18
Draußen hätte Darren Greg beinahe am Kragen gepackt, um ihn zur am weitesten entfernten Schwesternstation zu zerren, außer Hörweite der anderen Agenten. Sie hatten die Deputys angewiesen, Leroy in wechselnden Schichten zu bewachen. Die beiden Agenten standen direkt vor dem Krankenzimmer und telefonierten. Leroys Zimmernachbar stand auf dem Flur und bat jeden, der ihm Gehör schenkte, um ein anderes Zimmer. Darren war sich nicht sicher, wie er das nennen sollte, was er empfand. Verrat? Aber von wem? Von Greg, weil er Mr. Page verhaftet hatte? Oder von dem alten Mann, weil er vielleicht doch schuldig war?
»Wir haben die Sachen bei der Durchsuchung gefunden«, sagte Greg. »Mehrere Kleidungsstücke des Jungen, seine Unterwäsche eingeschlossen.«
Darren erschauerte bei der Vorstellung.
»Habt ihr auch Blut oder Haare oder Ähnliches von dem Jungen gefunden oder irgendwelche Tests gemacht, um zu belegen, dass es seine sind?«, fragte er in dem Wissen, dass nicht einmal das FBI so schnell einen DNA-Test liefern konnte. Diese Verhaftung fühlte sich überstürzt an, und Darren fragte sich, ob Greg von ein paar Schlagzeilen genauso viel hatte wie von einer Verurteilung. Vielleicht war das von Anfang an sein Plan gewesen. Dem sich etablierenden Trump-Justizministerium zu zeigen, dass das FBI es ernst meinte, wenn es um Verbrechen gegen das weiße Herz Amerikas ging, und dann zu hoffen, dass sie es wieder vergaßen, wenn sie die Lichtschalter in ihren neuen Büros zu finden versuchten. »Ihr habt nicht einmal eine Leiche.«
»Wir arbeiten daran«, sagte Greg. »Doch im Augenblick haben wir Pages Aussage, dass er der Letzte gewesen ist, der den Jungen lebend gesehen hat, und wir haben die Mutter und Schwester des Jungen, die bestätigt haben, dass die Kleidung ihm gehört.« Er schob die Hände in die Taschen seiner Anzughose und zog dabei die Schultern
bis auf Höhe seiner Ohren, was ihn Darren gegenüber gehemmt und unsicher wirken ließ. »Wir haben nicht darauf hingearbeitet, dass es so ausgeht, wirklich nicht, D.«
»Ach, komm schon«, sagte Darren. »Ich kenne dich besser.«
Greg sagte einen Moment lang nichts. »Hör mal, das gestern Abend …«
Darren brachte ihn zum Schweigen, bevor er den Namen seiner Frau aus Gregs Mund hören musste. Doch der Gedanke an Lisa brachte ihn auf eine Idee.
»Chafee, Humboldt und Greene.«
»Nie gehört«, sagte Lisa.
»Sie sitzen in Alexandria, Virginia, andere Niederlassungen habe ich nicht gefunden.«
Seine Frau seufzte. Er hatte sie in der Eingangshalle des Zivilgerichts von Houston erwischt, und um sie herum hallte es. Das Klacken von Absätzen, das Ping eines ankommenden Aufzugs, die Stimmen von Gerichtspersonal und Anwälten und Lisas Verdruss wegen seines Anrufs. Doch er musste zugeben, dass sie genau dort war, wo sie heute Morgen hatte sein wollen, dass ihr plötzlicher Aufbruch gestern Abend vielleicht doch nicht unter einem Vorwand geschehen war.
»Worum geht’s, Darren?«
»Es hat mit dem Fall hier zu tun«, sagte er. »In gewisser Weise.«
»Ich muss in zehn Minuten wieder im Gerichtssaal sein.«
»Ich will nur wissen, in welchem Bereich sie tätig sind, das Alltagsgeschäft der Kanzlei. Online konnte ich kaum etwas finden. Und ohne meinen Lexis-Account komme ich da nicht weiter.«
»Bin ich jetzt etwa deine Sekretärin?« In ihrem Ton lag etwas Scherzhaftes, ein Versuch, das zu kitten, was gestern Abend zwischen ihnen zerbrochen und so merkwürdig gewesen war. »Einen Moment«, sagte sie, und er stellte sich vor, wie sie sich auf eine Bank in der Eingangshalle setzte.
