12
Als Erstes überprüfte Darren am Morgen die Geschichte des Mannes.
Die Frau an der Rezeption trug eine weiße Rüschenbluse, die in einem schmalen schwarzen Rock steckte, und hatte ein rotes Samtband in ihr Haar geschlungen, das aussah, als wäre es von den Vorhängen abgeschnitten worden. Sie tippte in einen ziemlich großen grauen Desktop-Computer und bestätigte Darren innerhalb von Sekunden, dass Zimmer 109 und 107, die an Mr. Gaines’ Suite angrenzten, letzte Nacht beide leer waren. »Und Mr. Gaines hat alle drei Zimmer gebucht?«
Die Rezeptionistin, die in ihren Zwanzigern war, starrte auf den Bildschirm und runzelte die Stirn. »Ähm, nein«, sagte sie langsam und ließ den Blick über den Computermonitor gleiten. »Raum 107 war an einen anderen Gast vergeben.«
Und trotzdem hatte Sandler Gaines einen Schlüssel zum Zimmer.
»Und der Name des Gasts?«
Die Angestellte schüttelte den Kopf, und ihr honigfarbener Pferdeschwanz schwang hin und her. »Solche Informationen dürfen wir nicht weitergeben, Sir.«
Darren legte seine Marke auf den Tresen und lächelte. »Ist schon in Ordnung.«
Als sie die schimmernde, fünfzackige Marke sah, stieß sie ein überraschtes kleines O aus, und einen Augenblick lang dachte Darren, er hätte sie.
Die Angestellte schenkte Darren ein freundliches, bedauerndes Lächeln, wie eine Kindergärtnerin, die ihren Kindern befahl, nicht von der Rutsche zu springen, weil Regeln schließlich für etwas gut seien. »Sie brauchen wahrscheinlich eine gerichtliche Anordnung oder so etwas, um Hotelunterlagen einzusehen. Im Cardinal Hotel wird großer Wert auf Diskretion gelegt«, ratterte sie wie aus dem Lehrbuch für Angestellte herunter.
»Sind Sie denn sicher, dass der Raum leer war?«
»Oh ja, Sir, sie hat gestern gegen neun Uhr abends ausgecheckt«, sagte die Rezeptionistin, ohne zu merken, was sie preisgegeben hatte. Sie , nahm Darren zur Kenntnis. Um die Uhrzeit war er noch immer mit Greg in der Bar gewesen. Er war sich nicht sicher, was er letzte Nacht gehört hatte, jedenfalls hatte Sandler Gaines ihn angelogen, und er wollte wissen, weshalb.
»Seit wann ist Mr. Gaines hier im Cardinal?«, fragte er.
Bei dieser Frage wurde sie ganz aufgeregt und vergaß die Diskretion, die ihr bis eben noch so wichtig gewesen war. »Oh, er ist mit der Jeffersonian gekommen.«
»Der was?«
»Dem Dampfschiff«, sagte sie aufgeregt.
Sie zeigte auf ein Display mit Broschüren diverser lokaler Attraktionen, vom Jefferson Historical Museum über den Jefferson General Store, Gartenrundgänge und Geisterspaziergänge bis zu Plantagen-Restaurants und einem Vom-Winde-verweht- Museum und mehreren Bürgerkriegs-Reenactments. Die Rezeptionistin nahm eine grünweiße Broschüre aus dem Display und reichte sie Darren. Das Foto eines Schiffs war darauf abgebildet, das wie eine Hochzeitstorte aussah, nur dass es ein großes Schaufelrad und zwei schwarze Schornsteine, die hinten am Boot angebracht waren, besaß. SCHAUEN SIE SICH JEFFERSONS NEUESTE ATTRAKTION AN. In der Broschüre gab es Fotos von Glücksspielautomaten und Blackjack-Tischen auf dem Boot. Und das Foto eines gut gekleideten und sonnengebräunten Paars, das an Deck der Jeffersonian stand und mit Champagnergläsern anstieß, vor dem Sonnenuntergang auf dem hinter ihnen schimmernden Big Cypress Bayou, der Hauptverbindung von der Stadt in die Wildnis des Caddo Lake.
