15
Leroy Page log.
Zumindest glaubte Darren ihm nicht, dass er den Namen Sandler Gaines noch nie gehört hatte. Sein Plan war, zum Cardinal Hotel in der Stadt zurückzukehren, um den Immobilienentwickler ausfindig zu machen und eine klarere Vorstellung vom Verkauf von Hopetown zu bekommen. Vielleicht würde er so mehr über Mr. Page herausfinden, was für ein Mensch er wirklich war. Nüchtern und zuversichtlich, was den möglichen Verkauf seines Besitzes anging? Oder wütender darüber, als er zugeben wollte? Hatten Levis Schikanen gemeinsam mit denen von Gil und seinen barfüßigen, rotgesichtigen Schlägern Mr. Page dazu veranlasst, gegen seinen Wunsch zu verkaufen? Und hatte das bei ihm einen Wutanfall ausgelöst? Darren dachte an den blonden Jungen auf dem Foto, versuchte sich die Moral eines Kindes vorzustellen, das die Erwachsenen um sich herum lediglich imitierte. Das war es doch, oder? Er verabscheute die Vorstellung, in einem Land zu leben, das Rassisten heranzüchtete, voller Bosheit und Hass und, noch bevor sie erwachsen waren, hart wie die Erde ihrer Heimat. Gewiss verdiente Levi einen Vertrauensbonus. Oder etwa nicht? Wollte Darren wirklich in einer Welt leben, in der er einen Neunjährigen bereits abgeschrieben hatte?
Er musste Sandler Gaines im Hotel aufsuchen.
Sich vorher vielleicht ein bisschen frischmachen und das Hemd wechseln.
Doch als Darren die Tür zu seinem Hotelzimmer öffnete, saß seine Frau Lisa auf dem Kingsize-Bett und hatte mehrere Fallakten auf der blutroten Bettdecke ausgebreitet. Sie trug zwar keine Reizwäsche, doch sie hatte das Haar geöffnet, und der Slip, den sie anhatte, war schwarz und mit Spitze und kleinen weißen Schleifen besetzt, als wäre sie ein Geschenk, das jemand auf das Bett gelegt hatte. Er war anfangs verwirrt. Erstens hatte er zugegebenermaßen vergessen, dass Lisa davon gesprochen hatte, nach Jefferson zu kommen. Und zweitens hatte er den flüchtigen Gedanken, aus Sicherheitsgründen das Hotel zu wechseln, weil es inzwischen zwei Personen waren, die ohne Schlüssel sein Zimmer betreten hatten. Und drittens, wieso war seine Frau so verführerisch angezogen, obwohl sie eine Lesebrille trug und einen Aktenordner durchblätterte, einen Bic-Kugelschreiber zwischen die Zähne geklemmt? Sie blickte auf und lächelte ihn verlegen an, wobei sie alles zusammenraffte und auf den Nachttisch legte. »Ich wusste nicht, wann du zurückkommen würdest.«
Sie erhob sich vom Bett und stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihren Ehemann zu küssen. Seine Hutkrempe war im Weg, und mit einem Lächeln nahm sie ihm den Hut ab und warf ihn beiseite, etwas, das Darren, wie sie wusste, nie tun würde. Er flog an der Kommode vorbei und fiel zu Boden. Darren musste sich schwer zusammenreißen, um ihre Hände nicht festzuhalten, die bereits nach seinem Gürtel griffen, und den Stetson ordentlich mit der Krempe nach unten auf die Kommode zu legen. Doch er wusste, dass das leidenschaftliche Verhalten seiner Frau eine Geste war, und dass es unhöflich und verletzend gewesen wäre, sie jetzt auszubremsen, nicht bei etwas mitzuspielen, das sie sich auf ihrer fast vierstündigen Fahrt nach Jefferson ausgedacht hatte. Er hatte kaum Zeit, Luft zu holen, so fiel sie über ihn her. Er wollte es langsamer angehen lassen, sie schmecken, nicht nur ihren Mund, sondern auch die Haut an ihrem Hals, wo sich zwischen den Friseurterminen kleine Locken bildeten, die Stelle, wo sie am empfindlichsten und zartesten war – für all das, wollte er sich Zeit nehmen. Doch wieder fürchtete er, sie zu kränken. Also ließ er sie ihre Vorstellung davon, wie perfekte Leidenschaft auszusehen hatte, ausleben, was nicht hieß, dass Darren nicht ebenfalls auf seine Kosten kam. Er war in seinem Leben nicht mit vielen Frauen im Bett gewesen, aber mit Lisa war es stets vertraut. Sie war das erste Mädchen gewesen, das diejenigen, die folgten, in den Schatten stellte: Mädchen in den ersten Semestern an der juristischen Fakultät in den Jahren, als er und Lisa aufgrund ihres jeweiligen Studiums getrennt waren, als sie einen wortlosen Pakt geschlossenen hatten, keine Fragen zu stellen. Er erinnerte sich kaum noch an die Mädchen oder flüchtigen Begegnungen auf Schlafsofas, einmal sogar auf einem Trockner in der Wäschekammer. Während er seine Jahre in Princeton und Chicago verbrachte, wollte er immer nur zu Lisa zurück.
