon als Baby«, sagte er und nahm ein Miller High Life aus dem Kühlschrank. Er benutzte einen Öffner, den er an seinem Schlüsselring trug. »Es war der King-Junge, so sicher wie ich hier stehe.«
»Und um welche Zeit?«
»Halb sieben, vielleicht viertel vor.« Er nahm einen Schluck von seinem Bier.
Darren ignorierte seinen eigenen Durst und blickte auf die Uhr. Er blickte prüfend durch das Küchenfenster zum Himmel, sah das gelbe Haus von Rays Großmutter und den See dahinter. Es war noch nicht ganz dunkel, doch lange würde es nicht mehr dauern. Es war erst viertel nach sechs. Der alte Mann erriet, worauf Darren hinauswollte. »Ich hatte meine Taschenlampe dabei«, sagte er und zeigte auf einen handgemachten Werkzeuggürtel, der an einem Nagel an der Wand hing und in dem eine silberne Taschenlampe steckte. »Ich war an dem Abend auf Patrouille.«
»Ach ja, was bedeutet das?«, fragte Darren und erinnerte sich an die Pferde und Waffen, daran, dass sie den Eindruck eines Suchtrupps gemacht hatten. »So ’ne Art Nachbarschaftswache?«
»Es ist legal, was immer es auch ist«, sagte der alte Mann und beäugte Darren misstrauisch.
Darren hob die Hände, um zu signalisieren, dass er es nicht böse meinte, dass er trotz seiner Marke noch immer ein Schwarzer war. »Bei der Nachbarschaft«, sagte er in einem Ton, der deutlich machte, dass er die Bewohner des Trailerparks meinte, durch den man hindurch musste, wenn man zu Mr. Pages Teil von Hopetown wollte. »Das kann man Ihnen nicht verübeln.«
»Das sind keine Nachbarn«, sagte Mr. Page und knallte die Bierflasche auf das lackierte Holz des Küchentischs. »Die sind widerrechtlich hier, diese Leute.«
»Was soll das heißen?«
»Sie leben auf meinem Land«, sagte er und zeigte auf das Haus, den Hof und die Gärten dahinter und die Ställe und Gebäude, und seine Entrüstung reichte bis zur Abzweigung an der FM 727, der Straße, die nach Hopetown führte. »Das alles gehört mir.«
Er sei in dem Haus geboren worden, seine Mutter und seine Großmutter ebenfalls, erzählte er. Seine Familie hatte diese Gegend als freie Schwarze nach dem Bürgerkrieg besiedelt, hatte am Ufer des großen Sees ein Utopia gebaut, hatte die Erde mit den Werten bestellt, die sie am höchsten schätzten, nicht nur Freiheit und Autarkie, sondern auch Vergebung. Es war ein Wort aus der Bibel ihres Masters, ein Wort, das sie nicht hatten lesen dürfen. Doch Gnade kam wie selbstverständlich zu Leroy Pages Vorfahren, war in ihre DNA eingeschrieben, eine angeborene Intelligenz, die ihnen sagte, dass wahre Freiheit bedeutete, von den Weißen abzulassen. Man konnte rasen vor Wut wegen dem, was sie getan hatten, oder man konnte sich davon befreien. Es war kein Angebot zwei zum Preis von einem. »Schwarze«, sagte Leroy überzeugt, »sind die versöhnlichsten Menschen auf der Welt.«
Darren konnte seinen Blick nicht deuten, ob es Stolz oder Scham war, was er da sah. Es war ein Aspekt, über den seine Onkel oft erbittert diskutiert hatten – ob die Vergebung die Schwarzen zu Heiligen oder Handlangern machte. Das Jahr, in dem Darren aufhörte, zur Kirche zu gehen – mit zwölf behauptete er, zu alt für die Sonntagsschule zu sein –, setzte William bei einem kurzen Besuch in Camilla, den sein Bruder ihm gestattete, Darren an den Küchentisch und sagte: »Diese Familie hat sich durch die Lehre Jesu erfolgreich entwickelt, unser Leben basiert auf religiöser Gemeinschaft, Gebet und Vergebung.« Sein Bruder Clayton, der an der Küchenspüle stand, wo er Steckrüben wusch, die er im Garten züchtete, begann tatsächlich zu kichern. Das sei ein gefährliches Wort, meinte er. Es bringe die Weißen auf die Idee, dass sie straffrei davonkämen, denn wie sollte in einer Welt, in der Vergebung fortwährend wie ein All-you-can-eat-Buffet im Lunch Bucket serviert wurde, ein Anreiz geschaffen werden, faire Gesetze zu erlassen, Kontrolle auf angemessene Weise auszuüben und auf der Straße nicht auf Leute zu spucken?