Darren begriff nicht, was er da vor sich hatte, oder was Gaines verkaufte. »Glücksspiel ist in Texas verboten«, sagte er.
»Oh, das ist nur Deko«, sagte die Angestellte. Auf ihrem Namensschild stand Shawna, wie Darren sah. Sie hatte große braune Augen, und ihre Fingernägel waren sowohl abgeknabbert als auch lackiert. »Es ist einfach nur ein Schiff, ein Protoyp, hat Mr. Gaines gesagt, als eine Crew es hergebracht hat. Es ist noch nicht in Betrieb. Aber Sie können es sich anschauen. Es liegt nur ein paar Meter hinter dem Amtsgericht, direkt unter der Eisenbahnbrücke. Wird Sie aber trotzdem zehn Dollar kosten«, sagte Shawna. »Ist mit Ihrem Zimmer soweit alles in Ordnung?«
In natura war es kleiner. Er war einen kleinen Grashügel hinuntergegangen, vorbei an einer Tafel, welche die Stelle unter der rostigen Eisenbrücke als Jefferson Turn Basin auswies, jenen Ort auf dem Big Cypress, wo Schiffe in Jeffersons Blütezeit als Hafenstadt wenden konnten. Das »Dampfschiff«, das vor ihm festgemacht war – ein überdimensionierter Ponton mit kunstvoller Verkleidung, Schornsteinen und einem Schaufelrad, das als Dekoration diente –, rief die Ära von Jefferson als Kronjuwel des Texashandels in Erinnerung, eine glanzvolle, von örtlichem Wohlstand geprägte Zeit, als Dampfschiffreisen als das Höchste an Lebensart und Komfort galten, als das Nonplusultra, um von New Orleans oder St. Louis oder von sonst wo am Mississippi nach Texas zu kommen. Mit von Kerzen erleuchteten Speisesälen und eleganten Ballsälen, Rauchsalons und Räumen, in denen Männer um Geld Karten spielten. Doch Dampfschiffreisen waren nicht ganz ungefährlich. Nur ein paar hundert Meter hinter Darren befand sich das verblasste Wandgemälde der Mittie Stephens , Hommage an ein Geisterschiff.
Es war einer der verheerendsten Dampfschiffbrände in der Geschichte. Rund sechzig Menschen starben vor beinahe hundertfünfzig Jahren in einer kalten Nacht mitten auf dem Caddo Lake, als das Schiff Feuer fing und dann im flachen Wasser auf Grund lief. Obwohl sich jeder an die Mittie Stephens erinnerte, hatte es davor schon Unglücke gegeben und auch viele danach, bis Dampfschifffahrten über den Caddo Lake in den 1870er Jahren endgültig eingestellt wurden. Wieso Sandler Gaines versuchte, auf einem so rostigen Stück Geschichte eine neue Unterhaltungsindustrie aufzubauen, ging über Darrens Verstand. Doch ihm blieb keine Zeit, das Projekt unter die Lupe zu nehmen oder auch nur einen Blick in das Schiff zu werfen. Er hörte, wie sich von hinten rasch Schritte näherten und anschließend Deputy Briggs Stimme. »Hier sind Sie.« Darren drehte sich um und sah, dass der junge Deputy an einem Stück Kastenweißbrot, das mit einer Würstchenkette und Scheiben heraushängender saurer Gurken belegt war, kaute. »Hab seit sechs Uhr heute Morgen vor dem Cardinal auf Sie gewartet«, sagte er. Die Sonne im Osten auf der anderen Seite des Big Cypress Bayou war noch immer im Aufgehen begriffen, und das Licht warf Goldsprenkel auf die grünliche Wasseroberfläche. Es war erst kurz nach sieben, aber Briggs war putzmunter. »Sie müssen irgendwie unbemerkt an mir vorbeigekommen sein. Die Neuigkeiten sind erst vor ’ner Viertelstunde gemeldet worden«, sagte er und nickte in Richtung des gelben Backsteingebäudes, das das Gericht beherbergte.
