17
Er konnte erst am nächsten Morgen in das Zimmer, nachdem er die halbe Nacht damit verbracht hatte, mithilfe verschiedener Suchmaschinen Informationen über Chafee, Humboldt und Greene zu beschaffen, was nicht sehr ergiebig gewesen war, bis auf ihre Adresse in Alexandria, Virginia, und einen Eintrag bei martindale.com , dem Anwaltsverzeichnis, das besagte, dass es sich um eine Zivilrechtskanzlei handelte, was bedeutete, dass Leroy Page kein Klient in Strafsachen von Monica Maldonado war. Als Darren nach wenigen Stunden Schlaf wieder erwachte, wusste er noch immer nicht, weshalb die Frau überhaupt in Jefferson gewesen war, ganz zu schweigen von ihrem aktuellen Verbleib. Weder die Empfangsdame der Kanzlei noch der Partner, mit dem er gesprochen hatte (um Punkt neun Uhr morgens Ostküstenzeit), wollte Darren bestätigen, dass Monica Maldonado in Jefferson, Texas, gewesen war, und schon gar nicht den Grund dafür nennen.
»Ich fürchte, das ist vertraulich«, sagte der Partner, dessen Name Dale Goodall war und der nicht im Mindesten beunruhigt darüber zu sein schien, dass ein Texas Ranger nach einer seiner Mitarbeiterinnen fragte. Darren wusste, dass Mr. Goodall so wie viele von außerhalb des Staates womöglich nicht verstand, welche Rolle Ranger bei der Strafverfolgung in Texas spielten; vielleicht glaubte er ja, er spräche trotz der Dringlichkeit in Darrens Stimme mit einem Park-Ranger. Zumindest bestätigte er, dass Monica für Chafee, Humboldt und Greene arbeitete, und versicherte Darren, dass sie ein großes Mädchen sei – seine Worte –, das auf sich selbst aufpassen könne.
»Nun, sie ist seit zwei Tagen nicht mehr in ihrem Hotel gewesen und zu einem Termin mit einer Notarin von hier, Gail Combs, nicht aufgetaucht, für den Sie bestimmt eine Rechnung in Ihren Unterlagen haben«, sagte Darren und ließ das erst einmal sacken, bevor er hinzufügte: »Aber ich bin sicher, Ihre Kanzlei stand in den letzten achtundvierzig Stunden in Kontakt mit Ms. Maldonado, nicht wahr, Mr. Goodall?«
Der Anwalt stieß schnaubend die Luft aus, was wie ein Trommelwirbel klang und Darren verriet, dass sich am Horizont etwas zusammenbraute. »Ich rede mit ihrer Sekretärin«, sagte Goodall. »Dann rufe ich Sie zurück.«
Doch es verging über eine Stunde, ohne dass Darren einen Rückruf erhielt.
Als Frühstück im Speisesaal neben der Lobby serviert wurde, ging er hinauf in den ersten Stock, vorbei an der Rezeption, und knöpfte sich stattdessen eins der Zimmermädchen vor, eine spindeldürre Schwarze mit geglättetem Haar mit losen, widerspenstigen Strähnen. Als sie im ersten Stock mit dem Saubermachen begann, sah er, wie sie an Sandler Gaines’ Tür klopfte und in freundlichem, jedoch routinemäßigem Ton »Zimmerservice« rief. Als sie keine Antwort bekam und die Tür mit ihrem Generalschlüssel öffnete, hielt ihr Darren in der Gewissheit, dass Gaines nicht in der Nähe war, seine Marke hin und sagte, er müsse ins Zimmer 107.
»Es ist leer, Sir«, sagte sie.
»Spielt keine Rolle«, erwiderte Darren mit autoritärer Miene, die keinen Raum für Fragen ließ. »Ich muss da rein, das ist eine Bundesangelegenheit und sehr ernst. Ich habe Anweisung, das Zimmer zu durchsuchen.«
Das Zimmermädchen, Barbara, wie auf ihrem Namensschild stand, warf Darren einen Blick zu, der verriet, dass sie das womöglich für Quatsch hielt, aber Darren war schwarz und trug eine Marke, weshalb sie ihm Glauben schenkte, sich aber, während sie die Tür öffnete, gleichermaßen dazu berechtigt fühlte, leise zu murmeln: »Wehe, ich werde deswegen gefeuert.« Dann ließ sie ihn allein.
