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Er machte Wilson gegenüber Andeutungen, als sie eine halbe Stunde später telefonierten. Endlich etwas für seine eigentliche Mission: Etwas, womit sie Bill King, ABT-Captain und fehlendes Puzzleteil in einer ganzen Reihe von Anklagen der Sondereinheit gegen die Arische Bruderschaft von Texas, drankriegen konnten. »Ronnie Malvo?«, sagte Wilson, gefolgt von einem Hmmm
, als könnte er es nicht so recht glauben. Darren war vorsichtig genug, ihn lediglich neugierig zu machen und nicht mit irgendetwas vorzupreschen, das er später nicht revidieren konnte. Er war bereit gewesen, die ganze Sache fallen zu lassen, bis er in Marnie King eine Gleichgesinnte gefunden hatte: »Finden Sie meinen Sohn, und Sie können Bill King für den Rest seines Lebens im Knast behalten«, hatte sie gesagt, als er Quinns Büro verlassen hatte. »Sie weiß auf jeden Fall irgendwas«, sagte Darren zu seinem Boss. »Aber die Sache mit dem Jungen hält sie gerade in Atem, und sie ist nicht in der Verfassung, darüber zu reden, Sie verstehen, was ich meine.«
»Das ist ein wichtiger Fund, Mathews.« Wilson war irgendwie stolz, auch wenn sein Seufzen einen gewissen Argwohn verriet, was das gesamte Gespräch überschattete. »Ich meine, wenn an der Sache was dran ist, erklärt das nicht nur, was mit Ronnie Malvo passiert ist, sondern führt womöglich auch zu einer Mordanklage gegen Bill King, plus Verabredung. Sind Sie denn wirklich sicher, dass Sie gegenüber dem Bezirksstaatsanwalt von San Jacinto County nichts dergleichen erwähnt haben? Ich meine, wo die diesen Fall zu lösen versuchen und noch immer Fragen über Sie stellen, und dann fällt Ihnen das direkt in den Schoß.« Er hielt inne, um Darren die Gelegenheit zu geben, die Stille mit etwas zu füllen, das für Fred Wilson plausibel war.
»Keine Ahnung, wie das bei Ihnen war, aber mir wurde als Kind beigebracht, einem geschenkten Gaul nicht zu genau ins Maul zu schauen, vor allem dann nicht, wenn das Geschenk einen FBI-Fall
zum Abschluss bringt.«
Wilson lachte leise. Darren hörte das Quietschen seines Bürostuhls und sah den älteren Mann vor sich, wie er sich zurücklehnte und mit dem Kopf beinahe gegen die gerahmten Auszeichnungen an der Wand hinter ihm stieß. »Jedenfalls liefert mir das einen Grund, Vaughn in dem Malvo-Fall erst dann zurückzurufen, wenn wir wirklich etwas in der Hand haben.«
Darren schluckte schwer. »Hat er noch mal angerufen?«
»Das spielt keine Rolle.« Darren spürte, wie von dem Lieutenant eine Last abfiel. Wilsons Stimme klang erleichtert, fast ein wenig beschwingt. »Gute Arbeit, Ranger«, sagte er zu Darren, dem ganz flau wurde angesichts der Tatsache, wie einfach das hier war, wie weit er sich von seiner Erziehung entfernt hatte. Er dachte an seine Onkel und ihre Grundehrlichkeit in allen Dingen. Konnte lügen jemals ehrenvoll sein – auch wenn es vielleicht einen älteren Schwarzen vor dem Gefängnis bewahrte, auch wenn Ronnie Malvo lediglich eine Hauruck-Justiz verdiente, eine billige Kopie? Konnte irgendetwas wirklich rechtfertigen, was er tat? Am liebsten hätte er die ganze Sache rückgängig gemacht.