»Es ist nicht 1966, Pop«, sagte Darren, nur um zu zeigen, dass er auf dem Laufenden war.
»Nein, es ist 1986, und du siehst ja, welchen weißen Mistkerl aus Alabama Reagan ins Bundesbezirksgericht zu hieven versucht.«
»Sessions wird niemals bestätigt«, sagte William und zündete sich eine der Lucky Strikes an, die er bis zu seinem Tod rauchte. Zu diesem Zweck hatte er immer eine große Schachtel Streichhölzer auf dem Küchentisch, die Clayton zur Erinnerung an seinen Zwillingsbruder an ihrem Platz belassen hatte.
»Der Punkt ist, dass sie die Dreistigkeit besitzen, einen bescheuerten Klananhänger zu ernennen. Ihnen für alles zu vergeben, was vor dem Wahlrechtsgesetz geschehen ist, lässt sie in dem Glauben, dass sie recht haben. Wir haben uns mit dieser We-Shall-Over-come-Mentalität selbst in diesen Schlamassel befördert.«
»Aber du bist selbst marschiert, Pop«, sagte Darren. Diese Unterhaltung empfand er als größeren Frevel als seine Ankündigung, nicht mehr in die Kirche zu gehen. »Was willst du damit sagen?«
»Ich will damit sagen, dass du sie für alle Zeiten dafür verantwortlich machen musst. Auf eigene Gefahr wegschaust.« Er legte die nassen Steckrüben auf ein Geschirrtuch. »Vergebung hat ihre Grenzen.«
Es sei ein Luxus, den sich Schwarze nicht leisten könnten, behauptete Clayton.
William blickte seinen Neffen an. »Darren, vielleicht muss ich mal wieder in die Sonntagsschule gehen, weil ich mich nicht daran erinnere, wo das in der Bibel steht.«
Es ärgerte ihn, dass Clayton seinen christlichen Glauben für eine Schwäche hielt. »Ich weiß, wer ich bin, wer meine Leute sind. Ich kenne die Macht unserer Gnade, unseres Glaubens. Echte Vergebung kennt keine Grenzen«, sagte er, bevor er Folgendes zubilligte: »Ja, Clayton, du hast recht damit, dass das nur möglich ist, wenn der Schmerz wegen des eigentlichen Verbrechens verschwunden ist.«
»Dann viel Glück damit«, sagte Clayton bissig, während er einen Topf mit Wasser füllte. »Wie lange sind du und Naomi jetzt verheiratet?«
Es war als bitterer Scherz gemeint, über den er, Manns genug, lachen konnte. William lachte ebenfalls, doch es war gezwungen und traurig. Bald kehrte wieder Schweigen zwischen den beiden Brüdern ein, und Onkel William war in Darrens Leben nicht mehr präsent.
