21
Erst als er am nächsten Morgen noch immer in den Klamotten vom Vortag aufstand, wurde ihm klar, dass er einen Fehler begangen hatte. Der Bourbon, die Tatsache, dass er nichts mehr gegessen hatte, der Anruf bei Wilson, der Deal, den er mit Bill King eingegangen war. Er bereute all das.
Er konnte sich auch nicht erinnern, ob er Randie angerufen oder ob er das geträumt hatte, jedenfalls hatte er ihr alles erzählt, hatte ihr gestanden, die Marke wegen all dem vielleicht zurückgeben zu wollen, nicht mehr genau zu wissen, für wen oder was er kämpfte, oder wie man das tat, ohne gegen jene Gesetze zu verstoßen, für deren Einhaltung zu sorgen seine Pflicht war. Und er hatte ihr gesagt, dass er sie gern wiedersehen würde. Ein Traum. Gott, er hoffte, es war nur ein Traum, dass er sich nicht einer Frau offenbart hatte, die er kaum kannte. Er fühlte sich vom Alkohol wie eingemauert, konnte nur die wenigen Zentimeter vor sich sehen und sich nur daran erinnern, wie er aufgewacht war. Alles, was davor passiert war, war nicht greifbar.
Aber die Notizblätter waren da.
Die Namen der Mitglieder des Bewährungsausschusses und seine Notizen über Sandler Gaines, ausgebreitet auf der Samtdecke, auf der er geschlafen hatte, zusammengerollt und noch immer mit den Stiefeln an den Füßen. Er las sie erneut bei Tageslicht und kippte den Rest des Jim Beam ins Waschbecken, um nicht in Versuchung zu geraten. Es war so einfach, bei Tagesanbruch brav zu sein, zu schwören, dass man keinen Tropfen mehr anrühren würde. Dann duschte er und wartete, bis er glaubte, dass die Cafés der Stadt geöffnet hätten und er irgendwo ein warmes Brötchen und einen Kaffee bekommen und anschließend zu Marcus Aldrich fahren könnte.
»Du hast also hier, wie lange, zwanzig, fünfundzwanzig Jahre
gelebt?«, sagte Darren, als er Marcus einen Becher mit schwarzem Kaffee reichte und wettete, dass der sich nichts aus dem morgendlichen Aufhebens um Sahne und Sirup machte, dann aber zusehen musste, wie er sechs Päckchen Zucker aus einem Versteck in seinem schrankgroßen Büro in seine Tasse kippte und den Kaffee mit dem Radiergummiende eines Bleistifts umrührte.
»Dreißig«, sagte er mit ungläubigem Kopfschütteln. »Ich bin hergezogen, um an meiner Dissertation zu arbeiten, was nur ein paar Monate dauern sollte, hab ein Mädchen kennengelernt und mich verliebt und bin geblieben. Bin nur noch mal für einen Tag an die Uni, um meine Dissertation zu verteidigen, und dann nach Jefferson zurückgekommen und bei Betty eingezogen.« Er trug wieder ein Hawaiihemd, bananengelb mit roten Hibiskusblüten darauf. Und er war unrasiert.
»Betty?«
»Meine Ex. Sie betreibt das Dogwood Inn auf der Bonham, eins von Dutzenden Bed & Breakfasts im Marion County. Will sagen, wir haben es gemeinsam betrieben, während ich an dem Buch gearbeitet habe. Uns war die Liebe zu Jefferson gemeinsam, aber aus unterschiedlichen Gründen, wie bald deutlich wurde … Was soll ich sagen, unsere Ehe überstand die unterschiedliche Sicht der Dinge nicht.«
»Welche war deine?«
»Dass diese ganze Stadt eine Lüge ist«, sagte Marcus, der aufstoßen musste. »Die ein Klischee aufrechterhält und Gewinne aus einem Betrug zieht, aus der Fiktion einer unblutigen Blütezeit, eines zivilisierten Vorbürgerkriegslebens, während sie die Leben vergisst, die diese Stadt erst ermöglicht haben. Ich frage dich, mein Sohn, gibt es auf einer dieser Geistertouren durch die Stadt eine Station für die Sklaven, die auf den Plantagen getötet wurden, die Männer, die gelyncht wurden? Teufel, nein«, sagte Marcus. »Es dreht sich alles um weiße Damen in Bedrängnis, die wegen verschmähter Liebhaber oder entlaufener Sklaven die Hände ringen.«
»Penelope Deschamps.«
»Dein Mädchen«, sagte Marcus scherzhaft, als wäre Darren ein Fan, der sich eine hochgehandelte Baseballkarte gekauft hatte, anstatt das Foto einer Sklavenhalterin. Er wusste nicht, warum er
das getan hatte, außer dass er sich einen Reim auf das machen wollte, was in seinem Zimmer passiert war, indem er etwas Konkretes in Händen hielt.