Er rang Wilson das Versprechen ab, sich bedeckt zu halten, bis er ein bisschen mehr herausgefunden hätte. Und dann war da noch immer die Sache mit dem Jungen. Es sei sinnvoll, sagte er, wenn er noch eine Weile in Marion County bleiben würde. »Sicher, klar«, sagte Wilson und fügte hinzu, dass er sich noch immer dafür einsetze, Darren ins Telford-Unit-Gefängnis in Bowie County einzuschleusen. »Das ist eine ganz schöne Herausforderung.«
»Woran hapert es denn?«
»Jemand im Justizministerium verschleppt die Entscheidung. Aber keine Sorge, ich sorge dafür, dass Sie Bill King treffen können, auf die eine oder andere Art.«
Darren wollte im Augenblick nichts weniger als das. Doch er biss die Zähne zusammen angesichts des Schlamassels, in den er sich selbst hineinmanövriert hatte, und sagte: »Na klar, Sir!«
Als er das Gespräch mit Wilson beendete, war er bereits auf halbem Weg zurück nach Hopetown.
Der alte Mann ging nicht an die Tür. Die Pferde waren im Stall, und
der Buick stand draußen vor dem Eingang, doch nirgendwo ein Lebenszeichen von Leroy Page, weder ein geöffnetes Fenster noch das Dudeln seines alten Radios im Haus. Allerdings war andere Musik zu hören. Mundharmonika, Trommeln und irgendeine Flöte mit hohem, fröhlichem Klang, aber auch warm, die Trommeln beinahe einladend und ihm so vertraut wie der Rhythmus seines eigenen Herzschlags. Es war nicht sein geliebter Blues, aber etwas Sakrales lag in der Luft, und er dachte als Erstes an die Kirche, die kegelförmige Hütte auf dem aufgeschütteten Erdhügel – der einzige Bereich der ursprünglichen Siedlung, der nicht mit frisch gemähtem Rasen bedeckt war. Solch eine Musik musste aus einem Gotteshaus kommen. Er ging auf die Hütte zu, bewegte sich in einem Halbkreis darum herum auf der Suche nach einem Eingang, als er hinter sich die warnende Stimme eines Mannes vernahm, tief und unerwartet: »Für Sie ist da drin kein Platz, weder für Sie noch für einen von den anderen Deputys.«
Darren drehte sich um und sah Donald Goodfellow auf der Veranda des gelben Hauses seiner Mutter stehen. Er hatte lässig ein Gewehr auf die Trommel zwischen seinen Beinen gelegt. Neben ihm saß sein Sohn Ray, der eine hölzerne Flöte hielt. Ein dritter Caddo-Mann, den Darren nicht kannte, steckte eine Mundharmonika in die Brusttasche seines Jeanshemds und zog ebenfalls eine Waffe hervor, ein Klappmesser mit einer gut fünfzehn Zentimeter langen Klinge und einem Hickory-Griff, der so glänzte, dass sich die Sonne darin spiegelte und Darren blendete. Er blinzelte und trat auf die Männer zu. Er musste umgehend ein paar Dinge klarstellen. »Kein Deputy, Sir, ich bin nicht dem Sheriff unterstellt. Sie sprechen mit einem Texas Ranger, der Sie nur einmal freundlich bittet, vorsichtig mit diesen Waffen zu sein. Für die gibt’s keinen Anlass.« Das Messer verschwand in einem Lederschaft, und Darren hörte lang genug auf zu blinzeln, um zu sehen, dass Donald Goodfellow sein Gewehr noch nicht weggeräumt hatte.
»Ich suche nach Mr. Page.«
»Sie und die anderen Cops, die schon hier waren.«
Darren begriff, dass sie Wache hielten und auf Mr. Pages Grundstück aufpassten. »Damit habe ich nichts zu tun, Mr. Goodfellow«, sagte er.
Sein Sohn Ray starrte Darren wütend an. »Sie haben kein Recht, hier zu sein.«
»Ich habe ein Recht, überall zu sein, wo texanisches Recht gilt …«
»Ticktack«, sagte Ray und reckte prahlerisch sein Kinn. »Warten Sie’s ab.« Sein Vater warf ihm einen mahnenden Blick zu, und Rays Kinn verschwand wie das einer Schildkröte.
