23
Rosemary und Leroy hatten eine Abmachung getroffen, doch keiner bekam, was er wollte. Sie wollte ihr Casino und dass ihr Sohn Bill aus dem Gefängnis kam; er wollte, dass Margaret Goodfellow und die Mitglieder ihrer Familie einen gesicherten Anspruch auf das Land hatten.
Und jemand, so glaubte Darren, war zwischen die Fronten geraten.
Als er das Krankenzimmer von Mr. Page im Marion County Hospital erreichte, war Greg vor der Tür postiert, wo er auf einem Stuhl saß und ein Tablett auf Rädern aus einem anderen Zimmer als provisorischen Schreibtisch nutzte. Es waren noch mehr Agenten anwesend, außerdem die Deputys, die schon während der Verhaftung da gewesen waren. Einer von ihnen aß eine Packung Chuckles aus einem der Verkaufsautomaten. Der andere spielte Candy Crush auf seinem Handy. Es war Greg, der aufstand und sich vor die Tür stellte, als Darren hineingehen wollte. Durch das kleine Fenster in der Tür konnte er sehen, dass der alte Mann noch immer mit Handschellen ans Bett gefesselt war und Erika bei ihm saß, die noch gequälter aussah als zuvor und sich mit einem Taschentuch die Augen wischte.
»Du darfst da nicht rein«, sagte Greg. Er sah Darren mit der typisch selbstsicheren Pose eines FBIlers an, doch im Grunde waren sie nur zwei Freunde, die sich anstarrten und von denen der eine den anderen verdächtigte, mit seiner Frau geschlafen zu haben. Greg spürte die Anschuldigung. Sie lag bleiern in der Luft, doch beide weigerten sich, sie zur Kenntnis zu nehmen.
»Ich muss mit ihm reden. Wir haben vielleicht nicht viel Zeit.«
»Er liegt im Koma.«
Greg stieß Darren sanft zurück. »Nur Familienmitglieder sind zugelassen. Ich darf dich da nicht reinlassen«, sagte er. Als er Darrens verzweifelten Gesichtsausdruck sah, fügte er hinzu: »Was ist los, Darren? Quinn sagt, du hättest irgendwas von einer verschwundenen Frau erzählt, jemand, den du zusammen mit Sandler Gaines gesehen hast.«
»Es hat etwas mit dem Verkauf zu tun. Die ganze Sache hat damit zu tun.«
»Was meinst du?«
»Der Junge ist noch immer am Leben.«
Erst als er es laut aussprach, wusste er, dass es stimmte.
Greg blickte zu den anderen Agenten und Gesetzeshütern und flüsterte dann, als schämte er sich irgendwie für Darren: »Bist du high?«
»Der alte Mann hat ihn als Druckmittel bei den Verhandlungen benutzt. Idiotisch, ja, aber er ist irgendwo da draußen, und wir müssen ihn finden. Wieder wollte er nach dem Türdrücker des Krankenzimmers greifen. Aber Greg packte ihn am Arm und zerrte ihn diesmal ein paar Meter den Flur entlang, außer Hörweite der Agenten in ihren schwarzen Anzügen, die jetzt zerknittert und verschwitzt waren.
»Darren, ich habe den Mann gerade wegen Mordes vor einem Bundesgericht angeklagt.«
Aber wenn Levi am Leben wäre und zurückkäme, dachte Darren, ginge Leroy nicht ins Gefängnis. Genau das war es, worauf Rosemary wartete, darauf, dass Mr. Page zur Vernunft kam, was den Verkauf betraf, wobei sie gar nicht wusste, dass er in kritischem Zustand war.