»Lass mich am besten nachschauen, ich rufe dich gleich zurück.«
Darren stand gegen seinen Truck gelehnt draußen auf dem Parkplatz des Marion County Hospital. Die Luft war genauso kühl wie bei seiner Ankunft in Jefferson, doch seltsam feucht, ein
Widerspruch zu den riesigen Glocken und rotgrünen Schleifen, die das Krankenhaus an den Laternen auf dem Parkplatz angebracht hatte. Es waren nur noch wenige Wochen bis Weihnachten, wo er normalerweise in Camilla sein würde. Marion County hatte für ihn nichts Heimatliches. Es war nicht sein
Osttexas. Es gab Zydeco, obwohl er Blues wollte. Blutwurst, obwohl er Hot Links wollte. Es gab Sumpfzypressen, obwohl er Pinien wollte, die ihn stets an die Ferien zu Hause erinnerten, selbst am Ende des Sommers. Er hätte das County gern verlassen, aber etwas hielt ihn dort, irgendetwas an dieser Geschichte, das nicht ins Bild passte, das an Matrjoschkapuppen erinnerte – lüfte ein Geheimnis, und du stößt auf das nächste und übernächste und überübernächste.
Er dachte daran, dass er Lisa ein Weihnachtsgeschenk kaufen musste, was ihn auf den gestrigen Abend brachte, auf Gefühle, denen er aus dem Weg gegangen war, indem er Randie Winston im fernen Europa angerufen hatte. Was war da zwischen Lisa und Greg? Sie waren seine ältesten Freunde, kannten sich seit der Highschool. Unmöglich, dass er das nicht mitbekommen hätte, wenn etwas zwischen ihnen gewesen wäre, oder? Der Hinweis war vage und den Umständen geschuldet, aber er hatte auch etwas Zwingendes. Gregs Blick, als er Lisa am Arm gepackt hatte. Das Verlangen darin. Nicht so sehr nach Sex, sondern vielmehr nach Vergebung. Wovon, wusste Darren nicht.
Als sie zurückrief, ging er beim ersten Klingeln dran.
Er unterdrückte das Bedürfnis, sie danach zu fragen, worüber sie und Greg gesprochen hatten, als er gestern Abend aus dem Steakhaus gekommen war. Stattdessen lauschte er dem Flüstern seiner Frau von dort, wo sie im Zivilgericht von Harris County saß, als würde allein die Erwähnung des Geschäftsfelds einer anderen Kanzlei gegen das Anwaltsgeheimnis verstoßen. »Chafee, Humboldt und Green ist, wie du sagst, auf allgemeines Zivilrecht spezialisiert, fast so wie meine Kanzlei. Vertragsrecht, Schadensersatzklagen, ein paar Fälle wegen geistigen Eigentums. Aber Brendan Chafee war Lobbyist in Washington, bevor er Gründungspartner wurde, weshalb ich mir höchstens vorstellen kann, dass ein Teil der Fälle der aktuellen Kanzlei noch aus dieser Tätigkeit herrührt, auch wenn es nicht aufgeführt ist.«
»Wie zum Beispiel?«
»Leute, die irgendwas von der Regierung brauchen«, sagte sie etwas atemlos, während er sich vorstellte, wie sie aufstand und ihre Sachen zusammenraffte. »Hör mal, Darren, ich muss jetzt wirklich in Casellis Gerichtssaal.«
»Was ist mit Gemeinnützigkeit? Zum Beispiel um einen historischen Ort unter Denkmalschutz zu stellen?«
»Solche Sachen finden normalerweise auf Staatsebene statt. Chafee war nur auf Bundesebene tätig, wobei er mit dem Finanzministerium, dem Ministerium für Wohnen und Städteplanung und dem Innenministerium zu tun hatte.« Sie hielt inne und machte ein nachdenkliches Geräusch. »An die würde man sich wenden, um einen Ort in Bundesbesitz schützen zu lassen. Aber ich kenne keine Kanzlei wie Chafee, Humboldt und Greene, die für eine gemeinnützige Organisation arbeitet. Sprichst du von Texas?«
»Ja.«
»Ich weiß nicht, Darren, aber ich muss jetzt wirklich los.«
»Danke, Lisa«, sagte er.