»Was geht hier vor?« Es war Margaret Goodfellow, die den Kopf durch die Fliegengittertür steckte. Sie ließ den Blick über die Szenerie gleiten: der angespannte Ranger, ihr Sohn mit dem Gewehr. »Tu augenblicklich das Ding weg, Donald.« Mutters Worte hatten mehr Gewicht als die eines Rangers, denn Donald nahm die Waffe von seiner Trommel und legte sie neben sich auf den Boden. »Es gibt dush’-cut
und dah-bus
zum Abendessen«, sagte sie zu Darren, eine Einladung, die den jungen Ray Goodfellow sichtbar ärgerte.
»Er ist hinter Leroy her, E’-kah
«, sagte er.
»Der ist angeln«, erwiderte sie. »Aber Sie können uns gern Gesellschaft leisten, während Sie warten.«
Sie sah die anderen an und stellte in Bezug auf Darren nüchtern fest: »Ich mag ihn. Er hat freundliche Augen. Musik wird später gemacht. Wir essen jetzt.«
Also verbrachte er, die langen Beine angezogen, die nächste Stunde in Margaret Goodfellows Esszimmer an dem niedrigen Tisch, um den herum die Familie auf dem Boden saß. Einschließlich Virginia, Donalds Frau, und seiner Schwester, Saku oder Sadie – Darren hörte, wie beide Namen gebraucht wurden –, die viel jünger als Donald und gerade erst Mutter geworden war. Sie hielt ein kräftiges Kleinkind während des Essens im Schoß, das noch nicht richtig laufen konnte, und fütterte es mit Bohnen, indem sie ein paar aus einem hübschen Tontopf auf dem Tisch auf ein Stück goldgelbes Frybread lud und anschließend pustete, bevor sie ihm das Bohnenbrot in den Mund steckte. Es war leicht süßlich und von einer Textur, die einer kulinarischen Meisterleistung glich: außen knusprig in Öl gebacken und innen von weicher, dichter Konsistenz wie ein Donut. Zusammen mit den rauchigen Bohnen war dieses schlichte Mahl perfekt und konnte mit jedem kreolischen Essen mithalten, das man in Jefferson bekam. Die Männer ignorierten ihn die meiste Zeit, aber Margaret stellte Fragen über seine Familie und darüber, woher
er kam, und im Gegenzug erzählte sie ihm, dass sie wie alle anderen am Tisch in Hopetown geboren war, bis auf den kleinen Benji in Sadies oder Sakus Schoß. Er war im Krankenhaus in Marshall zur Welt gekommen, der Erste ihrer Familie. »Wir haben vorletztes Jahr unsere Hebamme verloren«, sagte Virginia mit einem Anflug von Trauer, während sie Darren von dem süßen Tee mit Apfelschnitzen nachschenkte. »Ray war also der Letzte, der in Hopetown geboren wurde. Nun, Ray und Leroys Tochter Erika.«
»Ist sie es, die ihn ermutigt hat, zu verkaufen?«
Es wurde so still im Raum, dass Darren den See hinter dem Haus, das Summen der Grasmücken und das Klappern von Buntstörchen, die irgendwo hoch oben in einer Zypresse nisteten, hören konnte. Schließlich sprach Margaret mit der gleichen klugen Gewissheit, mit der sie ihren Leuten befohlen hatte, Darren zu vertrauen. »Leroy wird uns beschützen«, sagte sie. Und als Darren fragte, wie dieser Schutz aussehe, vergingen nach seiner Zählung mindestens zwanzig Sekunden, bevor sie antwortete: »Es ist alles geregelt.«
»Darf ich fragen, wie Ihre Leute hierhergekommen sind?«, fragte Darren.
»Leroys Vorfahren luden unsere Vorfahren gegen Ende des letzten Jahrhunderts nach Hopetown ein«, sagte sie und verzog bei der Erinnerung erfreut die Fältchen um ihre Augen. Caddos und Schwarze, die Seite an Seite lebten. »Wir sind eine Familie.«
»Ich meine, wie ist Ihr Volk nach Texas gekommen?«, fragte Darren.