Danach lagen sie verschwitzt auf dem zerknitterten Samt. Er hinterließ Abdrücke auf Lisas Rücken, die Darren streichelte. Der Raum war erfüllt vom Geruch der Anstrengung, die sie unternommen hatten, und er küsste den salzigen Film auf Lisas Schulter und dankte ihr. Sie hatte ihn noch nie besucht, wenn er irgendwo im Einsatz war.
»Ich bin froh, dass du gekommen bist«, sagte er.
Er war tief berührt.
Er zog sie an sich und küsste sie und sagte ihr, dass er sie dafür liebe, dass sie über zweihundert Meilen gefahren sei, um bei ihm zu sein. Sie genoss es einen Moment lang, ein triumphierendes Glitzern in den Augen, was die Situation für Darren ein wenig ruinierte. Er kannte Lisa gut genug, um zu wissen, wann sie Punkte zählte und einen Sieg auskostete. Diesmal hatte sie sich aufopferungsvoll gezeigt und irgendwie die Oberhand gewonnen. Und mit diesem Druckmittel stellte sie eine Frage, die den dringenden Wunsch nach einer Erklärung barg. Die Fahrt, die Dessous, ihre Beine noch vor Minuten um seine Taille geschlungen, das alles wirkte auf einmal wie eine Honigfalle, bevor die bittere Medizin verabreicht wurde. »Wir haben keine Geheimnisse mehr voreinander, stimmt’s?«, fragte sie und blickte ihm in die Augen. Vor Angst krampften sich seine Eingeweide zusammen. Sein erster Gedanke war Randie. Glaubte sie etwa, zwischen ihnen wäre etwas gewesen? Sie hatten das doch geklärt, oder? Oder hatte Lisa ihm ein Geständnis zu machen? Darren stützte sich zuerst auf die Ellbogen und richtete sich dann ganz auf, den Rücken gegen das Kopfteil gelehnt. Die Temperatur im Raum hatte sich abgekühlt, und es fühlte sich jetzt klamm an. In der feuchten Luft setzte der Teppichbelag einen süßlichen Geruch frei, wie von verfaulenden Früchten.
»Was läuft da eigentlich zwischen dir und Bell?«, fragte Lisa schließlich.
Darren war zuerst erleichtert. Doch das dauerte gerade mal so lange, wie Lisa brauchte, um sich ebenfalls im Bett aufzusetzen und zu fragen: »Clayton sagt, du gibst ihr Geld.«
»Wieso redest du mit Clayton über mein Verhältnis zu meiner Mutter?« Er hatte das Gefühl, dass sich die Punktezahl zu seinen Gunsten veränderte. Denn er konnte das mit der verschwundenen Waffe und der Erpressung durch seine Mutter verschweigen, wenn er sich auf ihr Fehlverhalten konzentrierte: mit seinem Onkel Clayton hinter Darrens Rücken über ihn zu reden, war bestimmt fünfzehn Mal in nur vier Sitzungen bei Dr. Long Thema gewesen, und Lisa hatte verstanden, wie Darren sich fühlte, wenn sie und Clayton sich verbündeten und über seine Entscheidungen urteilten – die juristische Fakultät, die Ranger und vor allem Claytons Wunsch, Darren möge seine Mutter aus seinem Leben ausschließen. Sie verletzte damit eine Regel, die sie im geschützten Umfeld der therapeutischen Praxis aufgestellt hatten.
»Das ist nicht der springende Punkt«, sagte Lisa kühl.