Er schlug mit der Handfläche an die Krankenhauswand. »Greg, dieses Kind lebt, und wir müssen es finden.«
»Ich mache mir Sorgen um dich, Darren«, sagte Greg und beugte sich weit genug vor, um seinen Atem zu riechen. Darren wusste, dass er einen seltsamen Eindruck erweckte. Noch immer klebte getrocknetes Blut an seinem Mund. »Wir haben die Sachen des Jungen in seinem Haus gefunden. Was ist nur los mit dir? Was ist mit deinem Gesicht passiert?«
»Ihr könnt die DNA-Analyse gar nicht so schnell zurückbekommen haben.«
»Aber wir vertrauen darauf, dass die Mutter und die Schwester die Kleidungsstücke identifizieren. Die Sachen, Hemd und Shorts … Unterwäsche, sind gewaschen worden. Der Mann hat sie tatsächlich zusammengefaltet auf seine Waschmaschine gelegt. Der Mistkerl hat geglaubt, er kann Spuren verwischen.«
Darren hatte auf einmal das Bild der Dutzenden von fertig zubereiteten Sandwiches in Leroys Kühlschrank vor Augen, das war an dem Tag, als er von einem Angelausflug ohne Fisch zurückgekommen war, Hosenbeine durchnässt bis zu den Knien, als wäre er irgendwohin gewatet. Und Greg hatte gerade gesagt, dass sie die Sachen des Jungen gewaschen und zusammengelegt vorgefunden hatten. Margaret hatte recht gehabt, er hatte dem Jungen nichts getan. Er kümmerte sich um ihn.
Darren glaubte zu wissen, wo. Er ließ Greg mit offenem Mund stehen. Dann rannte er so schnell er konnte zu seinem Truck und brauste in Richtung Eisenbahngleise und dem Truth and Treasures Shop davon.
»Ich brauche eine Karte«, sagte er zu Marcus. »Gogo Island. Wo ist das genau?«
Marcus, der mit den Füßen auf dem Tisch dagesessen und einem Podcast auf seinem Handy gelauscht hatte, während er neue Fotos in Plastikhüllen steckte, griff in die Kiste auf dem Boden und holte ein Exemplar seines Buchs heraus. Er blätterte die Seiten durch, bis er auf eine grobe, von Hand gezeichnete Karte des Caddo Lake stieß, die bei weitem nicht so beeindruckend war wie diejenige, die ihm Sheriff Quinn bei ihrer ersten Begegnung gezeigt hatte. Er riss sie aus dem Buch heraus, als wäre es eine heroische Tat.
Es war unmöglich, den Maßstab zu ermitteln; es war nicht einmal der gesamte See abgebildet, nur das Ufer auf der Seite von Harrison County, die Docks in der Nähe des Örtchens Karnack und ein Teil von Goat Island, der größten Insel auf dem See, und Horse Island. Zwischen diesen beiden befand sich der sogenannte Back Lake, und Darren erinnerte sich daran, dass das Gewässer dort draußen so weitläufig und urwüchsig war, dass die Leute es gedanklich unterteilten, um es überhaupt fassbar zu machen. Der Back Lake strömte schließlich in den Clinton Lake, an dessen Ufer Hopetown im nordöstlichsten Bereich des Sees lag, der noch zu Texas gehörte.
Marcus legte irgendwo in dem vielen Blau seinen Finger auf eine Stelle, die laut der Karte die Form und Größe einer Wachsbohne hatte.
»Das ist sie«, sagte er mit leiser, fast ehrfurchtsvoller Stimme. »Von allen Seiten von hohen Pinien und Hickorys umgeben, sodass man kaum mitbekam, was dort vor sich ging. Aber das ist sie. Gogo.«
»Hast du eine andere?«, fragte Darren und schüttelte den Kopf, als Marcus nach einem weiteren Buchexemplar griff. »Keine größere Karte, etwas, das man Touristen und Anglern mitgibt. Mit den beiden Karten kann ich sie wahrscheinlich finden.«
»Wie willst du da hinkommen?«
Das musste noch geklärt werden. Unterwegs hatte Darren dreimal Sheriff Quinn angerufen – und dreimal die gleiche Nachricht hinterlassen, dass er nämlich mit dem Wildhüter in Kontakt treten müsse. Der Sheriff hatte noch nicht zurückgerufen, und Darren musste wohl langsam akzeptieren, dass das verbrannte Erde war. Also rief er seinen Lieutenant in Houston an. »Mathews«, bellte dieser, sobald er den Hörer abgenommen hatte. »Wieso bekomme ich Anrufe von Frank Vaughn? Sie haben den Bill-King-Fang nicht erwähnt, oder?«
»Nein.« Hatte er nicht.