Die Samtvorhänge waren offen und gaben den Blick frei auf denselben Hofgarten wie vor Darrens Fenster. Von hier oben konnte Darren sehen, wie ein paar Hotelgäste ihren Kaffee draußen tranken, Sandler Gaines eingeschlossen, wobei sein pomadisiertes Haar im goldenen Morgenlicht glänzte. Darren trat rasch vom Fenster zurück und spürte, wie etwas unter seinem Stiefel knackte. Er blickte hinunter und bemerkte einen Kamm, der unter seinem Stiefelabsatz zerbrochen war. Er hatte neben dem Bett gelegen, und als Darren sich hinkniete, um ihn näher zu betrachten, stellte er fest, dass der Kamm, der Perlmuttintarsien trug, bereits zerbrochen war. Neben dem Teil, auf das Darren getreten war, lag die andere Hälfte des Kamms ein paar Zentimeter unter dem Bett. Selbst im Halbdunkel konnte Darren die Umrisse von Haaren erkennen, die in Büscheln zwischen den Kammzähnen hingen. Er hob die Zipfel seines weißen Button-down-Hemds, packte die beiden Kammhälften mit dem Stoff und steckte sie in einen Wäschesack aus dem Schrank, aber erst, nachdem er das Büschel Haare in Augenschein genommen hatte. Es war das gleiche schimmernde Schwarz wie das Haar der Frau, die er gemeinsam mit Sandler Gaines gesehen hatte.
Er ging die paar Blocks bis zum Sheriff-Büro in der Austin Street zu Fuß. Er musste nachdenken: Der Haarkamm, das Handgemenge, das er in Zimmer 107 gehört hatte, die Frau, die er mit Sandler Gaines gesehen hatte, die Notarin, die auf der Suche nach Monica Maldonado gewesen war, und die Tatsache, dass er die halbe Nacht erfolglos damit zugebracht hatte, Autovermietungen am DFW und in Love Field, dem nächsten größeren Flughafen, anzurufen, schließlich jedoch bei Avis am Flughafen von Shreveport direkt hinter der Grenze in Louisiana fündig geworden war … Es war nicht so schwer gewesen, die junge Frau der Nachtschicht davon zu überzeugen, einem Texas Ranger am Telefon Informationen zu geben. Monica Maldonado, wohnhaft in 3016 Russell Road, Alexandria, Virginia, hatte einen weißen Pontiac Sunfire gemietet, der gestern bei der Niederlassung am Flughafen hätte abgegeben werden müssen. Sobald er in Sheriff Quinns Büro mit der Make-America-Great-Again -Kappe und dem mit Buffalo-Nickeln gefüllten Logenbecher war, zählte er noch die Tatsache hinzu, dass er die Visitenkarte der Frau in Leroy Pages Küche in Hopetown gesehen hatte, was ein Beweis dafür war, dass Ms. Maldonado existierte und irgendwann in Marion County gewesen war.
Quinn, der anscheinend noch immer die Klamotten vom Vorabend trug, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, verschränkte die Arme hinterm Kopf und zeigte zwei große Achselschweißflecken. »Was wollen Sie damit sagen, Ranger?«
»Es könnte sein, dass diese Frau verschwunden ist«, sagte Darren. »Und ich glaube, dass Sandler Gaines sie als Letzter gesehen hat. Ich habe die beiden selbst zusammen gesehen.«
»Sie können die Frau identifizieren?«
Darren zögerte kurz und log dann. »Ja.«
»Und was hat Page mit alldem zu tun?«
»Ich weiß es nicht, aber er hatte eindeutig Kontakt mit der Frau.«
»Wollen Sie etwa behaupten, wir hätten einen Serienmörder in diesem County?« Etwas an der Vorstellung amüsierte den Sheriff mehr, als es ihn erschreckte. »Sie wissen wirklich, wie man draußen in Hopetown Unruhe stiftet.«
»Wie bitte?«
»Mr. Page.«
»Es war Sandler Gaines, der sie als Letzter gesehen hat, habe ich gesagt.«
Sheriff Quinn ließ die Arme auf den Schreibtisch sinken, während er eine ernste Miene aufsetzte. Er redete weiter, als hätte er Darren nicht gehört.