Margaret schenkte Darren einen durchtriebenen Blick, als sie in die Tasche ihres Kleids nach einer Pfeife und einem Päckchen Tabak griff. Sadie oder Saku brachte lieber das Baby hinaus, als ihrer Mutter zu sagen, dass sie in ihrem eigenen Haus nicht rauchen dürfe. Margaret sah Darren an, während sie ihre Pfeife stopfte. »Man hat Ihnen also diese Marke ohne Unterricht in Geschichte gegeben, was?« Sie zündete die Pfeife mit einem Streichholz an, und der Tabak verströmte einen leichten Kirschgeruch. »Texas ist die Heimat unserer Vorfahren«, sagte sie mit einer geduldigen Nachsicht, die Darren beschämte. Er klang genauso dumm wie die Weißen, die die Mathews-Familie fragten, wo sie ursprünglich herkamen. Ich kenne Texas, aber die Zeit davor … Woraufhin Darrens Onkel Clayton in
bissigem Ton sagen würde: »Wir gehören hierher, haben einen Satz Rippen auf einem Baumwollfeld herumgereicht, bis wir einen Stamm von schwarzen Texanern namens Mathews geschaffen hatten. Vor Texas waren wir Staub.«
Darren hatte nicht ignorant klingen wollen, was die Geschichte des Staates und erzwungene Umsiedlung anging, er hatte die Goodfellows nur dem Großteil texanischer Indianer zugeordnet, die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts aus dem Staat vertrieben worden waren. »Ich dachte, die meisten Caddos hätten sich in Oklahoma niedergelassen. In einem Reservat, nicht?« Er sah Margaret an, die ein Lächeln andeutete, während sie paffte.
»Meine Familie hat Oklahoma nie gesehen«, sagte sie.
Donald Goodfellow warf eine bestickte Serviette auf den Tisch seiner Mutter und ergriff selbst das Wort. »Es gab viele Zusammenschlüsse von Caddos in diesem Teil des Landes. Kadohadacho
in der Gegend vom Red River in Nordtexas und Arkansas, ein paar im südöstlichen Oklahoma und die Natchitoches
in Louisiana. Wir sind Hasinai
, und Osttexas ist unsere ursprüngliche Heimat. Die Legende dieser Familie besagt, dass ein kleiner Verbund von Hasinai
, angeführt von einem sturen Caddi oder Boss, Texas einfach nie verlassen hat. Kein Abkommen, keine Pläne anderer Caddos, Land herzugeben, keine mordlustigen Weißen konnten sie vertreiben. Wir sind die Letzten dieser Gruppe von Hasinai-Caddo-Indianern.«
»Ich möchte Ihnen eine Sache über diese Marke erzählen«, sagte Darren und spürte, wie ihr Gewicht den dünnen Stoff seines Hemds herabzog. »Die Ranger wurden von Landbesitzern und Regierungsbeamten eingesetzt, um die Indianer von ›weißem Land‹ zu vertreiben«, sagte er, bereit die Wahrheit über die rassistische Vergangenheit der Texas Ranger auf eine Weise zu erzählen, wie er es nur bei diesen Leuten hier, die beinahe so dunkel waren wie er selbst, tun würde. »Wie hat Ihre Familie, haben Ihre Vorfahren es vermieden, gefangen genommen und in den Norden verbracht zu werden?«
Donald blickte seine Mutter an. Sie zog an ihrer Pfeife und sagte: »Oh, es gibt Möglichkeiten, sich unsichtbar zu machen.« Die Fältchen um ihre Augen schienen Darren zuzuzwinkern, als sie
lächelte. Er wartete darauf, dass sie weitersprach, doch dann hörte er das Quietschen von etwas, das wie ein Scheunentor klang, tatsächlich aber die Tür des Bootsschuppens hinter Margarets Haus war. Sie legte abrupt die Pfeife auf den Tisch und stand auf, wobei der Saum ihres Kleids wie ein Wasserfall herabströmte. Es war blau mit eingewebten roten Stoffstreifen und besetzt mit gelben Perlen. »Leroy ist wieder da.«