Und seine Mutter hatte auch nicht zurückgerufen.
»Gut, denn ehe das nicht schriftlich fixiert ist und ein Notar sein Geständnis bezeugt hat, gehen unsere Fälle niemanden was an. Frank und sein Team in und um Coldspring arbeiten inzwischen fast zwei Monate daran, und ich will das in Sack und Tüten haben, bevor ich ihm mitteile, dass wir den Mörder gefasst haben und den Fall von hier aus bearbeiten.«
»Ich will das Gleiche.«
»Vielleicht finde ich ja noch heraus, was er will«, sagte Wilson. Er stöhnte leicht auf und nahm dann einen Schluck von etwas auf seinem Schreibtisch. Darren stellte sich eins der Gebräue seiner Frau vor. Buttermilch mit pürierten Bohnen vielleicht. »Sind Sie auf dem Weg nach Houston? Ich vermute, Sie haben die Gastfreundschaft in Marion County überstrapaziert.«
»Wir suchen noch immer ein vermisstes Kind.«
Wilson rülpste Darren ins Ohr. »Ich kann Ihnen nicht folgen. Steve Quinn sagte mir, sie hätten jemanden verhaftet, einen von den langjährigen Bewohnern Hopetowns.«
»Ich glaube, der Junge ist noch am Leben, und ich brauche den Wildhüter, damit jemand mit mir auf den See hinausfährt.«
»See?«
»Er ist irgendwo dort draußen, Sir. Auf einer der Inseln, ich bin mir ziemlich sicher. Eine Insel, die mit der Geschichte von Hopetown zu tun hat. Ich glaube, der alte Mann hat ihn als Druckmittel benutzt, damit Rosemary King die Vertragsbedingungen ändert.«
»Mathews, sind Sie sicher …«
»Ich bin hier draußen auf ein Schlangennest gestoßen. Auf Diebe und Lügner. Und ich glaube, dass Leroy Page eine fehlgeleitete Vorstellung davon hat, wie die Dinge zu korrigieren sind, also hat er sich den Jungen geschnappt. Eine Frau ist ebenfalls involviert, eine Frau, die verschwunden ist, eine Anwältin, die mit dem Verkauf befasst war, und ich glaube, dass Rosemary King etwas damit zu tun hat.«
»Mein Sohn«, sagte Wilson. Es passierte nur selten, dass er ihn nicht mit Ranger ansprach, obwohl ihm ab und zu auch ein Darren entschlüpfte, weil Fred Wilson und William Mathews enge Freunde gewesen waren, als sie gemeinsam im Department gedient hatten. Doch das Mein Sohn hier war sanft wie eine Liebkosung, von der Sorte, die in dieser Gegend häufig von einem Du liebe Güte gefolgt wurde. Aber Wilson versuchte etwas zu vermitteln, womit Darren nicht gerechnet hatte. Vertrauen. »Ich bin nicht vor Ort und kann das Ganze nicht beurteilen, doch wenn Sie mir sagen, Sie glauben, dass irgendwo da draußen ein Kind ist, werde ich Sie bestimmt nicht daran hindern, das zu überprüfen. Nur werde ich vom Marion County bestimmt keine Unterstützung bekommen. Geben Sie mir ein, zwei Stunden, um ein paar Anrufe zu tätigen; ich finde heraus, welches unserer Regionalbüros Zugang zu einem Boot hat, das wir Ihnen zur Verfügung stellen können.«
»Wir haben keine Zeit. Es sind fast sechs Tage.«
»Glauben Sie, er ist in Gefahr?«
»Auch wenn es seltsam klingt, aber ich glaube, dass Leroy ihn versorgt hat, obwohl er offen gesagt hat, ihn nicht leiden zu können.« Leroy war ebenfalls in Gefahr, denn er würde ins Gefängnis wandern, wenn niemand den Jungen fand, bevor er da draußen starb, jetzt, wo der frühere Angelkumpel seines Großvaters nicht mehr da war, um ihm Essen und Wasser zu bringen.
Darren sagte: »Es wird Zeit, dass er wieder nach Hause kommt«, und beließ es dabei.