»Was ist das für ein Deal zwischen Rosemary King und Sandler Gaines?«, fragte Darren, womit er auf den eigentlichen Grund seines Besuchs zu sprechen kam.
»Du redest von dem Kerl, der das Ausflugsschiff in die Stadt gebracht hat?«
»Die Jeffersonian
, ja.«
»Geldgeiler Sack«, sagte Marcus und pustete in seinen Kaffee, bevor er noch einen Schluck nahm.
»Er hat eine Immobilienfirma in Longview. Scheint sauber zu sein.«
»Hast du eine Vorstellung davon, wie viele Leute hierherkommen in dem Glauben, sie könnten Jefferson seinen alten Glanz verleihen oder zumindest mit einem todsicheren Verkaufsschlager in die Tourismusindustrie einsteigen? Outlet-Center, Rennparks, Bingohallen, Casinos, Vergnügungsparks, alles wurde schon ausprobiert.«
»Rosemary King scheint Gaines in der Tasche zu haben, oder umgekehrt«, sagte Darren. »Vielleicht ist sie jemand, der etwas auf die Beine stellt.«
»Sie gibt hier den Ton an.«
»Was hat es mit dieser Marion County Texas Historical Society auf sich, die sie ins Leben gerufen hat.«
Marcus legte den Kopf schräg und verzog das Gesicht. »Nie davon gehört.«
»Sicher nicht?«
»Wir haben die Jefferson Historical Society, die Historic Jefferson Foundation und die Marion County Historical Commission, meinst du vielleicht eine von denen?«
»Nein«, sagte Darren und lehnte sich auf dem Stuhl zurück, auf dem er saß. Er spürte, wie ihm der Kaffee im Magen brannte, und fühlte sich erhitzt.
Hatte er da etwas missverstanden?
»Ist das Rosemarys Deal?«
»Die Marion County Texas Historical Society soll angeblich
Hopetown aufkaufen, draußen am See …«
»Ich weiß, wo das ist«, sagte Marcus mit ernster Miene. »Ich habe meine Dissertation über Gemeinden befreiter Sklaven in Texas geschrieben. Hopetown ist Teil eines größeren historischen Kapitels darüber, wie schwarze Freiheit aussieht.«
»Rosemary will das Land in eine Art Stiftung einbringen, zumindest ist das die Vereinbarung, die Leroy Page unterschreiben wollte.« Dokumente, die er laut Auskunft seiner Tochter nicht unterzeichnet hatte – nicht einmal, als er behauptete, nicht mehr viel Zeit zu haben. Wofür, Leroy?
»Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass die ganze Sache eine List ist, dass sie das Land Sandler Gaines geben wird.« Vielleicht im Tausch gegen eine Entlassung ihres Sohns aus dem Gefängnis. »Was ich nicht verstehe, ist, warum Leroy das tun sollte, warum jemand, der fast sein ganzes Leben getrennt von Weißen gelebt hat, ein Geschäft mit Rosemary King abschließen sollte, wo ist da die Verbindung?«
»Nun, du hast sie in deinen Händen gehalten«, sagte Marcus.
Darren blickte auf seine Hände, die, seit er hereingekommen war, nichts anderes als seinen Kaffeebecher gehalten hatten. Was Marcus zum Lachen brachte, ein kurzes, bellendes Geräusch, gefolgt von einem breiten Grinsen aus Vorfreude auf die Geschichte, die er gleich erzählen würde.
»Penelope Deschamps«, sagte er, »ist Rosemarys Ururgroßmutter. Sie kaufte das Cardinal Hotel gleich nach dem Krieg und verbrachte Jahre damit, es auszubauen, es half, als ihre Tochter einen Holzmagnaten namens William Thaddeus King heiratete. Sobald ihre Tochter unter der Haube war und ein anständiges Zuhause hatte, steckte sich Penny Deckard den Lauf einer Pistole in den Mund.«
Darren saß gefühlt minutenlang regungslos da und spürte, wie sich Tropfen auf seiner Stirn bildeten. Er erinnerte sich an Marcus’ Bericht darüber, wie Penelope von Louisiana nach Texas gekommen war, an die Tragödie, die sich auf dem See ereignet hatte, den Tod der meisten Crewmitglieder und Passagiere an Bord der Magnolia
, ihre Mutter und ihren Sohn eingeschlossen, und den Verlust ihrer Plantage. Ihre sechs verbliebenen Sklaven waren angeblich mit den anderen gestorben. Und er erinnerte sich daran, wie Marcus von den
Gerüchten gesprochen hatte, die Sklaven seien geflohen. Geschwommen
. Denn es gab Land überall auf dem Caddo Lake, wenn man es nur erreichen konnte. Margaret Goodfellows Worte über das Unsichtbarmachen fielen ihm wieder ein, wie auch Leroy Pages Worte, Margaret und ihren Leuten alles zu verdanken.