»Vor der Sache hier hatte ich noch nie Probleme mit Leroy Page«, sagte Quinn. »Und ehrlich gesagt, wollte ich nicht glauben, dass er dem Jungen etwas getan hat, doch das Gerede dort draußen, die Gerüchte und Verdächtigungen kann man nicht ungeschehen machen. Sie hätten gut daran getan, sich das vorher zu überlegen, bevor sie seinen Namen in Gegenwart von Gil Thomason und seiner Trailerpark-Bande erwähnen. Beinahe hätten Sie das Todesurteil des Mannes unterzeichnet, bevor die Feds überhaupt die Gelegenheit hatten, ihn zu verhaften.«
Darren wurde ganz flau.
Er vernahm ein durchdringendes Fiepen im Ohr, sodass Quinns Worte, als er weitersprach, wie weit entfernt klangen. Darrens Beine fühlten sich so wacklig an wie Paprikagelee, als Sheriff Quinn nüchtern bemerkte: »Gestern Abend wurde auf Leroy Page geschossen.«
Darren schüttelte den Kopf, zuerst ungläubig, dann wütend.
»Was ist mit den Männern, die Sie vor seinem Grundstück postiert haben?«
»Sie sind irgendwie an ihnen vorbeigekommen«, sagte Quinn für Darrens Geschmack ein wenig zu geschäftsmäßig, als räumte er ein, die Deputys vor Pages Haus nur zum Schein postiert zu haben.
»Und wen meinen Sie mit ›sie‹?«
»Ich hatte Deputys dort draußen, die wie ein Läusekamm durch den Trailerpark gegangen sind. Ich bin nicht blöd, Ranger. Ich hänge das dem Abschaum dort draußen an.«
»Und Mr. Page, ist er …?«
»Am Leben, ja«, sagte Quinn und stand plötzlich auf. »Man hat ihn rechtzeitig ins Marion County Hospital gebracht. Wegen seines Alters steht es allerdings auf der Kippe. Die Caddos sind bei ihm und beten. Vielleicht kommt er durch.«
Er zuckte mit den Achseln, um klarzumachen, dass er die Mittel und Wege einer kleinen Gruppe von Caddo-Indianern, die seit über hundert Jahren unter Schwarzen lebten, zwar nicht verstand, aber ihre göttliche Autorität nicht infrage stellte aus Furcht, nicht in den Himmel zu kommen, falls er Indianern neues Unrecht angedeihen ließ.
»Reden Sie mit Sandler Gaines«, sagte Darren auf dem Weg hinaus. »Er weiß, was mit Monica Maldonado passiert ist. Darauf verwette ich meine Marke.«
Quinn notierte sich den Namen, auch wenn er betonte, Wichtigeres zu tun zu haben und nicht einfach alles stehen und liegen lassen zu können, um nach einer Frau zu suchen, die niemand vermisste, bis auf eine Teilzeitnotarin, die ihr Geld nicht bekommen hatte. »Mich übergehen Sie nicht so, wie Sie es mit dem Sheriff in Shelby County getan haben.« Das mit den Verhaftungen in Lark hatte sich also bis nach Marion County herumgesprochen – dass der Sheriff dort wegen geheimer Absprachen beinahe verhaftet worden wäre. Sheriff Quinn blickte Darren mit einer Gereiztheit an, die durchsetzt war mit widerstrebendem Respekt und noch etwas anderem, wogegen er ankämpfte: Angst. Darren spürte erneut diese besondere Macht, die die Marke an seiner Brust hatte, und er fragte sich besorgt, ob Quinn recht hatte. Hatten seine Fragen über Leroy Page das Leben des Mannes in Gefahr gebracht?