»Tun Sie, was Sie für richtig halten. Sie haben meine volle Unterstützung.«
Solche Worte hatte er von Wilson noch nie gehört – und natürlich war ihm in den Sinn gekommen, dass er, um ein weißes Kind zu retten, bei den Leuten vor Ort uneingeschränkte Vollmacht bekam und damit Wilson in der Tasche hatte. Wut flammte kurz in seiner Brust auf. Glaubte er, dass der vermisste blonde Junge Wilson Feuer unterm Hintern gemacht hatte? Ja . Bedeutete das, der Junge brauchte seine Hilfe nicht mehr? Nein . Konnte er dafür sorgen, dass Leroy nicht ins Gefängnis kam? Ja .
Er nahm die herausgerissene Karte und eine für Touristen, die Marcus im Laden hatte, steckte beide in seine Hosentasche und ging zur Tür. Er bemerkte gar nicht, dass Marcus hinter ihm war, bis er draußen auf dem Gehsteig stand und hörte, wie dieser die Ladentür abschloss. Er drehte sich um.
»Ich komme mit«, sagte der ehemalige Zimmergenosse seines Onkels.
»Was?«
»Ohne mich findest du die niemals«, sagte Marcus und schlüpfte in die Ärmel einer kunstledernen roten Bomberjacke. Er legte Darren eine Hand auf die Schulter, als wären sie Partner in einem großen Abenteuer, als würde er sich gleich wunderbar amüsieren.
Marcus erzählte ihm, dass sie am Kai von Karnack in der Nähe des Big Pines Lodge Restaurants einen Haufen Boote finden würden – was er nicht erwähnte, war, dass sie bis zum letzten vollbesetzt mit Touristen waren, die für viel Geld bei einer der fünf Ausflugsfirmen Tickets erworben hatten. Sie betrieben ihr Geschäft von kleinen Hütten aus, die wie gammelige Zähne in einem Halbkreis hinter dem Restaurantparkplatz standen. In der Luft lag der Geruch von Bootsdiesel von den tuckernden Motoren und fettiger Abluft aus der Restaurantküche – wo alles, vom Alligator über den Wels bis hin zum Maismehlbällchen, in einem Bottich mit erhitztem Öl um sein Leben schwamm.
Die Boote waren hauptsächlich Pontons, von denen jeder zwischen zehn und achtzehn Personen befördern konnte. Darren setzte einen Fuß auf den Rand des nächsten Boots. Er ließ eine Hand an seiner Pistole, zog sie jedoch nicht aus dem Holster, weil das genügen würde. »Alle runter vom Boot.« Der Bootsführer war ein wettergegerbter Weißer, der nur aus Haut und Knochen zu bestehen schien und wie aus Stein gemeißelt wirkte, was ihn gleichzeitig verwundbar und furchterregend aussehen ließ. Er trug die Haare an den Seiten rasiert, sein Vokuhila war von der Sonne gebleicht. Er drängte sich zwischen den zahlenden Kunden hindurch zum Heck, um herauszufinden, was zum Teufel los war. »Draußen auf dem See ist ein vermisstes Kind, und uns bleibt nicht viel Zeit.« Der Bootsführer sah Darrens Hand auf seinem 45er Colt. Er sah auch die Marke. In seinen Augen blitzte es – Seemannspflicht, hoffte Darren. »Das ist ein Notfall. Sie müssen von Bord gehen.«
Ein Kleinkind begann zu schreien, als der Kapitän die Leute vom Boot scheuchte, wobei er die Erstattung des Tickets und eine Freifahrt versprach. »Auf uns.« Marcus war am Steg geblieben und reichte den Passagieren die Hand, als sie nörgelnd das Boot verließen, wobei die Frauen die Kinder fest an sich drückten. Sobald das Boot, die Blue Heron , leer war, kletterte Marcus zu Darren hinüber. Er legte zwei Rettungswesten übereinander an, während Darren die Karten aus seinen Taschen zog und dem Kapitän befahl, nördlich den schmalen Cypress Bayou entlangzufahren, der die Verbindung zum Carter Lake war, der wiederum zum Back Lake und nach Goat Island und dann zum Punkt auf der Karte führte, auf den Darren zeigte. »Gogo Island«, sagte er.