In seiner Küche leerte Mr. Page sein Bier und öffnete das nächste. Jahrzehntelang, sagte er, sei Hopetown eine eigenständige Gemeinde gewesen, mit einer Kirche und einer Schule, einer Kneipe mit Blues- und Zydeco-Livemusik am Wochenende, einem Lebensmittelladen und einem Gemeindesaal, wo sie Krippenspiele aufführten und Wahlen abhielten. Leroys Ururgroßvater war der erste Bürgermeister des Orts gewesen. Über Generationen hinweg war jedes Mitglied der Page-Familie irgendwann im Gemeinderat tätig, bis der Ort seinen Zusammenhalt in den späten Siebzigern verlor, als Schwarze nach und nach wegzogen, weil sie lieber in Marshall, Longview oder Dallas leben wollten – Orte, die den Schwarzen mehr zu bieten hatten als ein Kaff in Marion County. Nicht einmal Jefferson hatte genug Anziehungskraft, ein Ort, der hauptsächlich vom Tourismus lebte, von der Vermarktung einer Vorkriegsblütezeit, die für die Schwarzen nicht so gut lief. Weit weg von Hopetown gab es die besseren Jobs und ein besseres Leben. Als schwarze Familien wegzogen, kaufte Leroy nach und nach das herrenlose Land und schwor sich, zu bleiben, sah es als sein Geburtsrecht an, bis die Zeit an diesem Plan zu nagen begann wie Motten an Walkstoff. Während er davon sprach, umwölkte sich sein Blick, wurde seine Stimme wehmütig und belegt vor Sehnsucht. »Ich wollte hier sterben«, sagte er. Er nickte, als betrachtete er anerkennend ein Bild von dem idealen Ort. »Ja, Sir, das hier, dieses kleine Stück Himmel. Ich wollte den Rest der Zeit, die mir Gott geben würde, genau hier verbringen – angeln, mich um meine Pferde kümmern und meinen Kohl und meine Chilischoten züchten.«
»Ich züchte ebenfalls Chilischoten«, sagte Darren. Die Worte sprudelten mit einem Eifer aus ihm heraus, als würde er in der Fremde einen Landsmann treffen. Er blickte in die Augen des alten Mannes, die dunkel wie geröstete Zichorien waren, eingebettet in ein Gesicht, das lang und wettergegerbt war, und er glaubte, den Mann auf einmal zu verstehen, seine Verbindung zu dem Land und zu seinen Wurzeln. Mr. Page schien Darren ebenfalls anders zu betrachten, sah etwas in ihm, das seine Zustimmung fand. »Auch meine Familie besitzt Land«, sagte Darren. »Unten im San Jacinto County, zwölf Morgen, an denen die Mathews schon beinahe so lange festhalten, wie Hopetown existiert.«
»Dann verstehen Sie also, was es heißt, so etwas aufzubauen. Scheint nicht richtig zu sein, es einfach aufzugeben. Doch ich nehme mal an, außer mir ist keiner mehr übrig. Ich bin der Letzte. Meine Mädchen haben während ihrer Highschoolzeit in Jefferson noch hier gewohnt. Doch mit dem College war’n sie dann weg. Die eine ist in Dallas, und die andere verkauft Immobilien oben in Arkansas. Sie will, dass ich alles verkaufe und zu ihrer Familie nach Little Rock ziehe. Sie haben einen Pool, sagt sie. Was soll ich mit ’nem Pool, wo ich neben dem hier aufgewachsen bin?« Er zeigte auf den erhabenen Caddo Lake, der nur ein paar Meter vor dem Küchenfenster lag. Die Dämmerung war bereits hereingebrochen, und die knorrigen Zypressen waren kaum noch auszumachen. Wieder hatte Darren das Bild von Levi King vor Augen, wie er kurz vor Sonnenuntergang allein in einem Boot draußen auf dem Wasser war.
»Was ist mit den Trailern, Mr. Page?«, fragte er.