Darren warf einen letzten Blick auf die Jeffersonian und machte sich hügelaufwärts auf den Weg in die Stadt. »Der Durchsuchungsbeschluss ist da?«, fragte er.
»Und ob.«
Gil Thomason saß bereits in Handschellen auf dem Rücksitz des Streifenwagens, als Darren im Trailerpark ankam. Dort hatten sich mehrere Deputys versammelt, plus Sheriff Quinn, und sie alle versuchten Marnie King zu beruhigen, die mit gesenktem Kopf im Kreis ging, als wollte sie in dem Muster, das sie mit ihren bloßen Füßen im Sand machte, etwas lesen. Sie riss sich von einem Deputy los, der versuchte, sie zu besänftigen. Schniefend und mit zorngerötetem Gesicht erzählte sie jedem, dass das Zeug nicht ihr gehöre. »Die Kreditkarten, das Crystal, Sie sind verrückt, wenn Sie glauben, dass ich das Zeug in der Nähe meiner Kinder lasse.« Sie stieß einen Finger in Richtung des Streifenwagens, wo Gil saß, und sagte: »Sie können den Mistkerl meinetwegen lebenslang einsperren. Lassen Sie nur mich und meine Kinder da raus. Oder sperren Sie mich auch ein, ist mir egal. Ich erzähl Ihnen jedes noch so kleine Detail über das, was das Arschloch so getrieben hat, über den Scheiß, den er nicht in den Trailer meines Daddys bringen wollte. Ich mach sofort ’nen Deal. Ich will nur meinen Jungen zurück.« Sie schlug mit den Händen gegen die Seitenscheibe, als könnte sie, wenn sie nur genug Zeit und Energie aufwendete, an Gil und »seinen gottverdammten Quadratschädel« herankommen. Quinn packte sie schließlich an den Armen, hob sie praktisch vom Boden hoch und brachte sie vom Streifenwagen weg, bevor sie Schaden anrichten konnte.
Eine Menschenmenge hatte sich versammelt. Marnie und Gils Nachbarn – das weiße Paar, das in dem Van lebte, der mit der Marineflagge und dem Dixie-Strandhandtuch dekoriert war – standen dichter dran, als Darren es wahrscheinlich zugelassen hätte, wenn es sein Tatort gewesen wäre. Bo, der Typ mit dem Bart, der sich erboten hatte, Gil bei Darren zu Hilfe zu kommen, stand mit fest vor der Brust verschränkten Armen da. Seine Frau, Freundin, Schwester – Darren hatte keine Ahnung – hatte eine Zigarette im Mundwinkel hängen, ihre Lippen waren rau. Mit der Rechten hielt sie ein Handy hoch und filmte den Polizeieinsatz, den sie zwischen den Zügen an ihrer Zigarette kommentierte. »Seht euch den Scheiß bloß an, seht nur, wie das hier draußen ist, wie weit’s in diesem Land schon gekommen ist, wo Weiße aus ihrem Zuhause gezerrt werden. Seht nur, wie sich diese miesen Verräter, die sich Polizisten schimpfen, in die Angelegenheiten unbescholtener Weißer einmischen.«
Darren bat die Frau, ein Stück zurückzutreten, und als sie vor ihm auf den Boden spuckte, teilte er ihr mit, dass er gern bereit sei, ihr die gleiche Behandlung angedeihen zu lassen, wie Schwarze sie von Cops erfuhren, falls sie glaubte in ihren Bürgerrechten eingeschränkt zu werden. »Und als kleiner Tipp, vielleicht sollten Sie zuerst Ihre Angelegenheiten in Ordnung bringen.«
»Ham’ Sie das gehört, Sheriff? Der Nigger hat mir gedroht.«