»Da bin ich mir nicht so sicher.«
»Es geht hier nicht um Clayton.« Darren sah sie eindringlich an, und sie sagte: »Ja, er hat mich angerufen, besorgt darüber, dass deine Mutter dich abzockt, weil du ihn gebeten hättest, Bell Geld für ihre Miete zu bringen. Und ich konnte irgendwie nicht glauben, dass du gedacht hast, du könntest es mir verschweigen. Und dann ist Frank Vaughn in mein Büro gekommen und …«
»Was?«
»Der Bezirksstaatsanwalt von San Jacinto County.«
»Ich weiß, wer er ist«, sagte Darren wütend und panisch zugleich. »Was hatte er in Houston in deinem Büro zu suchen? Du hast nichts gesagt, oder? Nichts von dem Abend, als ich zu Mack rausgefahren bin.«
»Zwei Tage, bevor Ronnie Malvo getötet wurde? Nein, Darren, ich habe keinem Bezirksstaatsanwalt davon erzählt, wie du mitten in der Nacht wie ein Cowboy und ohne Verstärkung zu rufen zu Mack gefahren bist, um ihn davon abzubringen, jemanden zu töten.« Sie schwang ihre Beine aus dem Bett und stellte sich vor ihn hin, die Arme wie Schwerter verschränkt. »Damit habe ich gelogen, Darren. Einen Staatsanwalt angelogen.«
»Hat er dich danach gefragt? Ganz direkt?« Darren stand ebenfalls auf.
Wusste Vaughn bereits Bescheid?
»Nein.«
»Dann ist es auch keine Lüge.«
»Hör auf, so zu tun, als hättest du nicht die juristische Fakultät besucht, Darren. Unterschlagung von Informationen in einem Mordfall gilt als Justizbehinderung. Ich könnte meine Anwaltslizenz verlieren.«
»Das wird nicht passieren. Mack wird kein Wort sagen. Ich lasse nicht zu, dass dir oder ihm irgendetwas passiert, das verspreche ich dir, Lisa.«
»Hat er es getan?«
»Was hat dich Vaughn gefragt?«
»Beantworte die Frage, Darren. Hat Mack Ronnie Malvo erschossen?«
»Ich weiß es nicht.«
»Ich glaube dir nicht«, sagte seine Frau. Sie ließ die Arme sinken, entblößte sich und stellte damit ihre Schutzlosigkeit zur Schau. »Und wenn ich dir in dieser Sache nicht glaube, dann vertraue ich dir nicht, und wenn ich dir nicht vertraue, Darren, was sollen wir dann tun?«
»Ich habe versucht, dich zu beschützen«, sagte er. »Und Mack.«
»Ich liebe Mack auch«, sagte sie, aber Darren wusste, es war gelogen. Sie kannte Mack gar nicht, war nicht mit ihm aufgewachsen. Ein Mädchen aus Houston wusste nichts von der engen Verbundenheit Schwarzer auf dem Land, der Art und Weise, wie Erde und Jahreszeiten aus Fremden eine Familie machten, wie die Menschen sich gegenseitig unterstützten, indem sie Nahrung und Unterkunft teilten, welche Geschichten sich schwarze Osttexaner erzählten, vor welchen Ortschaften und Landstraßen sie einander warnten. Ihre vorgebliche Liebe für Mack sollte abmildern, was als Nächstes kam: »Und wenn er doch jemanden getötet hat?«, sagte sie und schlang erneut die Arme wie einen Panzer um sich. »Es ist mir egal, wer es war, aber komm nicht auf die Idee, dich da mit reinziehen zu lassen und deine Karriere zu gefährden.«
»Zu spät«, sagte Darren.
Er spürte den Impuls von Flucht, von Kapitulation, sich von der Klippe zu stürzen und zu beichten. Er bat sie, sich auf das Sofa zu setzen, und ließ sich ihr gegenüber auf dem Bett nieder, um ihr von Mack und der verschwundenen Waffe zu erzählen. Von seinem Verdacht, dass Mack sie auf dem Hof der Mathews-Familie in Camilla versteckt hatte, was Darren wochenlang für sich behalten hatte. Dass er durch sein Schweigen beinahe einen Meineid vor der Grand Jury geleistet hatte. Und das Sahnehäubchen war: Bell Callis hatte die Waffe. Lisa saß fassungslos da und sagte eine gefühlte Ewigkeit nichts, obwohl es wahrscheinlich nur zwei Minuten waren, zwei Minuten, in denen sie schnaubend atmete und nicht bereit war, ihm in die Augen zu schauen. Auf einmal stand sie auf und begann sich anzuziehen, ließ die Dessous, die jetzt zu einer anderen Ehe zu gehören schienen, unter einem dunkelgrauen Hemdblusenkleid aus Seide verschwinden. Sie blickte auf, während sie es zuknöpfte, und sagte: »Okay.«
»Okay was?«
»Okay, du bringst das in Ordnung«, sagte sie mit ruhigem Pragmatismus. »Vaughn wird das nicht auf sich beruhen lassen. Er hat gefragt, ob wir Waffen im Haus hätten, ob ich eine gefunden hätte, die da nicht hingehört. Er könnte einen Durchsuchungsbefehl erwirken, Darren.«
»Er wird nichts finden.«
»Du weißt, dass sie alles Mögliche finden können, wenn sie erst einmal drin sind.«
Sie drehte ihm den Rücken zu und schlüpfte in ein Paar gelbe Tory-Burch-Ballerinas.