Er erinnerte sich an Gil Thomasons breites, genüssliches Grinsen, als er den Namen Leroy Page erwähnt hatte, und das Gefühl, einen Fehler gemacht zu haben, nagte an ihm. »Hatten Sie je Ärger mit der Familie des Jungen?«
»Mit dem Großvater des Jungen gab’s keine Probleme. Lester Wayne. Ich hab ihm in den Achtzigern ein paar Morgen verpachtet, als klar war, dass Hopetown irgendwann verschwinden würde. Als nur noch ich und ein paar von Margarets Familie übrig waren, Donald und Ray, Margarets Schwester und ihre Kinder. Ein paar Cousins und Cousinen.«
»Verpachten Sie an die auch?«
»Ich berechne nur ein paar Dollar im Monat, damit der Vertrag bindend ist. Meine Tochter Erika hat mir das gesagt. Aber ich will nicht wirklich Geld von den Caddos, die hier leben. Das gehörte übrigens mal alles ihnen, noch vor Ihnen und mir, mein Sohn. Die Indianer waren hier vor den Franzosen, den Spaniern, den Engländern und den Afrikanern. Kennen Sie die Hasinai – sind wie ein Stamm innerhalb eines Stamms, verstehen Sie, sie sind die Caddos aus der Gegend hier, nördlich von Arkansas bis runter nach Nacogdoches. Wie auch immer, kennen Sie ihr Wort für ›Verbündete‹? Tayshas . Genau. Tayshas. Tejas . Texas. Meine Familie hat immer auf die Indianer um uns herum aufgepasst. So wie sie es mit uns getan haben. Verbündete. Das sind sie. Freunde. Familie. Ich verdanke ihnen mein Leben.«
»Die Trailer, Sir«, sagte Darren, der die Kontrolle über seine erste Befragung in dem Fall behalten wollte, weil er spürte, dass die Geschehnisse in dem Ort eine Rolle beim Verschwinden von Levi King spielten. »Und Ihre Beziehung zur Familie des Jungen?«
»Lesters Trailer war der erste und einzige bis zu diesem Sommer. Er zog hier raus, nachdem seine Frau unten in Marshall gestorben war, stellte den kleinen Trailer auf und blieb für sich. Er war ein alter Redneck, das ganz bestimmt. Hat sich betrunken und fast jeden Tag geangelt. Ohne seine Frau, so ganz allein tat er mir leid. Meine Mädchen und ich haben ihre Mutter früh verloren, also konnte ich irgendwie mit ihm mitfühlen. Lester konnte echt fiese Sachen sagen, über die lauten, schmutzigen Farbigen im Ort, hatte so ’ne olle Dixie-Flagge an der Antenne seines El Camino. Aber mir gegenüber war er korrekt, bezahlte seine Pacht immer rechtzeitig, und ein paarmal sind wir ins Gespräch gekommen. Wie sich rausstellte, waren wir beide zur selben Zeit in der Army. Keiner von uns hat je gekämpft, und wir haben überlegt, was wir womöglich verpasst hatten, wie Waffen und Europa uns womöglich verändert hätten. Wären wir nach Hause zurückgekommen, nachdem wir Paris oder Rom gesehen hätten? Ich war mir sicher. Lester nicht. Wir fanden raus, dass wir in derselben Basis in Louisiana stationiert waren, ich in den Kasernen mit den Farbigen und er bei den weißen Jungs. Man könnte wohl sagen, dass wir so was wie Freunde wurden. Wir saßen draußen auf meiner Veranda, tranken etwas und verfolgten die Basketballspiele der Karnack Highschool im Radio. Ich mochte ihn, wirklich. Ich war bereit, ihm den Stuss zu vergeben, den er anfangs erzählte, weil ich’s für Unwissenheit hielt, weil er nie Zeit mit Schwarzen verbracht hatte. Ich war bereit, die Geschichte ruhen zu lassen, für die keiner von uns beiden etwas konnte, und ihm von Mensch zu Mensch zu begegnen. Ich habe ihm die Hand gereicht, und schauen Sie, was mir das gebracht hat.«
»Was ist mit Marnie King?«