Quinn, der Marnie noch immer scheinbar mühelos festhielt, drehte sich um, und beide entdeckten Darren im selben Augenblick. Wie ein Bulle im Pferch rannte Marnie über die rote Erde auf Darren zu und sah ihn mit flehendem Blick an. Sie packte ihn am Arm und grub ihre Fingernägel in sein Hemd, bis sie auf Knochen traf. Darren erstarrte vor Schmerz. »Haben Sie Levi gefunden? Haben Sie meinen Jungen gefunden?«
Bo kratzte sich an seinem roten Bart und nickte in Darrens Richtung. »Wieso fragst du ihn nicht, wieso er gestern Abend mit Leroy Page über den Jungen gesprochen hat?«
Sheriff Quinn warf Darren einen Blick zu, unter dem das unbefangen Kameradschaftliche zwischen ihnen vom Vortag zerbarst. Quinn war wütend. »Sie haben mit Page geredet?«
»Ich wollte mich nur vergewissern, was er Freitagnacht gesehen hat.«
Marnie blickte von Darren zum Sheriff. »Mr. Page? Hat er Levi gesehen? Weiß er, wo mein Sohn ist?«
Gil auf dem Rücksitz lachte so laut gegen die Scheibe, dass sie von seinem Atem beschlug. »Ich habe diesen Jungen nie angefasst.«
Marnie schrie zurück: »Du hast ihn erst vor zwei Wochen ausgepeitscht, er hatte Blutergüsse so dick wie Nacktschnecken. Er konnte tagelang nicht richtig sitzen.«
»Halt’s Maul, Marnie!«
»Fick dich, Gil.«
»Es war Page«, sagte Gil, der hinter der beschlagenen Scheibe hinten im Streifenwagen fast nicht zu erkennen war. »Kapierst du das denn nicht? Der Alte hatte es auf Levi abgesehen, seit er versucht hat, die Kirche abzufackeln, und war stinksauer, weil er sein Haus besprüht hat.«
»Frag doch den Ranger, ob er nicht einen seiner Leute beschützt«, sagte der bärtige Mann, während seine Frau oder Freundin die ganze Zeit filmte. Darren rückte aus dem Sichtfeld der Handykamera, sich des Risikos bewusst, als ein Ranger gefilmt zu werden, der erst kürzlich seine Marke zurückerhalten hatte. Er drehte ihr den Rücken zu und fragte Quinn: »Wollen Sie ihn wegen des Jungen verhaften?«
»Nein«, sagte Quinn und nickte in Richtung der offen stehenden Trailertür. »Wir haben gestohlene Kreditkarten, einen Drogenvorrat, die dazugehörige Ausrüstung und einen Haufen gestohlenes Zeug aus dem Wal-Mart in Marshall gefunden. Das genügt, um ihn festzuhalten, während wir rauszufinden versuchen, was mit dem Jungen passiert ist.« Er blickte hinüber zu den grünen Hügeln auf der anderen Seite von Hopetown. »Bin nicht gerade optimistisch, Ranger, das sage ich Ihnen.«
Darren hob entschuldigend die Hände. »Ich hab wirklich nur versucht zu helfen. Wollte mir nur einen Eindruck von Page verschaffen, sehen, wie er auf ein Foto von Levi reagiert.«
»Zum Teufel, er kennt den Jungen seit seiner Geburt.«
Darren nickte. »Ich muss noch mal auf den See zu sprechen kommen. Können wir ganz sicher sein, dass er nicht irgendwo da draußen ist? Vielleicht gab’s irgendwelche Probleme mit dem Boot.«
Quinn blickte zu dem verwitterten Bootsschuppen ungefähr fünfzig Meter vom Ufer entfernt, dessen graues Holz spröde geworden und dessen Dach teilweise verrostet war, und schüttelte den Kopf.