Sie hielt lang genug inne, dass er das, was sie anschließend sagte, für aufrichtig hielt: »Gern geschehen«, und leicht verunsichert fügte sie hinzu: »Wir reden später, ja?«
»Lisa«, begann er, um sie oder sich selbst zu beschwichtigen.
Doch sie hatte das Gespräch bereits beendet.
Weil er nichts anderes hatte, versuchte er die Telefonnummer oder Adresse der Marion County Texas Historical Society zu finden, doch gab es weder bei Google noch bei Bing einen Treffer, was ihn bei einer gemeinnützigen Einrichtung in einer Kleinstadt nicht wunderte. Er ließ sein Handy in seine Hosentasche gleiten und ging durch die Schiebetüren wieder ins Krankenhaus hinein. Er spürte den nach Desinfektionsmitteln riechenden Luftzug aus der Klimaanlage, während er sich auf die Suche nach einem County-Telefonbuch machte. Für Geschäftsleute in Kleinstädten war es noch immer eine Frage des Stolzes, den eigenen Namen gedruckt zu sehen, weil es einen auf eine Weise legitimierte, wie das ein Computer – zu dem auch nicht jeder Zugang hatte – einfach nicht konnte.
Hinter der Rezeption befand sich eine Reihe von
Münzfernsprechern, die durch Trennscheiben voller Fingerabdrücke voneinander abgegrenzt waren, mit kleinen Ablagefächern darunter, die mit Kaugummipapier, zerknüllten Pappbechern und einer kleinen Plastikpuppe in der Größe von Darrens kleinem Finger zugemüllt waren. Nur die letzte »Kabine« hatte ein Telefonbuch vom Marion County. Darren schlug das Firmenverzeichnis bei M auf. Er ließ seine langen Finger zweimal an den Namen entlanggleiten, die mit Ma- anfingen, doch da war nichts. Keine historische Gesellschaft war verzeichnet. Er hielt inne an der Stelle, wo Marion County Texas Historical Society hätte verzeichnet sein müssen. Er musste tatsächlich lächeln, als er einen vertrauten Namen und die kecke Geschäftsbezeichnung las: MARCUS ALDRICH’S TRUTH AND TREASURES. Der alte College-Freund seines Onkels mit einem Doktor in Geschichte verplemperte noch immer, wie Clayton sagen würde, seine Zeit in einer alten, toten Stadt.
Vielleicht aber auch nicht, dachte Darren.
Der Laden befand sich in der East Austin, hinter dem Jefferson General Store, wo es alles zu kaufen gab, von Moonshine Jelly bis zu hausgemachtem Ahornsirup, von Cowboystiefelgaloschen bis zu Bikinis mit Dixie-Flagge. Er lag auf der anderen Seite der Gleise, eingeklemmt zwischen Antiquitätenläden mit Lonestar-Flaggen und Stapeln verrosteter Sodaschilder vor den Türen, an denen Weihnachtsbeleuchtung hing, die im Rhythmus von Because of Him
von den Oak Ridge Boys, das aus den Lautsprechern in jedem Laden drang, blinkten.
Marcus’ Laden war nicht so festlich geschmückt.
Er war zu früh dran mit dem Kinara im Schaufenster, dessen rote, schwarze und grüne Kerzen trocken und verstaubt waren, weil sie bestimmt schon seit letztem Dezember draufsteckten. An den Fenstern waren ein paar vergilbte Fotos befestigt, außerdem gemalte Bilder vom See, Zeichnungen von Caddo-Indianern und frühe Fotografien von Sklaven, eine Gruppe, die vor einer kleinen Hütte stand, ihre Haut vernarbt und an den Gelenken knotig, doch abgesehen davon wirkten die Ladenfront und der Laden selbst fast leer. Darren nahm seinen Hut ab, um sein Gesicht an die Scheibe zu pressen. Drinnen sah er einen Pappkarton mit Büchern, einen Tisch
mit einem Taschenrechner, Block und Bleistift, aber keine Kasse, keinen Inhaber, kein Lebenszeichen.
Aber die Tür war unverschlossen.