»Du gehst?«
»Ich habe Greg gesagt, dass wir mit ihm zu Abend essen«, sagte sie.
»Hä?« Es war ein Überraschungslaut.
Auf die Idee war er gar nicht gekommen. Und er hatte auch keine Ahnung, wann Lisa und Greg miteinander gesprochen hatten oder woher sie wusste, dass er in Jefferson war. Das Telefon neben dem Bett klingelte. Darren nahm den Anruf entgegen und hörte eine leise Frauenstimme mit einem leicht fragenden Unterton in jeder Silbe, als entschuldigte sie sich für die Störung. »Ich bin auf der Suche nach Monica Maldonado«, sagte sie. Darren teilte ihr mit, dass sie sich im Zimmer getäuscht habe, und legte in dem Moment auf, als Lisa zur Tür ging. Sie blickte über die Schulter zu Darren, der noch immer nackt auf der Bettkante saß. »Ich warte unten auf dich«, sagte sie, ohne ihn richtig anzusehen, und ließ ihn mit seiner Scham allein. »Du könntest ins Gefängnis gehen«, sagte sie. »Bring das in Ordnung.«
Sobald sie draußen war, stand Darren auf, nackt und sowohl körperlich als auch mental zusammengeschrumpelt. Ihm war mulmig zumute. Der Streit mit seiner Frau, ihre bittere Enttäuschung über ihn und die Angst, eine Entscheidung getroffen zu haben, die ihr gemeinsames Leben in Gefahr brachte. Die Aussicht auf ein Abendessen mit Greg, der in diesem Moment das Verschwinden von Levi King in eine Richtung lenkte, die Darren nicht behagte, auch wenn er Leroy Page nicht vertraute.
Und da war noch etwas. Er hatte aufgelegt, bevor es ihm bewusst geworden war. Der Name der Frau, der Hotelgast, nach dem die Anruferin gefragt hatte, war ihm irgendwie bekannt vorgekommen. Er wartete eine Weile, bevor er sich anzog, und hoffte, dass es ihm wieder einfallen würde. Doch er konnte sich nicht daran erinnern, wo er ihn schon einmal gehört hatte; es war wie ein Jucken an einer Stelle, an die er nicht herankam.
Greg hatte das Restaurant ausgewählt: Ein Steakhaus in einem renovierten Bankgebäude vom Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts nur ein paar Blocks vom Cardinal Hotel entfernt. Sie hatten einen Tisch auf dem Balkon im Obergeschoss – weißes, gestärktes Leinen gegen einen dunkler werdenden Himmel und ein geschwungenes, schmiedeeisernes Balkongeländer. Es war das Gegenteil des Froggy’s, wo Greg und Darren gestern Abend waren, und er fragte sich, ob die noble Kulisse für ihn – als Geste der Wiedergutmachung – oder für Lisa gedacht war. Seine Frau sah in der Umgebung wunderschön aus, ihre braune Haut war wie dunkler Honig im Licht der Kerzen und winzigen weißen Glühbirnen, mit denen die Girlanden aus Plastikstechpalmen geschmückt waren. Das Restaurant hatte Weihnachtsliedersänger angeheuert. Sie standen auf der Straße und reckten die Hälse zum oberen Balkon, während sie bei zweiundzwanzig Grad Celsius The First Noel sangen. Darren hatte einen Blick über das Stadtzentrum von Jefferson, und aus dieser Höhe konnte er sehen, wo die gezähmte Stadt dem urwüchsigen Pinienwald wich, der sie umgab. Der Cypress Bayou – der in den Caddo Lake mündete – befand sich hinter dem Restaurant, nicht weit von Sandler Gaines’ falschem Dampfschiff entfernt. Kaum vorstellbar, dass Jefferson mit seinem Vorkriegscharme und der gefährliche, ungezähmte Caddo Lake nur ein paar Meilen voneinander entfernt lagen, geschweige denn, dass Frauen in Reifröcken und mit Sonnenschirmen auf einem Schiff durch einen zugewucherten Sumpf fuhren.