Falls er sich eine Kugel in Marion County einfangen sollte, hoffte Darren, dass jemand klug genug wäre, ihn über die Grenze nach Shreveport oder Jesus zu bringen, nur ein paar Meilen südlich in Richtung Marshall. Beide Städte waren größer und vermutlich besser ausgestattet, um Schusswunden zu versorgen. Aber Leroy Page war im Zweibettzimmer eines Krankenhauses, das hauptsächlich damit beschäftigt war, Diabetiker bei überlebensnotwendigen Änderungen ihres Lebensstils zu beraten, und das in höchstens fünf Metern Entfernung vom nächsten Verkaufsautomaten mit Dr. Pepper und Twix.
Er war nach oben geschickt worden, wo die Patienten, die länger blieben, untergebracht waren. Nachdem er an billig gerahmten Bildern von Blauen Lupinen und Hartriegel vorbeigegangen war, wobei die Absätze seiner Straußenlederstiefel auf dem leicht klebrigen Fliesenboden seltsam klackten – ein Geräusch wie von Verbandsmaterial, das man von der Haut riss –, fand Darren Mr. Pages Zimmer hinter der dritten Schwesternstation vom Aufzug aus. Er teilte das Zimmer mit einem Weißen um die vierzig, der etwas aus einer Whataburger-Tüte aß und mit seinem Handy telefonierte. Er guckte zweimal hin, als er Darren und seine Marke sah, ließ sich aber ansonsten weder von seinem Essen noch seinem Handy ablenken. Hinter einem dünnen Vorhang auf der anderen Seite des Zimmers lag Mr. Page und schlief, zumindest waren seine Augen geschlossen. Sein Körper schien zu zucken, und eine Schwarze, die auf einem Stuhl neben seinem Bett saß, hielt mit einer Hand seine Arme fest. Sie drehte sich um, als Darren den in diesem kleinen Krankenhaus als Privatzimmer deklarierten Raum betrat. Die Ähnlichkeit war unübersehbar. Der gleiche dunkle Hickoryhautton, stellenweise rötlich, das schwarze Haar leicht gekräuselt und dicke, bogenförmige Lippen. Die von Mr. Page waren trocken und in den Mundwinkeln weiß verklebt; ihre waren in einem Dunkelrosa geschminkt, das stellenweise verwischt war und ihre Lippen aussehen ließ, als wären sie aufgeplatzt und bluteten. Sie blickte Darren an, registrierte den Hut und die Marke, und wandte sich wieder ihrem Vater zu, als könnte sie durch sein Fleisch und seine Knochen hindurch bis zu der Stelle sehen, wo er verwundet worden war, so als würde der Schmerz allein durch ihre Fürsorge verschwinden. »Erika«, sagte Darren, denn so hatte Margaret sie genannt, als er bei ihr zum Essen eingeladen war. Sie war Leroys jüngste Tochter. Außer dem intensiven Geruch von feuchter Haut, wo Leroy seinen blauen Krankenhauskittel durchgeschwitzt hatte, roch Darren Pfeifentabak.
Als er sich umdrehte, stellte er fest, dass er Margaret in einer hinteren Ecke des Raums übersehen hatte. Der Tabak schien ihre rötlich-braune Haut so imprägniert zu haben, dass der Geruch ein Teil von ihr war; bei ihr zu Hause war ihm das nicht aufgefallen, doch jetzt stieg er ihm deutlich in die Nase. Er war süßlich, dieser Geruch, wie von gebackenen Kirschen und feuchter Baumrinde, und Darren fand ihn irgendwie angenehm, wobei er gleichzeitig feststellte, dass Erika Margarets Spektakel ignorierte: rotblaues Tuch über den Schultern, Kopf gesenkt, während sie Worte gegen ihre eigene Brust murmelte. Sie betete inbrünstig, doch für sich allein.