Darren stand auf, bedankte sich bei Margaret für das Essen und nickte den größtenteils stummen Männern um den Tisch herum, mit denen er nicht gerade warm geworden war, zum Abschied höflich zu. In dem Moment, als er seinen Stetson aufsetzte, teilte Margaret ihm etwas mit, das er wissen sollte. »Ihnen ist klar, dass er dem Jungen nichts getan hat, nicht wahr? Ich bin seit sechzig Jahren mit Leroy befreundet. Ich kenne
ihn. Er würde so etwas nie tun.«
Darren wartete auf der vorderen Veranda von Mr. Pages Haus, als der Alte mit seinem Angelzeug vom Bootsschuppen kam, jedoch weder ein Kühlbehälter noch ein einziger Wels zu sehen war. Darren fragte den Mann rundheraus, weshalb er fälschlicherweise behauptet hatte, Levi am Freitag gesehen zu haben. »Man wird das gegen Sie verwenden«, warnte er ihn. »Ich weiß nicht, was Sie getan haben, aber falls Sie sich tatsächlich einen Anwalt nehmen wollen, dann ist das der richtige Moment.«
»Ach, das hab ich nur gesagt, damit Sie aus meinem Haus verschwinden.«
Darren hob verärgert die Hände. Sagen Sie nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt
. »Man wird einen Durchsuchungsbeschluss erwirken.«
»Gut«, sagte Leroy und drängte sich an Darren vorbei ins Haus, wo er die Angelausrüstung kurzerhand im Wohnzimmer ablud. »Sie brauchten einen Durchsuchungsbeschluss, um in die Trailer der Weißen zu kommen, dann gilt das Gleiche auch für mich. Ich wollte nur nicht zulassen, dass ein Schwarzer mit Marke einen auf vertrauenswürdig macht, um mich dazu zu verleiten, mein Haus durchsuchen zu lassen. Ich will die gleichen Regeln, die auch für den weißen Mann gelten.«
»Darum geht es also?«, fragte Darren. »Deshalb haben Sie mich
rausgeworfen?«
»Genügt das nicht?« Er ging den Flur entlang in die Küche. Im nächsten Moment hatte er das Radio eingeschaltet und den Kühlschrank geöffnet. Er nahm ein bereits offenes Miller High Life heraus sowie ein fertiges Fleischwurstsandwich von einem Stapel mit mindestens zwei Dutzend solcher Sandwiches, die alle lose in Wachspapier gewickelt waren, Mittagessen für ungefähr einen Monat. Der Anblick machte Darren irgendwie traurig. Im Radio lief ein bluesiger Zydeco, Beau Jocque auf dem Akkordeon, der davon sang, zu seinem Zuhause zurückzukehren, noch ein Lied, das versuchte, diesen schwer zu fassenden Begriff mit einem bestimmten Ort und einer bestimmten Zeit zu verbinden. Darren meinte, noch nie einen Blues gehört zu haben, der den aktuellen Aufenthaltsort als Zuhause
betrachtete. Nein, es war immer ein langer Marsch auf einer staubigen Straße, eine Fahrt als blinder Passagier auf einem Güterwagen oder ein langsamer Zug nach Jordan. All you need is faith to hear diesels humming
. Für Beau Jocque war Zuhause dort, wo seine Mutter war. ’Cause that’s where I belong
, sang er vor dem Hintergrund eines der miesesten Gitarrensolos in der Geschichte des Zydeco, der mehr Osttexas als Westlouisiana war und bei dem das Französische einen schwarzen Einschlag hatte. Die Sehnsucht in seinem kehligen Tenor war Darren vertraut, der mit dieser Musik aufgewachsen war und jedes Mal, wenn er das Haus in Camilla betrat, eine der Bluesplatten auf die HiFi-Anlage seiner Onkel legte, denn selbst dort bedeutete Zuhause immer etwas aus der Vergangenheit. Es war ein Begriff, den er nicht so richtig zu fassen bekam. Essen schaffte das, ein Topf Bohnen mit Schinkenkeulen auf dem Herd. Geschichten ebenfalls. Aber vor allem Musik. Texas Blues.