Was ebenfalls nicht ins Stadtzentrum von Jefferson passte: der rostige gelbe Van aus dem Trailerpark von Hopetown. Darren sah, dass er gegenüber vom Steakhaus parkte, sah das hinter der Frontscheibe ausgebreitete Dixiehandtuch, und durch die Scheibe an der Fahrerseite erkannte er Bo, dessen roter Bart ins Licht der untergehenden Sonne getaucht war. Seine Augen, die auf diese Distanz schwarz waren, waren auf Darren gerichtet und beobachteten ihn und seine Begleiter auf dem Balkon. Darren griff instinktiv nach seiner Waffe, zog sie ostentativ aus ihrem Holster und legte sie sichtbar auf das Tischtuch. Bo zuckte leicht mit den Achseln und zwinkerte vielleicht sogar angesichts des Versuchs, ihn einzuschüchtern, doch aus der Distanz konnte Darren das nicht feststellen. Nur eins war klar: Er wurde beobachtet. Lisa wich zurück, als sie die Waffe sah. Greg schnitt eine Grimasse, ignorierte sie jedoch.
Er hatte andere, gewichtigere Dinge im Kopf.
Noch bevor Wasser in die Gläser gefüllt wurde, machte Darren Greg klar, dass er seine Ermittlungen weder behindern noch sich sonst irgendwie einmischen würde, und dass er sich hinsichtlich Leroy Page auch nicht mehr ganz sicher sei. Doch er habe noch immer Hoffnung, dass er nicht der Mörder und der Junge womöglich noch am Leben sei. »Ich weiß, dass du mit dem Fall etwas beweisen willst, um das Justizministerium in Sachen Hassverbrechen aufzurütteln, aber wenn dieser Junge noch am Leben ist, wird deine Untersuchung dafür sorgen, dass niemand nach ihm sucht«, sagte Darren. »Ich denke noch immer, dass seine Großmutter nicht alles gesagt hat, was sie in der Sache weiß. Weißt du, Dana, Levis Schwester, sagte, sie hätte nicht gesehen, wie das Boot zurückgebracht wurde, was bedeutet, Leroy kann es nicht gesehen haben.«
»Ich weiß, du hast mir davon erzählt«, erwiderte Greg.
»Ich wollte noch mal auf den See zurückkommen«, sagte Darren. »Vielleicht liegt die Antwort irgendwo da draußen, vielleicht war es ja nur ein Unfall.«
»Das Wasser ist zu flach. Von Sheriff Quinn bis zum Jagdaufseher hält keiner das für wahrscheinlich.«
»Das heißt nicht, er könnte nicht von einem Alligator gebissen worden sein. Wer weiß? Vielleicht ist was mit dem Boot passiert, und der Junge klammert sich irgendwo da draußen an eine Zypresse und wartet darauf, dass ihn jemand rettet.«
Greg schüttelte den Kopf und ging sogar so weit, sich über die Speisekarte zu beugen, um zu zeigen, dass er nicht länger an Darrens Überlegungen interessiert war. »Wenn etwas mit dem Boot passiert ist, wenn Dana nicht gesehen hat, wie es zurückgebracht wurde, wieso steht es dann im Bootsschuppen? Wahrscheinlicher ist, dass Page die Wahrheit gesagt und den Jungen dabei beobachtet hat, wie er das Boot zurückbrachte … womit er der Letzte ist, der Levi King lebend gesehen hat.«
Lisa seufzte. Seit sie angekommen waren, hatte sie weder das Wort an ihren Mann gerichtet, noch ihn berührt. Selbst die gehauchten Küsschen, die sie Greg gegeben hatte, waren herzlicher gewesen als das, was Darren bekam. Falls Greg die frostige Atmosphäre zwischen ihnen bemerkt hatte, war er so gnädig, kein Wort darüber zu verlieren. Lisa wedelte mit der Speisekarte aus Papier in ihren Händen, um anzuregen, sich nicht länger mit potenziellen Morden und FBI-Fällen zu beschäftigten. Nach wenigen Minuten stand ein Kellner an ihrem Tisch, um herauszufinden, wer hier wessen Gast war, doch er schien von der Dynamik am Tisch verwirrt zu sein. Da bist du nicht der Einzige , dachte Darren. Lisa bestellte das Ètouffée und Greg den gegrillten Seewolf. Darren entschied sich für ein Kansas-City-Rippensteak, was seltsamerweise das beste Stück Fleisch in diesem texanischen Steakhaus war. Allerdings war Jefferson eine Kleinstadt, und trotz ihrer Rokoko-Architektur und der prächtigen viktorianischen Häuser im Kolonialstil konnte ihre glamouröse und kultivierte Erscheinung nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie ein kleines, hartes und provinzielles Herz hatte.