»Das glaube ich jetzt nicht«, sagte Darren.
Marcus grinste breit. »Geschichte ist schon eine witzige Sache, was? Vor allem die, die nicht in den offiziellen Geschichtsbüchern steht. Das ist es, was dein Onkel Clayton entweder nicht verstehen will oder nicht verstehen kann. Er verbringt sein Berufsleben in einem Vorlesungssaal, in einer Welt brillanter, gutgemeinter Ideen, die in der realen Welt niemals erprobt wurden.«
Darren glaubte nicht, dass seit Onkel Williams Tod irgendjemand Claytons behütetes Dasein in der akademischen Welt kritisiert hatte. Trotz des seltsamen Gefühls von Stolz in der Brust hätte er Marcus eigentlich tadeln müssen. Man konnte über Darrens Ringen mit dem, was ihm die Marke bedeutete, sagen, was man wollte, doch zumindest stellte er sich dieser Frage tagtäglich.
»Dann gab es also Caddos auf einer der Inseln auf dem See?«, fragte er.
»Gogo Island«, sagte Marcus und nickte. »Benannt nach dem, was die Leute von den dort lebenden Indianern zu hören bekamen, wenn sie auf die Insel zu gelangen versuchten. Go-go-Rufe, sie sollten verschwinden. Gefolgt manchmal von einem Pfeil oder einem Schuss aus einer Pistole, die sie sich irgendwann besorgt hatten. Sie handelten sogar mit Weißen, die dort draußen auf dem Wasser lebten und ihr Geheimnis hüteten, Bewohner mit einer Leben-und-leben-lassen-Mentalität. Erst ein Führungswechsel in Austin verursachte den Ärger. Ja, die Indianer nahmen Penelopes kleine Sklavenfamilie auf. Die Alten in Hopetown, die ich zum Teil selbst befragt habe, äußersten sich offener darüber, wie die Caddos eine den Umständen geschuldete Versippung mit den Schwarzen beurteilten, es war ein ähnliches Verständnis wie ihr Verständnis von Freiheit, nämlich nicht aus ihrer Heimat auf Indianerterritorium in Oklahoma verfrachtet zu werden, während es für die Schwarzen bedeutete, nicht wieder in der Sklaverei zu landen.«
Die Sklaven blieben jahrelang, vermittelten ihre Kenntnisse in
Ackerbau und lernten, mit einfachsten Mitteln Unterkünfte zu errichten. Sie teilten viel, und natürlich gab es auch eine Vermischung, neue Stammbäume entstanden und führten zu einer Liebe und einem Vertrauen, das über fünf Generationen hinweg bestand. »Sie verdanken sich gegenseitig alles.« Weshalb Leroy Page alles für Margaret und ihre Familie tun würde.
»Doch im Spätsommer 1865, als die Nachricht die Insel erreichte, dass der Krieg zu Ende sei, wollten viele der ehemaligen Sklaven die Insel verlassen, was für die Caddos damals keine Option war. Neu entstandene Familien wurden auseinandergerissen, als die Schwarzen dorthin zogen, wo sich heute Hopetown befindet, nachdem sie schließlich vom Homestead Act Gebrauch gemacht hatten, um das Seegrundstück zu erwerben. Doch sie lieferten weiterhin Vorräte nach Gogo Island, beschützten die Indianer weiterhin vor der Außenwelt. Das waren Leroy Pages Vorfahren. Und mit der Zeit entstand eine blühende Gemeinschaft, die vollkommen unabhängig von der weißen Welt existierte. Es gab eine Schule, eine Kirche, eine kleine Bank, einen Gemeinschaftsgarten und kleine Geschäfte. Jahrelang gingen sie nur dann nach Jefferson, wenn es absolut notwendig war, um Papiere einzureichen oder Waren zu erwerben, die sie weder anbauen noch allein in Hopetown herstellen konnten. Die Alten erzählten mir, dass es eine tiefsitzende, vielleicht gar nicht so irrationale Angst gab, dass man ihnen ihr Leben erneut wegnehmen könnte. Auch wenn der Krieg zu Ende war, hatten sie ein Verbrechen begangen, und sie waren sich nicht sicher, ob Penelope Deschamps und ihre Leute das so leicht vergessen würden. Keiner gibt gerne zu, welche Angst bereits von Anfang an in Hopetown eingepflanzt war, das Gefühl, dass ihre Freiheit so zerbrechlich war wie eine Eierschale, etwas, das kaputtgehen würde, wenn man zu fest drückte, wenn es nicht mit größtmöglicher Sorgfalt behandelt wurde.«
»Aber wie sind die Caddos ebenfalls dorthin gekommen?«, fragte Darren.