Der Kapitän ging zum Bedienfeld des Motors. Es befand sich in der Mitte des Boots, mit Sitzplätzen darum herum, damit die Touristen freie Sicht hatten. Darren ließ die Karte beim Kapitän – Jim, hatte er gesagt, sei sein Name – und stellte sich in den Bug des Boots, wo ihm die Metallreling gegen den Hüftknochen drückte. Marcus hatte kein Wort gesagt, seit sie losgefahren waren. Er hatte sich auf die Bank im Heck gesetzt und rührte sich nicht. »Nie davon gehört«, sagte Jim. »Aber man kann selbst nach fünfzig, sechzig Jahren hier nicht jede Insel, jeden Bayou, jeden Unterstand und jede Schmugglertruppe kennen, die sich früher mal in den Wäldern versteckt haben. Ich wette, es gibt Zeug hier, das würde nicht einmal Gott mit einer Karte finden.«
»Wie wär’s mit ein bisschen mehr Optimismus?«, sagte Darren, dem die zynische Grundhaltung des Mannes nicht gefiel. Schließlich sollte er ihm helfen, ein Kind zu finden. Er fragte Jim, ob sie nicht einen Zahn zulegen könnten, und beugte sich dann nach hinten, um Marcus zu fragen, ob das so in Ordnung war. Ob sie in die richtige Richtung fuhren. Marcus hatte ihn entweder nicht gehört, oder war ängstlicher, als Darren anfangs bewusst gewesen war. Seit sie in Karnack abgelegt hatten, hatte er noch kein Wort gesagt. »Ich mein’s ernst«, sagte er zum Kapitän. »Ich will Sie nicht nerven, aber könnten wir ein bisschen schneller machen?«
»Wir fahren durch einen Zypressenwald«, erwiderte Jim. »Wenn wir da durchrasen und gegen eine der Kniewurzeln donnern, die aus dem Wasser ragen, werden wir ziemlich wahrscheinlich das Boot beschädigen. Glauben Sie mir, Sie möchten hier nicht festhängen, wenn die Sonne untergeht. Man nennt es ›eine Nacht im Caddo Motel verbringen‹. Sie haben die direkteste Route rausgesucht, aber auf dem Weg könnte Einiges schiefgehen.«
Marcus hinter ihm gab ein Geräusch von sich, das wie ein panischer Schluckauf klang.
Der Himmel hatte sich noch nicht einmal zu dem aschigen Violett verfärbt, wie er es in der Dämmerung tat. Sie hatten noch mindestens zwei Stunden Tageslicht, schätzte Darren. Er konnte das seltsame Gebaren des Kapitäns nicht verstehen, die kaum verhohlene Freude, die er aus einer angespannten Situation zu ziehen schien, die er nicht unter Kontrolle hatte. Darren hatte sogar den Eindruck, dass er hinter seinem zotteligen Schnurrbart grinste. Er wollte dem Kerl gerade sagen, dass er gefälligst Vollgas geben sollte, als sie in den Zypressenwald hineinfuhren. Jim drosselte den Motor auf Schritttempo und lächelte tatsächlich, wie Darren jetzt sehen konnte, strahlte sogar. »Da ist sie.«
»Mein Gott«, flüsterte Marcus. In dem Wald, durch den sie glitten, gab es bis auf das Schwappen des Bayouwassers gegen die Bootswand kein Geräusch, keine Welt mehr jenseits des Caddo Lake. Darren hatte so etwas noch nie gesehen. Zypressen, deren Stämme Röcke trugen wie schüchterne Tänzerinnen auf einem Kirchenfest, jedoch genug Platz für Gott ließen, genug Platz für Jim, damit er sich zwischen ihnen hindurchschlängeln konnte, und die zu einem Himmel aufragten, der nun doch langsam dunkel wurde. Das, zusammen mit dem Spanischen Moos, das von den Bäumen hing, bildete über dieser heiligen Zufluchtsstätte auf dem Wasser eine Art Baldachin.
Die drei Männer fuhren schweigend eine gefühlte Ewigkeit dahin.