Darren blickte über die Brüstung hinunter zur Straße und sah, wie Clyde die Fondtür des silbernen Cadillac öffnete und Rosemary King in einem gestärkten marineblauen Kleid mit einem silbernen Gürtel ausstieg. Als sie auf die Eingangstür des Restaurants zuging, verließ ihr Begleiter ebenfalls den Wagen. Darren erkannte zuerst das Haar: die geckenhafte Tolle auf seinem Kopf. Sandler Gaines betrat das Restaurant direkt hinter Rosemary. Darren warf seine Serviette auf den Tisch und entschuldigte sich, während Lisa und Greg sich Geschichten aus ihrer gemeinsamen Zeit als Studenten an der Southern Methodist in Dallas zu erzählen begannen. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal zu dritt in einem Raum gewesen waren oder zusammen an einem Tisch gesessen hatten. Darren, Lisa und Greg. Jetzt wäre vielleicht der richtige Zeitpunkt gewesen, zu fragen, woher Lisa wusste, dass Greg in Jefferson war, wann die beiden darüber gesprochen hatten und wie und warum dieses Dinner arrangiert worden war. Doch diese Fragen fühlten sich bedeutsam an, und etwas nistete sich in seinem Kopf ein, das gerade noch da draußen herumgeschwebt war, harmlos und ohne Ziel.
Er war froh über die Ablenkung durch Rosemary und Sandler Gaines.
Sie saßen an einem privaten Tisch hinter einem dunklen Vorhang, wo ein schwarzer Kellner an der Wand lehnte, um ihnen sämtliche Wünsche zu erfüllen. Darren bat ihn, ihm einen Bourbon ohne alles zu bringen und sie ansonsten allein zu lassen. Rosemary erhob sich angesichts der Störung halb von ihrem Stuhl, aber Darren zeigte dem schwarzen Kellner seine Marke, das genügte. Er schlüpfte hinter den Vorhang.
Darren setzte sich auf den leeren Platz Rosemary gegenüber und sagte: »Sie beide kaufen also das Land draußen in Hopetown, ist das richtig?« Rosemary glitt wieder auf ihren Stuhl. Darren bemerkte, wie ihre Haut sich plötzlich rötete. Die weißen Perlen hoben sich deutlich davon ab, sodass sie wie ein Gebiss aussahen, das sie um den Hals trug. Sie kniff die Lippen zusammen und griff nach ihrem Handy in der Ledermappe auf dem Stuhl neben Darren. Ohne ein Wort zu sagen, wählte sie eine Nummer und ignorierte Darren dabei demonstrativ.
Gaines wandte sich mit einem dünnen Lächeln an ihn und sagte: »Ich habe mir das Gelände angesehen, das stimmt, aber ich fürchte, ich wurde am Ende überboten.« Er zuckte leicht mit den Achseln, was wegen des wulstigen Fleischs um Schultern und Kinn fast unbemerkt blieb. »Meine Niederlage.«
»Und die Tatsache, dass Sie mit der tatsächlichen Käuferin einträchtig zusammensitzen, ist nur ein Zufall?«
Gaines hob sein Glas Rotwein. »Ich glaube, Sie sind nicht richtig informiert, Ranger. Dieses Land wurde in eine Stiftung überführt.«
»Was Sie arrangiert haben«, sagte er an Rosemary gewandt.
Sie flüsterte so leise in ihr Handy, dass Darren sich nicht vorstellen konnte, wie jemand am anderen Ende auch nur ein Wort verstehen sollte.
Gaines sprach an ihrer Stelle. »Rosemary und ich kennen uns schon seit Jahren.«
»Sag nichts«, sagte sie schließlich. »Bis Roger hier ist.«
»Sie haben Ihren Anwalt angerufen?«, fragte Darren fast beeindruckt von dem Zug.