Es roch nach Mottenkugeln und Weihrauch, als Darren eintrat. Eine Klimaanlage ratterte in einem der hinteren Fenster des Geschäfts – ein Wort, das in Bezug auf Marcus Aldrich’s Truth and Treasures einer Übertreibung glich. Drinnen waren noch mehr Fotos ohne erkennbare Ordnung auf dem langen Tisch ausgebreitet. Sie steckten in Plastikhüllen mit einem winzigen Aufkleber in der Ecke. Grüne, orangefarbene und blaue Punkte. Darren fächerte den Stapel Fotos wie Spielkarten auf. Sein Blick blieb an einer Dame hängen, und es verschlug ihm den Atem, und seine Kehle war auf einmal wie zugeschnürt. Die Frau auf der Daguerreotypie trug ein vertrautes, rüschenbesetztes Kleid, das um die Taille so eng geschnürt war, dass sie schlank wirkte wie ihr Hals. Er sah dunkle Augen, spürte, als er ihr zurückhaltendes Lächeln betrachtete, die gleiche Panikattacke wie in dem Moment, als sie sich über sein Bett gebeugt hatte. Bis auf die Deringer in ihrer Hand war es dieselbe Frau. Ein Geist oder Traum, wer wusste das schon, obwohl er Ersteres einfach nicht glauben wollte.
»Die Gelben kosten fünfzig«, sagte jemand.
Darren blickte auf und erkannte Marcus sofort. Sein Haar war um Einiges grauer geworden, doch er bevorzugte noch immer zerknitterte Hawaiihemden zu Wranglers und Stiefeln, die so abgetragen waren, dass Darren seine Zehen durch das honigfarbene Leder hindurch erkennen konnte. Er trug bunte Kente-Bändchen wie Armreifen an beiden Handgelenken, und er hatte einen Bleistift in die dichten Locken seines Afros gesteckt, um ihn griffbereit zu haben. Er nickte in Richtung des Fotos in Darrens Hand, das tatsächlich einen gelben Aufkleber trug, und sagte: »Die da kosten fünfzig.«
»Dollar?«, stieß Darren ungläubig hervor.
»Cent«, stellte Marcus richtig. »Die meisten Leute kommen wegen des Buchs hier rein.«
Er verwies Darren auf einen selbst veröffentlichten Band mit rotem Umschlag. Die Buchstaben des Titels waren schwarz und grün. TRUTH AND TREASURES: DAS WAHRE JEFFERSON, TEXAS, VON DR. MARCUS L. ALDRICH. Abgesehen von den zahlreichen
Exemplaren in der Kiste lagen ein paar auf dem Tisch neben der Fotosammlung. Darren nahm eins, reichte es Marcus über den Tisch hinweg und fügte hinzu: »Das hier nehme ich auch.« Er nahm das Foto des Geists. »Fünfzig Cent sind unschlagbar«, sagte er, um den Kauf eines Fotos von einer Weißen aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg herunterzuspielen. Marcus nickte und betrachtete Darrens Marke und Hut, bevor er ihm eine Quittung ausstellte. Hier konnte man nur bar bezahlen, und als er nach seiner Brieftasche griff, betrachtete Marcus Darren etwas eingehender.
»Vielleicht können Sie ja eine Widmung für meinen Onkel Clayton reinschreiben.«
Marcus’ Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen, sodass Darren seine tabakfleckigen Zähne sehen konnte. »Dacht ich’s doch, dass du das bist, Darren.«
Er kam um den Tisch herum und umarmte Darren, wobei er über den unwahrscheinlichen Zufall, ihn hier zu treffen, schmunzeln musste. »Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, bist du mit Clayton gekommen, der mir geholfen hat, meine Sachen aus der Wohnung meiner Exfrau zu holen.«
»Stimmt.« Darren lächelte bei der Erinnerung; es war eines der wenigen Male gewesen, als er allein mit Clayton auf Abenteuertour gegangen war.
»Er hat mir die ganze Zeit damit in den Ohren gelegen, dass ich meine tolle Ausbildung an der Prairie View an das hier verschwende …«
»Clayton hat ziemlich genaue Vorstellungen davon, was die Leute seiner Meinung nach mit ihrem Leben anstellen sollen.« Hatte er sich nicht ständig in Darrens eingemischt? In seine Ehe auf jeden Fall.