Darren fragte: »Haben Sie Levi King am Freitagabend gesehen, ja oder nein?«
»Ich lasse mich in meinen eigenen vier Wänden nicht als Lügner bezeichnen.«
»Dana, Marnie Kings Tochter, sagt, Sie waren nicht mal auf Patrouille an dem Abend.«
»Sehen Sie nicht, zu was für ’nem Abschaum sie gehört?«
»Stempeln Sie sie nicht zur Lügnerin.«
»Aber Sie glauben ihr mehr als mir, einem Hausbesitzer und
Menschen, der nie jemandem etwas zuleide getan hat, einem Veteranen, der seinem Land gedient hat?«
»Sie sagt, sie hätte Sie zu keinem Zeitpunkt gesehen.«
»Sie irrt sich«, sagte Leroy und leerte mit einem Zug die halbe Flasche.
»Dann erzählen Sie’s mir noch mal. Was haben Sie gemacht, als Sie den Jungen gesehen haben?«, fragte Darren. Leroy Page hielt so lange inne, dass Darren ein leises Tröpfeln hören konnte, das von irgendwoher aus der Küche kam. Er blickte hinunter und sah, dass die aufgerollten Hosenbeine von Mr. Pages Jeans von den Knien abwärts klatschnass waren. Wie angelte der Mann nur da draußen, um so nass zu werden? Feine Rinnsale tröpfelten auf den Linoleumboden. Der alte Mann leerte sein Bier und rülpste leise. »Ich war zu Fuß unterwegs«, sagte er schließlich.
»Zu Fuß?«, fragte Darren. »Kein Pferd, keine Begleiter?«
»Ich habe, glaube ich, nicht gesagt, dass ich auf Patrouille war.«
Aber Darren war sich sicher. Fünf Sekunden später war er sich allerdings ebenfalls sicher, dass er sich nicht daran erinnern konnte, ob Quinn oder Page das Wort Patrouille benutzt hatte. Er fluchte, weil er sich nicht ab der ersten Begegnung mit Page und Donald und Ray Goodfellow Notizen gemacht hatte. Er war so fixiert darauf gewesen, Informationen für die Sondereinheit zu ergattern – und auf seinen eigenen Plan, sich Bill Kings Verhaftung und chaotische Familienverhältnisse zunutze zu machen –, dass das Kind fast zur Nebensache geraten war. Aber jetzt fühlte sich Levi King für ihn real an. Er hatte noch immer das Bild des Jungen in der Brusttasche seines Hemds.
»Dann haben Sie also nur einen Spaziergang gemacht … an den Trailern vorbei?«
»Ist noch immer mein Grundstück«, sagte Leroy entrüstet.
»Unbewaffnet?«
»Ich bin doch nicht blöd.«
»Und dabei haben Sie den Jungen gesehen.«
»Ganz genau«, sagte Leroy. »Er hat das Boot seines Großvaters in dessen alten Schuppen gesperrt.«
»Haben Sie mit ihm gesprochen?«
»Nö, ich schätze, er hatte Angst vor mir, seit ich mit ihm wegen
der Sache mit Margarets Gebetshütte und dem Besprühen meiner Tür geschimpft hab. Nö, Levi hat nichts gesagt, und ich auch nicht.«
»Haben Sie Dana am Fenster des Trailers gesehen?«
»Hab nicht zum Trailer rübergeschaut, sondern bin einfach weitergelaufen.«
Darren seufzte, nahm den Hut ab und kratzte eine juckende Stelle am Hinterkopf. Ihm gefiel nicht, dass die Geschichte etwas anders klang als beim letzten Mal, und auch nicht, dass er den Mann eindeutig zu schützen versuchte. Er dachte daran, wie Greg und er in der Bar gesessen hatten und sein langjähriger bester Freund versucht hatte, ihn dazu zu bringen, sich zu seinen eigenen blinden Flecken zu bekennen, wenn es um Schwarze ging, zu dem Gefühl von Rücksichtnahme, das ihn durchdrang, und zu dem Instinkt, schützen und dienen zu wollen, der in ihm vor allem bei älteren Schwarzen erwachte, Männern und Frauen, deren Kämpfe und Stärke Darrens Leben erst möglich gemacht hatten.