»Sheriff Quinn ist der Nächste, falls Sie meinen Tisch nicht verlassen.« Sie wählte eine weitere Nummer auf ihrem Telefon und blickte Darren schließlich direkt an, ihre blauen Augen fast so dunkel wie das Schwarzblau ihres Kleids im schummrigen Licht des Separees. »Ich kenne meine Rechte. Laut Sheriff Quinn besteht wegen des Verschwindens meines Enkels kein Anlass, mich zu überprüfen, und ich bin nicht verpflichtet, auch nur ›Buh‹ in Ihre Richtung zu sagen, Ranger.« Jemand musste drangegangen sein, denn sie redete erneut so leise wie möglich. Jedenfalls hatte sie recht.
Für den Fall Levi King war Quinn beziehungsweise das FBI zuständig. Aber es war ganz und gar nicht Darrens Angelegenheit.
Er hob die Hände, um zu signalisieren, dass er sich zurückziehen würde, und blickte über die Schulter in Erwartung des Bourbons, nach dem er bereits lechzte. Dann wandte er sich so lässig wie möglich an Gaines und sagte rundheraus: »Wieso haben Sie mich angelogen, was das Zimmer neben Ihrem im Cardinal betrifft?«
Rosemary hob augenblicklich den Kopf, und ihr Hals wurde noch röter.
»Zimmer 107 war von einem anderen Gast besetzt, einer Frau, um genau zu sein«, sagte Darren. »Und nicht, wie Sie mir erzählt haben, von Ihnen. Und trotzdem hatten Sie einen Schlüssel.«
»Ich glaube, wir haben das alles in den frühen Morgenstunden besprochen, als sie wirr und halbnackt auf meiner Etage aufgetaucht sind, um Geister und eingebildete Geräusche zu jagen. Die Geschichte ist völlig simpel und harmlos. Ich habe eine Dame kennengelernt, wir hatten ein Techtelmechtel. Sie ist abgereist, nachdem die Sache vorbei war. Das ist alles. Dass ich ihren Zimmerschlüssel behalten durfte, ist womöglich ein Beweis für meine Großzügigkeit.«
Hatte Darren etwas nicht mitbekommen, oder deutete Gaines etwa an, dass die Frau eine Prostituierte war? Er dachte daran, wie er gestern Abend an Rosemarys Haus vorbeigefahren und die glitzernden Kronleuchter gesehen hatte, ein Eindruck von Pracht und altem Geld. »Was hat eine Nutte oder gar ein Callgirl in Ihrem Haus zu suchen, Ms. King?«, fragte er sie, bevor er wieder zu Gaines blickte. »Ich habe gesehen, wie Sie zusammen weggegangen sind.« Rosemary legte ihr Telefon auf den Tisch.
»Wenn das nichts mit Levi zu tun hat, möchte ich Sie bitten, zu gehen«, sagte sie.
Der Sheriff traf vor dem Bourbon ein.
Er trug noch immer Uniform und war außer Atem, als wäre er vom Büro direkt hierher gerannt. Er stemmte die Hände in die Hüften und blickte in die Runde am Tisch wie eine gehetzte Mutter, die Chaos vorfindet und nicht weiß, wen sie zuerst schelten soll. Darren erhob sich demonstrativ. Er würde gehen, bevor er dem hiesigen Sheriff dabei zusehen müsste, wie er sich blamierte, indem er einen Texas Ranger öffentlich herunterputzte. Doch er nutzte dessen Anwesenheit, um seiner nächsten Frage an Sandler Gaines ein wenig Brisanz zu verleihen. »Und der Aufruhr, den ich letzte Nacht in Zimmer 107 gehört habe?«
Gaines blickte zuerst den Sheriff und dann Darren mit künstlich verwirrter Miene an. »Welcher Aufruhr?«, sagte er. »Sie haben das Zimmer gesehen. Wenn es so zugegangen wäre, wie Sie behaupten, hätte es Anzeichen eines Kampfs geben müssen, nicht wahr?«
Darren stellte fest, dass es Gaines war, der das Wort Kampf benutzt hatte, nicht er.