Es war pure Anmut, durch einen Wald mit Bäumen zu fahren, die älter als die Zeit waren, Bäumen, die gegen Eindringlinge von außen Schutz boten, gegen jeden Mann und jede Frau, die die Geschichte des Sees nicht respektierten, die nicht respektierten oder verstanden, dass dieser schon hier gewesen war, bevor Amerika überhaupt existierte, bevor Mexiko und Spanien sich einen Teil davon nahmen, bevor es Frankreich ebenfalls versuchte, bevor Texas mehr als ein freundliches Wort auf den Lippen eines Caddo war. Tayshas .
Als sie aus dem Wald heraus auf das offene Gewässer des Carter Lake fuhren, war Darren froh, ein paar Sonnenstrahlen hinter Wolken zu erhaschen, die von Osten heranzogen. Wenn sie hier nicht schnell genug durchkämen, würde entweder die Nacht hereinbrechen, oder sie würden in einen Sturm geraten. Auf der Wasserstraße nahm Jim wieder Fahrt auf, wie Darren ihn gebeten hatte. Sie fuhren in den Back Lake ein, an Horse Island und dann am südlichen Ufer von Goat Island entlang, das sich über mehrere Meilen erstreckte, und dann näherte sich die Blue Heron dem Gebiet, das auf Marcus’ Karte als Gogo Island verzeichnet war. Darren suchte das Wasser vor sich ab und blickte hinüber zu der Gruppe von Pinien, die aus dem Wasser aufzuragen schienen, jedoch mehr einem Schutzwall um ein Stück Land glichen, das immer größer wurde, je näher das Boot kam. Darren wandte sich zu Marcus um, der hinten noch immer reglos auf seinem Platz verharrte.
»Ist sie das?«, fragte Darren.
Marcus sagte nichts. Darren winkte ihn zu sich. »Ist das die Insel?« Als Marcus unsicher den Kopf schüttelte, schrie ihn Darren an, er solle aufstehen und vorne rausschauen. Jim hatte bereits den Motor gedrosselt, während sie sich einer Stelle näherten, wo das Land knapp einen halben Meter aus dem Wasser aufragte. Darren stieß Marcus gegen die Reling.
»Ich weiß nicht, Mann«, sagte Marcus.
»Was soll das heißen, ich weiß nicht?«
»Ich habe sie noch nie gesehen.«
»Hast du mich etwa angelogen?«
Mit einem verlegenen Schulterzucken sagte Marcus: »Ich kann nicht schwimmen.«
Trotz der beiden Rettungswesten klammerte sich Marcus so fest an die Reling, dass Darren jeden Kratzer und jede Falte auf seinen Fingerknöcheln sehen konnte. Er sah im Augenwinkel einen Blitz, gefolgt von einem kanonenartigen Donner. Ein Sturm zog auf. »Wenn Sie das wirklich machen woll’n«, sagte Jim, »dann ist jetzt der Moment.«
Marcus riss dem Kapitän seine Karte aus den Händen. Er betrachtete sie eine Weile und blickte dann zu dem offenen Kanal hinter ihnen, durch den sie gekommen waren. Er nickte weniger entschieden, als Darren lieb war, und sagte: »Das ist sie.« Sekunden später gefolgt von einem: »Müsste sie sein.«
»Ich kann mit diesem Ding nicht ans Ufer ranfahren«, sagte Jim zu Darren. »Bis hierher und nicht weiter.«
Darren nickte und schickte sich an, über die Reling zu klettern. Er würde schwimmen oder waten und eine Baumwurzel finden müssen, an der er sich hochziehen könnte. Doch gerade als er hinüberklettern wollte, hörte er Marcus seinen Namen rufen und spürte plötzlich einen Arm um den Hals. Es war Jim, dessen steinharte Knochen Darrens Luftröhre zudrückten. Schlimmer noch, er spürte, wie seine linke Körperseite leichter wurde, und wusste, dass sich der Mann seine Pistole geschnappt hatte. Er begriff nicht, was los war, bis seine Augen, die beim Versuch zu atmen hervortraten, das Tattoo auf dem Handgelenk des Kapitäns entdeckten.
Eine winzige Dixie-Flagge.