»Damit fing der Ärger an. Sie ist eingezogen, als ihr Mann ins Gefängnis kam. Er ist so ’ne Art Skinhead, und ich vermute, nach seiner Inhaftierung wusste sie nicht, wohin, und ihr Daddy hat sie und ihre Kinder aufgenommen. Levi war noch ein Wickelkind. Dann hat sie sich mit dem eingelassen, der jetzt da draußen ist, und nach und nach kamen seine zwielichtigen weißen Freunde zu Besuch. Fingen an, mich Nigger zu nennen, auf meinem eigenen Land. Ich sagte Lester, dass ich das nicht hinnehmen würde, dass er sein Mädchen an die Kandare nehmen soll. Lester schien von den Veränderungen überfordert zu sein, wo sie auf einmal zu sechst in dem Trailer hausten und seine Tochter von einem Rassisten zum nächsten wechselte, und ich weiß nicht, aber vor drei Monaten hat sein Herz versagt. Der Mann war kaum eine Woche unter der Erde, als Gil anfing, den Grund und Boden, den ich Lester überlassen hatte, weiterzuverpachten. Und auf einmal kamen immer mehr Trailer und Leute, die in Vans leben, das wurde von Woche zu Woche mehr. Es ist wie so ein Hassgeschwür, das sich über Hopetown, meinem Zuhause, ausbreitet.«
»Können Sie sie nicht einfach verjagen, den Sheriff dazu bringen, sie gewaltsam zu vertreiben?«
»Die Pacht mit Lester läuft noch ein Jahr. Und es steht nichts im Vertrag darüber, dass ihm oder seiner Familie nicht gestattet ist, einen Teil von dem, was er von mir gepachtet hat, weiterzuverpachten. Auf so ’ne Idee bin ich überhaupt nicht gekommen, als ich die Papiere aufgesetzt hab. Der Sheriff sagt, sie hätten ebenfalls Rechte, die Leute in den Trailern. Also stecke ich fest. Es hat schon ’ne Menge Ärger gegeben.«
»Zum Beispiel?«
»Vandalismus, um uns zu vertreiben«, sagte Mr. Page.
Darren versprach ihm, zu tun, was er konnte, um ihm etwas Hilfe und Schutz vom County zu verschaffen. Wenn er direkt mit Sheriff Quinn sprach, verstand der Mann vielleicht besser, dass etwas getan werden musste. Dass es nicht richtig war, auf dem eigenen Grund und Boden diskriminiert zu werden, zumal Gil Thomason dort höchstwahrscheinlich unerlaubten Aktivitäten nachging. »Wenn wir mit der Durchsuchung des Trailers fertig sind, wird es vielleicht einfacher, ihn und die anderen zu vertreiben.«
»Spielt keine Rolle mehr«, sagte Mr. Page mit einem Seufzer. Die ausgestoßene Luft schien seine Brust zu verbrennen, sein Herz zu verletzen, zu sagen, dass es sowieso vorbei war. »Ich verkaufe.« Er stieß die Hände in die Taschen seiner Bluejeans, die hier und da Flecken von Gras und Schmierfett aufwies. Seine Schultern sanken herab, und er schmunzelte mit einem wissenden Gesichtsausdruck. »Noch ein paar Monate, und sie alle werden hier verschwunden sein, ob’s ihnen gefällt oder nicht. Ein Junge hat mit Farbe Verandaaffe und Nigger an mein Haus gesprüht und gedroht, dass ich ja nichts dagegen unternehmen soll. Auch haben sie Margarets Leute und ihr Gotteshaus nicht verschont. Ich werde bei meiner Tochter in Little Rock sein, wenn sie kommen und alles plattmachen.«
»Und Margaret und ihre Familie? Was passiert mit den Caddos in Hopetown, wenn Sie verkaufen?«
Mr. Page setzte die gleiche unbestimmte Miene auf wie bei Margarets Einladung zum Abendessen. »Das ist alles geregelt. Sie sind geschützt, das verspreche ich Ihnen. Man hat mich nicht dazu erzogen, Leute im Stich zu lassen. Wir hintergehen solche Leute nicht.«
Bei der Erwähnung von Margaret und ihrer Familie schlug Mr. Pages Stimmung sichtbar um.