»Der Caddo Lake war damals vollkommen verwildert, ein Tummelplatz für alle möglichen Kriminellen, Rumschmuggler, Diebe und Mörder, aber das texanische Gesetz konnte nicht viel dagegen ausrichten, oder hat es nicht getan. Doch als der Staat Ende des
neunzehnten Jahrhunderts die sogenannte Fischerei- und Jagdkommission berief, versuchte man, das Überfischen von Seewolf und Barsch sowie auch jene Menschen zu stoppen, die damit begonnen hatten, ein Vermögen mit Austernperlen zu verdienen, bis kaum noch welche übrig waren. Auf einmal gab es Gesetzeshüter auf Booten, die sämtliche Bayous, Inseln und Zypressen auf dem See unter die Lupe nahmen. Es war Pages Familie, die die Caddos von Gogo Island wegbrachte und ihnen anbot, sich in Hopetown niederzulassen. Das ist eine einmalige Geschichte. Ich glaube ihnen, wenn sie sagen, sie stammen von dem Zweig der Hasinai-Caddo-Indianer ab, die trotz der Gesetze des weißen Mannes den texanischen Staat nie verlassen haben.« Marcus schlug sich, mit dem Ende seiner Geschichte zufrieden, aufs Knie.
»Also ist der Verkauf an die Stiftung …«, sagte Darren, »sofern es stimmt …«
»Großes Fragezeichen.«
»Auf diese Weise hätte Leroy also seine Vorfahren gewürdigt, diejenigen, die von Margaret Goodfellows Familie gerettet worden waren. Indem er dafür gesorgt hätte, dass die Caddos dort ein Zuhause bekämen, wo sie schon immer hingehörten, in diesen Teil von Osttexas. Er hätte Rosemary das Versprechen abgenommen, dass das ein Teil des Deals wäre.«
»Aber du glaubst, dass Gaines sich das Land unter den Nagel reißen will?«
»Ja«, sagte Darren. »Er hat zugegeben, dass er es kaufen wollte und überboten wurde.«
Marcus saugte an seinen Zähnen und stand plötzlich auf. Er ging zu den Fenstern der Ladenfront und blickte hinaus zu den Gleisen.
»Es ist eine Schande, so viel Geschichte an eine Uferbebauung zu verlieren.«
Darren schüttelte den Kopf. Für ihn klang das nicht länger glaubhaft. »Er baut also Ferienwohnungen, und die Leute geben sechzig-, siebzigtausend Dollar dafür aus, um am Wasser zu wohnen und in der Stadt Geister zu jagen? Da muss eine größere Attraktion dahinterstecken.« Er dachte an den Dampfschiffnachbau, der am Cypress Bayou lag. Was hatte in der Broschüre gestanden? Sehen Sie sich Jeffersons neueste Attraktion an
oder so ähnlich. Er sah die
Broschüre vor sich, das schlechtgemachte Foto. Ein lächelndes Paar, das sich vor dem Sonnenuntergang auf dem Cypress Bayou zuprostete. Doch es hatte auch Bilder von Black-Jack-Tischen und Rouletterädern gegeben. Darren erhob sich ebenfalls.
»Du hast zuvor Casinos erwähnt«, sagte er.
»Das sind nur Gerüchte«, sagte Marcus. »Wie gesagt, die Leute haben alles Mögliche ausprobiert, um Besucher aus Dallas oder Shreveport mit etwas anderem als historischem Tourismus nach Jefferson zu locken. Aber daran habe ich nie geglaubt. Glücksspiel ist in Texas verboten, seit ich denken kann.«
»Stimmt«, sagte Darren. Bislang
.