»Das Boot wurde zurückgebracht, Ranger. Alles weist darauf hin, dass Levi es bis ans Ufer geschafft hat, Pages Aussage eingeschlossen. Wenn er sagt, er habe ihn gesehen, sehe ich keinen Grund, ihm nicht zu glauben. Damit war er der Letzte, der den Jungen lebend gesehen hat. Punkt.«
Schließlich wurden beide weggebracht: Gil wegen der Kreditkarten und Drogen und Marnie wegen unbotmäßigen Verhaltens wie Brüllen, Fluchen, Beschimpfen von jedem im Umkreis von zehn Metern und was sonst noch im texanischen Strafgesetzbuch stand. Nachdem ihre Stars weg waren, kehrten Bo und seine Frau, die mit Filmen aufgehört hatte, in ihren Van zurück. Darren sah, wie er sich zur Seite neigte, als sie nacheinander einstiegen. Auf dem staubigen Weg zwischen Trailern, Vans und Hausbooten wurde es jetzt ruhig. Es gab noch immer ein paar Deputys, die Befehl hatten, zu bleiben, während Darren selbst einen Blick in den Trailer werfen wollte. Die weißen Bewohner von Hopetown schienen froh zu sein, dass die beiden Streifenwagen, in denen Marnie und Gil saßen, verschwunden waren. Niemand schien daran interessiert zu sein, die Neugier der Cops auch nur in die Nähe ihrer provisorischen Behausungen zu lenken. Darren hörte, wie hinter ihm Türen zugeschlagen wurden und Schlösser klackten. Allein stieg er die Stufen zu Marnies Trailer hinauf. Drinnen roch es nach Zitrone von der Möbelpolitur, nach dem Versuch, eine dreißig Jahre alte Blechkiste in Schuss zu halten, fünfundfünfzig Quadratmeter verfilzter Teppich, teils zerrissen und ausgefranst. Es gab zwei winzige Zimmer mit Plastikwäschekörben, die als Kommoden dienten und beinahe bis zur Decke mit Kleidung gefüllt waren. Und natürlich hatten die Deputys alles durcheinander gebracht. Es gab Bücher, Videobänder, Fotokopien und Stapel mit Kassenbelegen, altes Spielzeug und Autoteile, die auf dem Boden und sämtlichen Oberflächen herumlagen. Doch diese Oberflächen glänzten vor Sauberkeit. Jemand hatte die Holzverkleidung weiß gestrichen, um dem Trailer das Flair einer Strandhütte zu geben. Und jemand hatte mit großer Sorgfalt Vorhänge aus blauer Baumwolle mit winzigen, aufgedruckten Muscheln von Hand genäht.
»Die hat Levi gemacht.« Darren drehte sich um und sah ein plumpes Teenager-Mädchen im Türrahmen eines der beiden Zimmer stehen. Hinter ihr erkannte er das Doppelbett und die beiden Decken darauf: eine aus abgenutztem Fleece mit einem Bild von Hannah Montana darauf, deren pfirsichfarbenes Gesicht sich vom Stoff abschälte; die andere war eine Decke mit Pokémon auf der Oberseite. »Er ist aus dem Sportunterricht geflogen, und sein Coach hat ihm zur Strafe eine Hauswirtschaftsstunde aufgebrummt. Aber ich finde sie hübsch.« Leise fügte sie hinzu: »Ich bin Dana.«
»Dein Bruder scheint ja ganz schön Probleme zu machen.«
»Er ist einfach nur ein Kind und langweilt sich hier draußen zu Tode.«
»Andere gelangweilte Kinder terrorisieren deswegen nicht die Nachbarschaft.« Damit wandte er sich von ihr ab und setzte seine Inspektion des Trailers fort, ohne eine andere Verbindung zur Arischen Bruderschaft von Texas zu finden als ein Exemplar von Mein Kampf , das noch nicht einmal einen Knick im Buchrücken hatte, Geschirrtücher mit Dixie-Flagge, ein paar Zeichnungen von SS-Runen und das ABT-Wappen auf der Rückseite eines Gutscheins für eine Füllung des Familienpropantanks. Anscheinend war Gil Thomason ein Angeber, ein Möchtegern-ABT, der keine engeren Verbindungen zum inneren Machtzirkel hatte. Die Ordner mit Fotokopien waren keine Mitgliedslisten oder Protokolle von Treffen, sondern Songtexte und Notenblätter. Jemand lernte »Cry, Cry, Cry« von Johnny Cash auf der Gitarre, die Darren nirgendwo in dem Trailer entdecken konnte. Er hatte genug gesehen. Die restliche Arbeit würde in einem Befragungsraum im Sheriffbüro in Jefferson stattfinden. Die fehlenden Beweise von Gils Verbindung zur Bruderschaft vereinfachten es womöglich, Bill King mit dem Mord an Ronnie Malvo in Verbindung zu bringen. Vielleicht gibt es doch so etwas wie ausgleichende Gerechtigkeit, sagte er sich.