»Erzähl mir nichts, was ich nicht schon weiß.« Marcus sah sich in seinem winzigen Laden um, sah ihn vielleicht mit Darrens Augen – was hieß, mit Claytons. »Ich bin zufrieden hier, Mann. Ist schön ruhig hier. Mit dem Erlös aus der Scheidung konnte ich den Laden hier kaufen. Ich verkaufe meine Bücher, schreibe ein bisschen nebenbei, gehe am See angeln, wenn mir der Sinn danach steht.«
Darren hob die Hände, um zu signalisieren, dass er ihn nicht verurteilte.
Er hielt noch immer die Daguerreotypie in der Hand.
»Penelope Deschamps«, sagte Marcus. »Eine der wenigen Überlebenden eines der schlimmsten Dampfschiffunfälle in der Geschichte dieses Countys. Der Magnolia
. Wir reden über die Zeit vor dem Krieg, Jahre vor der Mittie Stephens
, das Unglück, an das sich jeder erinnert, bei dem 1872 einundsechzig Personen ums Leben gekommen sind. Wenn du mich fragst, ist das hier aber das interessantere in puncto Geschichte und Auswirkungen auf das County.« Er bot Darren ein Glas Tee an. Er hatte einen Krug davon in seinem Minikühlschrank hinten in seinem Büro stehen, und auch eine Flasche Chivas, der, wie er fand, einem Glas süßen Tee erst die richtige Note verlieh. Trotz des Morgens, den Darren gehabt hatte, nahm er nur Tee. Marcus kehrte mit einem beschlagenen Glas, das von Zucker trüb war, und einem Stuhl für Darren zurück.
Dann begann er zu erzählen.
Die wichtigsten Fakten kannte Darren bereits: Jefferson als der goldene Apfel in Texas’ Vorbürgerkriegszeit. Eine blühende Wirtschaft, ermöglicht durch Sklavenarbeit und Nutzholz – das in Osttexas schon immer eine große Rolle spielte –, aber auch durch etwas, das keine andere texanische Stadt außer Galveston an der Küste bis Mitte des neunzehnten Jahrhunderts geschafft hatte: nämlich eine erstklassige Hafenstadt zu sein, durch Dampfschifffahrten über den Caddo Lake und den Cypress Bayou hinauf bis ins Stadtzentrum. Baumwolle und andere Plantagenfrüchte aus Shreveport und New Orleans und Städten weiter nördlich am Mississippi strömten – neben Fabrikwaren wie feinem Leinen und Möbeln für die Neureichen – über das trübe Wasser des Caddo Lake nach Jefferson hinein, was nach der relativ neuen Technologie von Dampfschiffen verlangte, um der unberechenbaren Sumpflandschaft Herr zu werden, um die sich viele Jahre kein Gesetzeshüter gekümmert hatte, egal was sich in den dichten Wäldern auf den zahlreichen Inseln zutrug, die zwischen den Zypressenwäldern und blaugrünen Seerosenblättern wie kleine Städte auf dem Wasser schwammen. Die Inseln waren einst berühmt dafür, ein Refugium für Verbrecher zu sein, ein paar davon entflohene Sträflinge aus New York City, und für andere Personen, die nicht gefunden werden wollten und in diesen ursprünglichen
Wäldern mitten auf dem größten See diesseits des Mississippis Zuflucht fanden. Es gab Gerüchte über Indianer auf einer dieser Inseln, Caddos, die völlig friedlich dort lebten, jedoch dafür bekannt waren, jeden zu erstechen, der sich ihrer Insel in einem Kanu zu nähern versuchte. Darren erinnerte sich an Margaret Goodfellows Worte: Es gibt Möglichkeiten, sich unsichtbar zu machen
.