»Ich glaube nicht, dass Daddy Sie hier haben wollte.« Erika blickte Margaret an, sprach jedoch mit Darren. »Sie halten ihn für einen Mörder.«
»Wieso zuckt er so?«
»Fieber«, sagte sie. »Ich habe alle zwanzig Minuten darum gebeten, dass man etwas unternimmt. Aber sie sagen, wenn es auf vierzig Komma fünf steigt, holen sie die Kühldecke.«
»Ich habe versucht, Ihrem Vater zu helfen. Ich habe ihm gesagt, dass er sich einen Anwalt nehmen soll.«
Erika trug ein schmales goldenes Kreuz um den Hals, das die Sonne reflektierte, die schräg durch das Fenster auf der gegenüberliegenden Seite des Krankenhausbettes fiel, als sie sich zu Darren umdrehte. »Mein Vater hat nichts Falsches getan. Das ist lächerlich. Mein Vater würde Lesters Enkel nie etwas tun. Er hat den Mann geliebt.«
»Darf ich Sie etwas fragen?«, sagte Darren, der sich im Stehen komisch fühlte, weil er mit seiner Größe seltsam entrückt von den anderen war. Er ging neben ihrem Stuhl in die Hocke. »Wer ist Monica Maldonado, und wieso war sie für Ihren Vater tätig?«
»Wer?«
»Hat das etwas mit dem Verkauf von Hopetown zu tun?«
»Es gibt keinen Verkauf.«
»Wirklich?«, fragte Darren. »Ihr Vater sagte mir, das Ganze wäre Ihre Idee gewesen.«
Er meinte hinter sich ein Räuspern zu hören, das Margaret in ihrem Gebet unterbrach.
»Ich meine, er hat die Papiere nicht unterschrieben. Ich habe sie oben im Haus auf seiner und Mutters Kommode gefunden. Ich weiß nicht, was los ist, aber entweder zögert er, oder er hat seine Meinung geändert …« Ihre Stimme wurde leise, als sie sich erneut ihrem Vater zuwandte. Leroys Augenlider flatterten, und das Zucken seines Körpers schien nachzulassen. »Ach, Daddy«, sagte sie.
Sie nahm ein Handtuch, das auf dem Schränkchen neben dem Bett lag, und tauchte es in einen Plastikbecher mit Wasser, um damit den trockenen Mund ihres Vaters zu befeuchten. »Jedenfalls wird er nach dem hier nicht bleiben. Mir ist egal, was da draußen passiert. Ich riskiere nicht sein Leben wegen eines Orts, der seit fünfzig, sechzig Jahren nicht einmal mehr eine richtige Gemeinde ist. Hopetown ist eine Erinnerung, eine Fantasie von etwas, das längst verschwunden ist.«
Jetzt war von Margaret, die jedes Wort mitbekam, ein Zungenschnalzen zu hören. Erika, die genug hatte, stand auf und wandte sich mit ausgestrecktem Zeigefinger an die ältere Frau. »Er wäre schon vor Jahren dort weggezogen, wenn du nicht wärst. Als Lesters schreckliche Familie sich dort breitgemacht hat, hätte er Hopetown verlassen, wenn er nicht geglaubt hätte, euch beschützen zu müssen.«
Margaret öffnete die Augen. »Dein Vater ist ein ehrenwerter Mann.«
»Mein Vater ist ein alter Dummkopf, der die Kontrolle über das Land unserer Vorfahren verloren hat.«
»Eure Vorfahren?«, sagte Margaret mit einem amüsierten Glitzern in den Augen. »Du weisst so wenig von eurer Geschichte, mein Mädchen. Deine und meine Vorfahren schulden sich gegenseitig so viel. Dein Vater versteht das.«
In diesem Moment schlug Leroy die Augen auf und setzte sich kerzengerade auf, sein Gesicht verzerrt vor Schmerz oder Schreck wegen etwas, das er vor seinem geistigen Auge gesehen hatte. Er warf die Decke zurück und riss sich den Infusionszugang aus dem Arm, und Erika schrie: »Daddy!«, als er aufzustehen versuchte. Seine Beine knickten augenblicklich ein. Darren packte ihn, damit er nicht auf den kalten Boden stürzte. Er konnte die Hitze spüren, die der alte Mann verströmte, seine Haut war so gespannt und heiß wie eine von Goodfellows Trommeln, die er draußen in der Sonne hatte stehenlassen. Leroy Page packte Darren an den Oberarmen, ob er sich abstützen oder den Ranger wegschieben wollte, war schwer zu sagen. Seine Augen waren aufgerissen und gerötet, und er blickte verzweifelt über Darrens Schulter hinweg zur Tür.