Doch er hatte sonst nichts in der Hand, hatte nur das Gefühl, dass jeder in diesem kleinen County den anderen in Verschleierung und Irreführung übertraf. Marnie King und Gil Thomason, Rosemary King und Sandler Gaines, Leroy Page, zum Teufel, sogar Margaret Goodfellow. Keiner von ihnen wird dir eine Geschichte so erzählen, wie sie sich zugetragen hat , dachte er. Dieser Ort hatte etwas Verschleierndes, wie das gräuliche Moos, das im Caddo Lake von den Zypressen hing. Es war unmöglich, die Wahrheit herauszufinden, eine direkte Antwort eines Ortsansässigen auf eine simple Frage zu bekommen. Aber er nahm Marnie King ihre Verzweiflung ab. Auch Dana ihre Tränen wegen ihres Bruders. Sogar Bill Kings Hilferufe wirkten genauso glaubwürdig wie seine gewalttätige Vergangenheit. Darren respektierte keinen von ihnen, würde noch nicht einmal die Straße überqueren, um auf Bill King zu spucken, aber er wusste, dass Bill und Marnie und Dana Levi King liebten und zurückhaben wollten.
Als er zu seinem Tisch zurückkam, war er leer, die Vorspeisen kaum angerührt. Die Kräuterbutter auf seinem billigen Steak war geschmolzen und rann in einem trüben Rinnsal zum Tellerrand hin. Auf dem weißen Reis von Lisas Etouffée hatten sich orangene Fettpfützen gebildet. Darren wollte schon den Kellner rufen, um zu erfahren, wo seine Begleiter geblieben waren, wieso sie so plötzlich verschwunden waren, als die Stimme seiner Frau von der Straße zum Balkon heraufhallte. »Nein«, sagte sie mit tiefem, angestrengtem Tonfall. »Das tun wir jetzt nicht. Es ist so schon schwierig genug.« Mit einem Blick über das Geländer sah er, wie Greg nach Lisas Arm griff und auf eine Weise ihren Namen sagte, die nicht besitzergreifend, sondern vielmehr gereizt klang, so als schuldete sie ihm etwas. »Wir waren Kinder damals«, sagte sie.
Als Darren die Eingangstreppe des Restaurants erreichte, berührten sich Lisa und Greg nicht länger. Sie standen nicht einmal mehr zusammen. Greg klopfte ihm lustlos auf die Schulter, sagte, dass sie sich bald sprechen würden, und ging dann ohne eine Erklärung in Richtung des blauen Ford Taurus davon. Lisa wandte sich zu Darren um, und Weihnachtsbeleuchtung spiegelte sich in ihren feuchten Augen. Ihr ursprünglicher Zorn war von Tränen erstickt worden, was immer sie bedeuten mochten. »Hass mich nicht«, sagte sie. Er streckte die Arme nach ihr aus, bereit, sich anzuhören, was auch immer sie zu sagen hätte.
Lisa stand steif da, während er sie umarmte, und log ihn an.
»Ich muss morgen zum Gericht. Wir haben endlich eine Anhörung bei Richter Caselli, und ich muss mein Team vorbereiten.«
»Du reist also ab?«, fragte er. »Jetzt?«
»Ich muss.«
»Lisa …«
Er betrachtete sie eingehend. Keine Geheimnisse, richtig? Doch sie hatte bereits ihr Handy gezückt, weil sie anscheinend – in diesem Moment – einen Anruf tätigen musste, und blieb dann am Telefon, während sie in Darrens Hotelzimmer ihre Sachen packte und er sie zu ihrem Wagen auf dem Parkplatz hinter dem Hotel brachte. Sie legte gerade noch rechtzeitig auf, damit er sagen konnte: »Fahr vorsichtig, Lis. Und ruf an, wenn du zu Hause bist.« Sie nickte und gab ihm einen flüchtigen, trockenen Kuss auf die Wange.
Ohne etwas darüber zu sagen, folgte er ihr bis zum Highway 59 und an Marshall vorbei, als sie Richtung Süden fuhr. Irgendwann an diesem Abend hatte er Bo und seinen verrosteten Van aus den Augen verloren, und er wollte sicher sein, dass seine Frau nicht verfolgt wurde. Etwas Schmerzhaftes kam auf ihn zu, das wusste er, das Rumpeln eines Gewitters, das sich zusammengebraut hatte, als er nicht hingeschaut hatte, als er Lisa und Greg mit ihren Geheimnissen allein am Tisch zurückgelassen hatte. Er spürte eine seltsame Dankbarkeit für den drohenden Schmerz am Horizont, für das, was er bedeutete. Es erlaubte ihm, heute Nacht das zu tun, was er seit Monaten hatte tun wollen, seit er das Büro des Gerichtsmediziners in Dallas verlassen hatte.