Dampfschiffe transportierten Waren, aber auch wohlhabende Passagiere, einschließlich Hunderter Bewohner von New Orleans, die irgendwo anders einen Neuanfang wagen wollten, aber mit dem kulturellen Hintergrund ihrer Heimatstadt. Dies geschah vor allem in der Zeit nach dem Krieg – als die Mittie Stephens
verunglückte –, hatte aber davor schon stattgefunden. Als die Geschichte von Penelope Deschamps begann und beinahe
geendet wäre. Sie war ein armes Ding, erzählte Marcus, geboren unter dem Namen Penny Deckard in Acadia Parish als Kind weißer Baumwollpflücker. Ihr Vater war ein frustrierter Mann, weil er die Arbeit von Niggern machte und jede Weihnachten stärker in Rückstand geriet. Er war ein Trinker, und mit nur einem Sohn, um die Felder zu bestellen, sah er in Penny nur jemanden, den es durchzufüttern galt, weshalb er nach einer Möglichkeit suchte, sie zu verheiraten. Er gab sogar Geld für Exemplare des Ladies Magazine
aus, die er bestellte, befahl Penny, sie aufmerksam zu lesen, um aus sich eine Dame zu machen. »Bei Gott, von deiner Mutter hast du in der Hinsicht nichts mitbekommen. Sie könnte dir vielleicht zeigen, wie man ein Schwein schlachtet, aber damit kommst du auch nicht unter die Haube.«
Penny war eine gelehrige Schülerin, fand Gefallen daran, sich öfter als alle zwei Wochen zu baden, steckte ihr Haar zu einem Chignon auf, ein Wort, das sie weder buchstabieren, noch aussprechen konnte – sie war praktisch eine Analphabetin und orientierte sich größtenteils an den hübschen Zeichnungen in den Magazinen –, und schon bald befahl sie ihrer Familie und den wenigen Kirchenfreunden, sie Penelope zu nennen. Weil sie keine Feldarbeit machen musste und in der Küche nicht zu gebrauchen war, begann sie, Gesundheitsspaziergänge entlang der Grenze der alten Plantage zu machen, wo ihre Familie in einer Hütte weit weg von den Sklaven lebte, die allerdings kaum größer war und den gleichen Lehmboden hatte. Sie ging vom Schulhaus der Plantage, das auch als Kirche
diente, bis zu der Königseiche neben dem großen Haus und wieder zurück, wobei sie häufig Bücher entweder als Requisite oder zur Verbesserung ihrer Haltung bei sich trug. Ihr Vater peitschte sie aus, wenn er sie mit Büchern auf dem Kopf herumlaufen sah, als würde sie wie diese verdammten Nigger das Wasser vom Brunnen forttragen. »Du hörst auf der Stelle mit diesem Unsinn auf.« Keiner wusste, bis zu welchem Grad Penelope bewusst war, was sie tat, oder wie sehr das Glück eine Rolle spielte, aber als Louis Deschamps, der Sohn des Grundbesitzers, im Winter 1857 nach nur einem Semester an der Louisiana State University zurückkehrte, warf er einen Blick auf Penelope und war augenblicklich von ihr verzaubert. Er hielt es nicht für nötig, um ihre Hand anzuhalten, und sprach vor der Hochzeit nicht mit ihrem Vater. Er teilte lediglich seinem eigenen Vater seine Absichten mit, um dessen Segen zu bekommen, und befahl Penelope anschließend, sich für den Ehestand zu rüsten.
Sie wurden im März 1858 getraut, und Penelope zog mit ihrem Ehemann in das große Haus und gebar ihm eine Tochter und einen Sohn, als Marion County geschlossen dafür stimmte, aus der Union auszutreten, und der Krieg kurz bevorstand. Der Master starb, noch bevor der erste Schuss fiel, und machte Penelope zur neuen Herrin der Plantage, auf der ihr Vater sein Leben lang geschuftet hatte. Weder Vater noch Tochter hatten Zeit, sich über die Ironie des Schicksals zu freuen, denn im Handumdrehen wurden ihr Daddy und ihr Bruder auf dem Schlachtfeld getötet, und Louis, Ehemann und Vater ihrer beiden Kinder, starb an Scharlach und ließ die junge Penny Deckard allein als Plantagenbesitzerin zurück, die zu führen sie weder die Erfahrung hatte noch über ausreichend Intelligenz oder Geduld verfügte, um welche zu sammeln. Zudem verwüsteten konföderierte Soldaten das Anwesen und beschlagnahmten das große Haus, stahlen Silber und verfeuerten Garderobenschränke und Bettpfosten. Weil sie keine Möglichkeit sah, aus dieser Sache auch nur zwei Pennies für sich herauszuschlagen, wenn sie zu lange wartete, kontaktierte sie einen Rechtsanwalt in New Orleans, verkaufte die Plantage zum Viertel des eigentlichen Werts und buchte dann eine Passage auf der Magnolia
für sich, ihre Mutter, ihre beiden Kinder und sechs ihrer bevorzugten Sklaven – einen Bruder und eine Schwester sowie deren Ehemann und Kinder, die als
Küchenhelfer und Spielkameraden für Penelopes Kinder dienten –, nachdem die anderen mit der Plantage zusammen verkauft worden waren.