Jim flüsterte ihm ins Ohr: »Sie denken wohl, dass Rosemary nichts hat verlautbaren lassen. Bill Kings Mutter kann stets auf unsere Hilfe zählen.«
»Er hat sich von der Bruderschaft abgewandt.«
»Was heißt das?«, fragte Jim und schlang seinen Arm fester um Darrens Hals.
»Lassen Sie ihn los«, sagte Marcus schwach.
Darren hörte Jim an seinem Ohr lachen. »Die Bruderschaft gilt auf Lebenszeit.«
»Der Junge«, krächzte Darren.
»Wenn das nicht irgendso’n Niggerzauber ist, irgend so ’ne Schwachsinnsgeschichte über Indianerinseln, und wenn Bill Kings Junge wirklich in dieser schwimmenden Wildnis ist, schnapp ich ihn mir.«
Plötzlich hörte Darren einen leisen metallischen Schlag.
Er spürte, wie sich der Druck um seinen Hals löste.
Als er sich umdrehte, sah er Marcus mit dem Feuerlöscher des Bootes in der Hand, mit dem er den Kapitän außer Gefecht gesetzt hatte. Oh Scheiße, nein . Darren nahm ihn in Augenschein und stellte fest, dass er noch immer atmete. Er nahm Jim die Waffe aus der Hand und reichte sie Marcus, der Angst davor hatte, sie zu berühren. »Was hast du noch mal über meinen Onkel gesagt, dass er die akademische Welt der realen vorziehen würde? Nun, realer wird’s nicht.«
Marcus nahm die Waffe, und Darren sagte ihm, dass er ihr Leben in Händen halte, bevor er über den Bootsrand sprang. Das Wasser war viel tiefer, als Sheriff Quinn behauptet hatte, jedenfalls hier draußen auf dem offenen Wasser. Er bewegte sich Wasser tretend am Ufer entlang, während er nach etwas Ausschau hielt, woran er sich an Land ziehen konnte. Schließlich trat er auf eine Zypressenwurzel, die hoch genug war, um den Stamm einer Eiche zu erreichen, die zwischen zwei Pinien stand. Sie war schmal genug, um seine Arme um den gesamten Stamm zu schlingen. Er zog sich hoch auf Gogo Island.
Zuerst war es, als würde man durch einen Park gehen, oder als wäre man bei einer Wanderung vom Weg abgekommen, auch wenn man das leise Murmeln des Wassers hören konnte. Er fand Spuren ehemaliger Bewohner, die hier und da verstreut waren. Scherben zerbrochener Tonwaren, Kreise im Boden, wo Dutzende, vielleicht hunderte Feuerstellen gebrannt hatten, die die Umgebung nachhaltig verändert hatten. Er sah Vogelnester, Eichhörnchen und Biberratten. Es war zu kalt für Wassermokassinottern, aber zu einer anderen Jahreszeit hätte er sie zur Liste der Wildtiere hinzugerechnet. Nach ungefähr zwölf Minuten blieb er wie angewurzelt stehen und verharrte so reglos, dass er das Wasser von seinen Hosen auf die feste Erde tropfen hörte. Er starrte auf eine kegelförmige Hütte, die fast identisch war mit der in Hopetown, nur dass diese an verschiedenen Stellen durchgefault war und das Dach stellenweise durchhing. Durch die Löcher im Holz und Stroh der Hütte sah Darren eine flüchtige Bewegung. Er rief Levis Namen und rannte darauf zu. Als er sie fast erreicht hatte, flog ein Stein an seinem Kopf vorbei. Ein weiterer kam aus der Hütte geflogen und traf ihn an der linken Schulter. Ein dritter traf Darren am Hüftknochen. »Gehen Sie weg«, hörte er jemanden mit verstopfter Nase und voller Zorn sagen. »Ich töte Sie. Ich schwör’s.«
Darren musste sich tief bücken, um in die Hütte zu gelangen. Was einst ein heiliger Ort für Caddo-Indianer war, roch jetzt nach Pisse und Fleischwurst und der ungewaschenen Furcht eines Kindes, das seit beinahe einer Woche verschwunden war. Er war noch dünner, als Darren es sich vorgestellt hatte, doch beinahe eine Woche hier draußen ohne vernünftige Nahrung hatte das Seine dazu beigetragen: Seine Schlüsselbeine standen unter einem übergroßen Flanellhemd hervor, wahrscheinlich von Leroy Page. Er trug auch eine Latzhose des alten Mannes, die an den Hosenbeinen mehrmals umgekrempelt war. Er war von Sandflohbissen übersät, die er zu roten Pusteln aufgekratzt hatte. Darren sah auch ältere Wunden an seinen Beinen, erinnerte sich daran, dass Marnie gesagt hatte, Gil hätte den Jungen geschlagen, und dachte an all die unsichtbaren Narben, die er trug.