»Wieso erzählen Sie dem Sheriff und dem FBI nicht einfach, dass Sie verkaufen wollen?«, sagte Darren, der seine juristische Ausbildung stets im Hinterkopf behielt. »Wenn Sie vorhaben, zu verkaufen und fortzugehen, den Ärger mit den Weißen in den Trailern hinter sich zu lassen, gäbe es kein Motiv dafür, Levi King etwas anzutun.«
»FBI?«
»Das ist ernst, Leroy. Man will an Ihnen ein Exempel statuieren. Mit der Sache ist nicht nur das Sheriffbüro befasst. Erzählen Sie denen einfach, Sie hätten vor, das Land an Sandler Gaines zu verkaufen, und es gibt den Ermittlungen vielleicht eine andere Richtung.«
Der alte Mann öffnete den Kühlschrank und nahm noch eine Flasche Miller High Life heraus. Eine der beschlagenen goldenen Flaschen bot er Darren an, der zögerte und dann ablehnte. »Hab nie von ihm gehört«, sagte Leroy und öffnete sein Bier. Seine Hände waren trocken und grau, seit er hereingekommen war, und Darren bemerkte Kratzer, die ihm zuvor nicht aufgefallen waren. Sie waren mindestens zwei, drei Tage alt.
»Sandler Gaines, der Immobilienentwickler. Der Mann, der Hopetown kaufen will.«
»Ich habe mein Land an eine Stiftung verkauft, etwas, das Rosemary King zusammen mit einer historischen Gesellschaft, in deren Vorstand sie ist, organisiert hat. Die Marion County Texas Historical Society oder so ähnlich. Das ist geweihter Boden für die Caddo-Indianer, und das wird er auch bleiben. Rosemary hat mir das versprochen.«
Angesichts so vieler widersprüchlicher Informationen schüttelte Darren den Kopf, als wäre er in einen Schwarm Bremsen geraten. Er musste sich erst einmal Klarheit verschaffen. »Dann bedeutet diese Vereinbarung mit Rosemary und ihrer Stiftung, dass sie ihren Enkel, seine Mutter und seine Schwester von hier vertreiben wird?«
»Oh, die sind ja nicht mit ihr verwandt«, erwiderte Leroy. »Das Einzige, was Rosemary interessiert, ist der Junge.«
»Levi?«
Leroy schüttelte den Kopf. »Bill, ihr Sohn.«
Darren bat Leroy, weiterzureden und ihm ein Bier zu geben. Er beobachtete den Alten dabei, wie er nach dem Flaschenöffner an seiner Schnur am Kühlschrank griff, und bemerkte eine geknickte, cremefarbene Visitenkarte, die daneben an der Wand hing. Darren konnte lediglich entziffern, dass es sich um die Karte einer Anwaltskanzlei handelte. Der Alte hatte also doch einen Anwalt kontaktiert. Er überlegte, ob er es kommentieren sollte, doch ihm gefiel die Vorstellung, dass Leroy seinen Blick dorthin vielleicht gar nicht bemerkt hatte.