Der erste Tag ihrer Fahrt verlief ereignislos, und Penelope versuchte die meiste Zeit, einen Ausweg aus ihrem Unglück zu finden. Von dem Geld konnten sie eine Weile leben, doch sie war noch immer eine recht junge Frau und wusste, dass sie sich eine neue Einkommensquelle beschaffen musste. Es war die Rede davon, einen Saloon zu kaufen, vielleicht mit ein paar Zimmern zum Vermieten. Sie und ihre Mutter gingen gerade diverse Modelle durch, die sie für realisierbar hielten, als es in der Nähe der Dampfkessel zu einer Explosion kam. Innerhalb von Minuten stand die Magnolia
in Flammen. Penelope rannte zu ihren Kindern und sah, wie brennende Männer und Frauen in das Wasser des Caddo Lake sprangen. Sie verlor ihre Mutter in den Flammen aus den Augen und konnte ihren Sohn nicht finden. Sie und ihre Tochter waren gezwungen, von Bord zu springen, und strampelten inmitten von Rauch und Flammen im Wasser, bis sie von einem Fischer gerettet wurden, der das Feuer von dem nahe gelegenen Städtchen Uncertain aus gesehen hatte. Es war der passende Name für das Land, auf dem sie jetzt standen, eine platschnasse Penelope, die eine Reisetasche mit ihrem Geld an sich drückte und ihre fünfjährigen Tochter an der Hand hielt. Ihre Mutter, ihr Sohn, die meisten Besatzungsmitglieder und anderen Passagiere waren tot, ertrunken oder in den Flammen ums Leben gekommen.
»Die Sklaven wurden ebenfalls nie gefunden«, fuhr Marcus fort. »Sie wurden für tot gehalten, aber eine Menge Leute hier in der Gegend glauben, sie sind entlaufen. Geschwommen, sollte ich wohl sagen …«
Er hielt inne, weil Darrens Telefon klingelte.
Bei den ersten beiden Malen hatte er die Nummer nicht zuordnen können, doch diesmal war es sein Lieutenant. Darren signalisierte Marcus, dass er drangehen müsste. Marcus, der spürte, dass er einen interessierten Zuhörer verlor, beugte sich über den Tisch, auf dem sein Lebenswerk lag, und teilte Darren mit: »Ich versuche nur, einen anderen Blickwinkel auf die ganze vergoldete lilienweiße Amnesie einzunehmen, die das Tourismusgewerbe in dieser Stadt hat. Das
Leben in Jefferson war für Leute wie uns immer schwer, keine ›Belles‹ und Bälle und das ganze andere Zeug. Jefferson hat sich mit den Konföderierten arrangiert und alles, was daraus folgte, wirklich verdient. Die Eisenbahn, die Marshall den Vorzug vor Jefferson gab. Die Verbreiterung des Red River, was schließlich das Grundwasser des Caddo Lake absinken ließ, sodass ihn die Dampfschiffe nicht länger befahren konnten. Das war der Todesstoß für die Stadt«, sagte er mit einer gewissen Schadenfreude. Inzwischen redete er mehr mit sich selbst, und Darren stand auf und trat ein paar Schritte beiseite.
Er nahm den Anruf entgegen.
»Das Justizministerium hat Sie gerade zu erreichen versucht«, sagte Wilson. »Sie haben die Erlaubnis, Bill King zu besuchen, aber es muss noch heute sein. Keine Ahnung, warum sie es so eilig haben, aber immerhin das konnten wir erreichen. Sie müssen um drei Uhr im Telford-Unit in Bowie County sein.«
»Das ist in einer Stunde.«
»Vermasseln Sie das nicht, Mathews. Diese Gelegenheit bekommen wir vielleicht nicht wieder.«