»Lass uns hier verschwinden, Levi.«
»Ich lass mir von einem Nigger nichts mehr befehlen.«
»Ich bin hier, um dich nach Hause zu bringen«, sagte Darren und ging vor dem Jungen in die Hocke.
Levi wischte mit dem Handrücken den Rotz weg. »Das hat Mr. Page auch gesagt, und dann hat er mich hierher gebracht. Er ist ein Lügner, und Sie sind auch ein Lügner, und Sie hau’n besser ab, bevor ich Ihr Niggerleben auslösche.« Er nahm einen ziemlich großen Stein, den er sich bestimmt für einen Nahkampf aufbewahrt hatte. Er hob ihn über den Kopf, während sich Schweißperlen auf seiner Stirn bildeten, als er sich mit seinen dünnen Armen bereit machte, Darren anzugreifen, der nicht einmal mit der Wimper zuckte. »Und dann was, Levi?«, sagte er. »Ob’s dir gefällt oder nicht, außer Mr. Page bin ich die einzige Person, die weiß, dass du hier bist. Und er liegt im Koma.« Er sah, wie Levi die Augen aufriss, bevor er sich auf die Lippe biss und herauszufinden versuchte, was das zu bedeuten hatte. »Also keine Sandwiches, frischen Sachen und Trinkwasser mehr. Niemand kommt, um nach dir zu sehen, Levi. Aber Leroy wollte von hier weg. Ich glaube, er hat das geplant, bevor ihm etwas zugestoßen ist.«
»Was ist passiert?«
»Jemand hat auf ihn geschossen. Unmöglich, dass die ganzen Hasstiraden nicht irgendwann in Gewalt umschlagen. Es ist einfach menschlich. Die Leute reden sich die Köpfe heiß, und etwas bahnt sich einen Weg in ihre Herzen, bis die verrücktesten Sachen auf einmal normal sind.«
»Ich wollte nicht, dass jemandem was passiert«, sagte Levi. »War das der blöde Gil?« Er klang auf einmal wie der älteste, lebensmüdeste Neunjährige auf dem Planeten. Die dunklen, geschwollenen Ringe unter seinen Augen sahen aus wie Fetzen grauer Zuckerwatte.
»Oh nein, der ist im Gefängnis.«
Und auf einmal gab es kein Halten mehr, und Tränen und Schnodder rannen über sein Gesicht. »Gil ist weg?« Darren nickte, und Levi warf sich ihm entgegen und landete in Darrens Armen, wobei er ihn beinahe umwarf. Sein warmer Körper war beinahe fiebrig. Er schluchzte hemmungslos, und Darren konnte spüren, wie die Knochen seines Brustkorbs zitterten. »Ich will zu Mom und Dana. Ich will nach Hause.«
Etwas an Gil Thomasons Verschwinden hatte Schmerz, Wut und Angst in dem Kind ausgelöst, die es wer weiß wie lange unterdrückt hatte. Er wischte sich die Nase an Darrens Hemd ab, blickte dann hinab auf Darrens fünffach gezackte Rangermarke und zurück zu der dunklen Haut in Darrens Gesicht und wieder hinab auf die silberne Marke.
»Heilige Scheiße, ist das Ding echt?«
Darren konnte sich ein leises Lachen nicht verkneifen. Der Junge glaubte nicht einmal einem Retter, wenn er direkt vor ihm stand. Oder vielleicht war es einfach nur das erste Mal, dass er die Marke eines Texas Rangers sah.
»Ja«, sagte er. »Sie ist echt«.