Leroy Page hatte mit einer Sache recht. Rosemary King schien sehr viel mehr um ihren Sohn Bill als um den Verbleib ihres neunjährigen Enkels besorgt zu sein. Woher Leroy das allerdings wusste, war ihm ein Rätsel. »Woher kennen Sie Mrs. King?«, fragte Darren. Der moosverhangene, am Sumpf gelegene Weiler Hopetown schien weit entfernt von Rosemarys Welt im Kolonialstil zu sein. »Ich meine, wie haben Sie sie überhaupt so gut kennengelernt, um sie in dieser Verkaufssache um Hilfe zu bitten?«
»Oh, es war Rosemary, die bei mir
angefragt hat«, sagte Leroy, erpicht darauf, das ein für alle Mal klarzustellen. Er stellte die Bierflasche hin und machte sich über das Fleischwurstsandwich her, wobei er mit vollem Mund redete. »Wie gesagt, Schwarze sind die versöhnlichsten Menschen, die es gibt.«
Diesmal lag so viel Bitterkeit darin, dass Darren eine ratlose Miene aufsetzte. Er verstand nicht ganz, worauf der Mann hinauswollte, und zum ersten Mal wurde ihm bewusst, dass er Leroy vielleicht überhaupt nicht verstand. Seit er nach Hopetown gekommen war, hatte er in dem Alten immer seine Onkel, Großeltern und Urgroßeltern gesehen, hatte Geneva Sweet und die schwarzen Bewohner von Lark gesehen, und Mack, den langjährigen Freund der Familie, den er noch immer vor dem Gefängnis zu bewahren versuchte. Aber er kannte Leroy Page nicht, nicht gut genug, und er glaubte auch nicht, dass er ehrlich zu ihm war, von Anfang an nicht. Er wies mit dem Kinn auf die Kratzer auf seinen Händen. »Wie ist das passiert?«, fragte er.
Leroy blickte auf seine Hände, dann hoch zu Darren in seinen gebügelten Hosen und seinem gebügelten Hemd, die schimmernde Marke an seiner Brust, und sagte mit leicht spöttischem Unterton, den er auch nicht zu verbergen versuchte: »Ich arbeite mit den Händen, mein Sohn.«
Darren verspürte zum ersten Mal eine Abneigung gegen den Mann. »Es heißt Ranger.«
Vielleicht war das Bier schuld daran, dass er so gereizt reagierte. Dabei war gerade mal so viel Alkohol darin, dass Darren Lust auf etwas Stärkeres bekam. Er verfluchte sich dafür, dass er keinen Flachmann mehr in seinem Wagen hatte. Er wiederholte seinen Rat an Leroy Page, sich einen Anwalt zu nehmen, und machte, dass er von dort wegkam, wobei er den Besuch in dem Moment bereute, als er auf die vordere Veranda hinaustrat. Vor Leroys Haus standen zwei Streifenwagen, und zwei Deputys des Sheriffs von Marion County sahen ihm dabei zu, wie er das Haus des Verdächtigen verließ. Hinter der Polizei saßen weiße Männer und Frauen aus dem Trailerpark in ihren Fahrzeugen, die in einer Reihe aufgestellt waren und auf Leroys Haus zeigten. In den Pickups waren Gewehrhalterungen, und auf den Armaturenbrettern glänzten Handfeuerwaffen. Sie waren bewaffnet und kampfbereit, und ein paar von ihnen beschuldigten lautstark das Sheriffbüro, einen Nigger zu decken, der sich an einem von ihnen vergriffen hätte. Die Deputys taten nichts, um ihnen Einhalt zu gebieten, ließen aber auch nicht zu, dass sich einer der Männer oder Frauen dem Haus von Leroy
näherte. Inzwischen war Margarets Familie auf die vordere Veranda gekommen. Sie hatten ihre Waffen bei sich, und diesmal hatte sogar Margaret eine Pistole mit Perlmuttgriff in einer Schürze stecken, die um ihre Taille gebunden war. Die gesamte Geschichte von Osttexas wie aus einem der Reenactments der Bürgerkriegszeit, die auf Rosemary Kings Rasen veranstaltet wurden, wobei Gewalt in der Luft lag; man konnte sie dem Brummen der Motoren entnehmen, dem Geräusch der Patronen, mit denen Donald seine Waffe lud. Darren dachte, dass möglicherweise jemand in Hopetown starb, noch bevor Levi King gefunden wurde.