»Ich muss gehen, Junge«, sagte Mr. Page. »Ich kann hier nicht bleiben. Ich hab Dinge zu erledigen. Sie müssen mir helfen, hier wegzukommen, Junge, bevor es zu spät ist.«
Mr. Pages Bettnachbar musste geklingelt haben, denn plötzlich wurde die Tür aufgerissen, und zwei Schwestern kamen hereingestürzt, gefolgt von einem Krankenwärter, der Mr. Page vorsichtig, aber bestimmt wieder ins Bett verfrachtete und ihn so lange festhielt, bis die Krankenschwester den Zugang neu gelegt hatte. Erika sagte weinend: »Ich habe Ihnen gesagt, dass es ihm nicht gut geht. Er ist nicht bei Verstand. Das ist schon das zweite Mal, dass er abzuhauen versucht.«
Leroy hatte erneut zu zittern begonnen.
Erika legte einen Arm um seinen Körper.
Erst als das Krankenhauspersonal den Raum verlassen hatte, kam Leroy zur Ruhe. Er blickte zuerst seine Tochter und dann Margaret an, und ein friedvoller Ausdruck trat in seine Augen, sodass er fast klarsichtig zu sein schien. Darren trat vor und legte sanft eine Hand auf sein Bein. »Haben Sie gesehen, wer auf Sie geschossen hat, Sir?«
»Rosemary«, sagte er. Doch er sah dabei Darren nicht an, schien seine Frage gar nicht gehört zu haben. »Sie könnte das jederzeit beenden.«
»Was beenden, Daddy?«
Jetzt sah er Darren an. »Sie dürfen ihnen nicht trauen.«
»Wem?«, fragte Darren.
»Keinem von ihnen«, bellte der alte Mann, wobei ihm Spucke aus den Mundwinkeln quoll und wieder verschwand. »Es gibt keine Erlösung, keine Zukunft, die sie von ihren vergangenen Sünden befreit. Gib ihnen einen Quadratzentimeter, und sie reißen sich den gesamten Ort unter den Nagel.«
Darren wusste nicht, ob der abgewandelte Aphorismus ein Ergebnis von Leroys fieberndem Gehirn war oder ob er Darren etwas mitzuteilen versuchte. »Mr. Page, wer ist die Rechtsanwältin Monica Maldonado? Sie hatten ihre Visitenkarte.«
Bevor er antworten konnte, ging die Tür des Krankenzimmers erneut auf, diesmal mit solcher Wucht, dass Margaret Goodfellow nach Luft japste und ihr Gebetbuch fallenließ, das Darren nicht bemerkt hatte. Er sah, wie Erika aufstand und etwas wie ein Stromschlag ihren gesamten Körper durchzuckte und sie die Hände zu Fäusten ballte, bevor er sich umdrehte und zwei Männer in dunklen Anzügen, gefolgt von mehreren Deputys des Sheriffs, den Raum betraten. Greg wartete an der Tür und versuchte, Augenkontakt mit Darren zu vermeiden, während er dabei zusah, wie einer der Männer im Anzug – ein FBI-Agent, wie Darren begriff – Mr. Leroy Edwin Page darüber belehrte, dass er wegen Mordes an Levi King verhaftet sei. Als man ihn mit Handschellen an das Krankenbett fesselte, brach Erika über ihm zusammen. »Was ist, Kiki?«, fragte Leroy benommen. »Was ist los?« Die Agenten und Deputys umstellten das Bett des Angeklagten und drängten Darren dabei weg. Er stand schließlich an der Wand neben Margaret, das Murmeln ihres wiederaufgenommenen Gebets war eine Zuflucht inmitten des Klackens von Handschellen, Erikas Weinen, Leroys verwirrtem Stöhnen und dem wilden Piepsen des Herzmonitors.