»Ich war ganz allein hier, wissen Sie?«, sagte Dana hinter ihm.
Er drehte sich um und sah, wie sie auf ihre Schuhspitzen starrte, billige Stiefel aus Kunstleder, das sich aufzulösen begann. »Sie haben den Sheriff angelogen. Von wegen sie wären die ganze Nacht aufgeblieben und hätten auf ihn gewartet. Schwachsinn. Sie waren irgendwo in Jefferson oder Marshall oder sonst wo und sind erst gegen zwei Uhr morgens wieder nach Hause gekommen, haben sich volllaufen lassen, beide. Mom hat bis zum Mittag gebraucht, um wieder nüchtern zu werden und zu kapieren, dass Levi verschwunden war. Da hatte ich Rosemary schon angerufen. Und ich wusste, dass er nicht dort war.«
Und Rosemary musste Bill angerufen haben.
Daher sein Brief an den Gouverneur am Sonntag.
»Es war mein Fehler«, sagte Dana, und Tränen liefen ihr übers Gesicht, wobei ihre billige Wimperntusche schwarze Rinnsale bildete, die in ihrer Halsgrube zu einer flachen Pfütze aus Schmerz zusammenliefen. »Ich habe ihn raus aufs Wasser geschickt. Ich habe ihm den Schlüssel zum Bootsschuppen gegeben. Und als mein Begleiter gegangen ist …« Es war ein so seltsam förmlicher Begriff aus dem Mund eines Mädchens in billigen Stiefeln und mit schwarz umrandeten Augen, dass Darren ein Mitleid verspürte, das ihm peinlich war. Sie versuchte mit allen Mitteln einen positiven Eindruck zu erwecken, den Mann mit der Marke dazu zu bringen, mehr als den engen Trailer und das chaotische Leben ihrer Mutter und ihres Freundes zu sehen, damit dieser Schwarze sie nicht anblickte und weißen Abschaum sah. Er hatte kein Recht, das Mädchen zu bemitleiden. Er hatte Respekt davor, dass sie schlau genug gewesen war, zu warten, bis Marnie und Gil weg waren, um die Wahrheit zu sagen.
»Als mein Freund ging, war ich diejenige, die gewartet hat, während es dunkel wurde«, sagte sie. Auf einmal packte sie ihn am Arm, erschreckte ihn damit, dass sie so fest und verzweifelt zupackte wie ihre Mutter, und zog ihn an ein rechteckiges Fenster über der Küchenspüle. Von dort hatte man einen freien Blick auf den Bootsschuppen, wohin nach Auskunft von Quinns Deputys das Boot zurückgebracht worden war. »Ich sage Ihnen, der alte Mann lügt. Ich hätte es gesehen.«
»Aber du räumst ein, nicht mitbekommen zu haben, wie dein Bruder das Boot zurückgebracht hat.«
»Mister … Ranger … ich habe gar niemanden gesehen. Keinen Levi. Keinen Leroy Page auf Patrouille.«
»Ist es möglich, dass du Mr. Page übersehen hast?«
»Einen Schwarzen auf einem Pferd mit einem Colt an der Hüfte?« Das Folgende sagte sie freundlicher, weil sie Darren anscheinend nicht kränken wollte. »Hier bleibt so etwas nicht unbemerkt. Wenn Mr. Page und die Indianer patrouillieren, kommen die Leute, sobald man das Hufgeklapper hört, aus ihren Trailern und setzen sich mit ihren eigenen Waffen auf die Eingangsstufen. Sie sind bekannt dafür, Warnschüsse abzugeben. Man kann es gar nicht überhören, wenn sie erst mal loslegen.« Sie blickte hinunter auf ihre abgekauten Fingernägel mit dem abgeplatzten schwarzen Nagellack. »Leroy lügt, ganz bestimmt.«