»Wir lassen nicht zu, dass jemand sie vertreibt, egal was sie versuchen«, sagte der alte Mann und nickte in Richtung der Landbesetzer draußen im Trailerpark.
Darren musste an all das denken, was der Sheriff gesagt hatte: Der Junge hatte Probleme . Vandalismus, hatte er gesagt, und dass seine Deputys mehr als einmal zum Trailer der Familie rausgefahren waren. Gil selbst hatte gesagt, dass der Junge kein Heiliger sei. »Der Junge, die Sprühfarbe«, sagte er, »war das Levi?«
»Er und noch so ein kleines Rattengesicht, das hier wohnt. Ich habe sie auf frischer Tat ertappt, wie sie mein Haus ansprühten. Hat mich und Margarets Jungs einen halben Tag gekostet, frische Farbe drüber zu streichen. Ich hab Ihnen ja gesagt, dass ich den Jungen nicht leiden kann.«
Darren nickte, als wäre das absolut nachvollziehbar. Aber irgendetwas kitzelte ihn im Nacken. Mit ruhiger Stimme und in fast lockerem Tonfall sagte er: »Wo ich schon mal hier bin, Mr. Page, wie wär’s, wenn ich mich ein wenig auf Ihrem Grundstück umschaue, würd’s Ihnen was ausmachen, Sir? Wäre doch schade, in der Sache nicht gründlich zu sein.«
Alle Luft schien aus dem Raum zu entweichen.
Mr. Page verengte die Augen und musterte Darren, wobei sein Blick an der silbernen Marke hängenblieb. Dann warf er einen raschen, verstohlenen Blick zu dem Werkzeuggürtel, der hoch oben an der Küchentapete hing, die mit orangenen und roten Salz- und Pfefferstreuern bedruckt war. In dem Gürtel steckte die Taschenlampe, doch ebenfalls ein Fahrtenmesser und ein Holster mit dem 45er Revolver, den er zuvor getragen hatte.
Darren ließ seine linke Hand zu seiner Waffe gleiten und legte sie auf den Griff.
Mr. Page betrachtete eingehend die Waffe und die Marke, nachdem er schlagartig jede Unterhaltung über Chilischoten und Kohl und Geschichten schwarzer Texaner, die hundert Jahre zurückreichten, beendet hatte. Er sah aus, als wäre er auf sich selbst wütend, als hätte er die Hintertür offen gelassen und ein Kojote wäre in sein Zuhause spaziert. »Nein, Ranger, ich werde Sie weder in meinem Haus noch sonst wo auf meinem Grundstück rumschnüffeln lassen. Nicht ohne Durchsuchungsbefehl. Tut mir leid, aber ich bin ein gebranntes Kind.«
Und in Kenntnis seiner Rechte fügte er selbstzufrieden hinzu: »Falls Sie wiederkommen, will ich einen Anwalt hier haben.«
»Sie haben einen Anwalt?«
»Sie werden schon sehen.«
Mit der Hand wies er zum Flur, der zum Hauseingang führte. Darren nickte, um zu signalisieren, dass er verstand; seine Anwesenheit war nicht länger erwünscht. »Sagen Sie mir nur noch eins«, sagte er. »Haben Sie am Freitagabend noch jemand anders dort draußen gesehen, um die Zeit, als Levi den Bootsschuppen zugesperrt hat? Irgendjemand auf einem Spaziergang, mit dem Hund, irgendwas?«
»Die einzigen Hunde, die es hier gibt, sind wild. So einer beißt einem die Hand ab, wenn man ihm was zu fressen geben will«, sagte Mr. Page. »Wie gesagt, ich bin ein gebranntes Kind.« Er führte Darren zur Haustür und beförderte ihn unverzüglich hinaus.