Die meisten Menschen erfahren tiefe Ruhe und können neue Kraft schöpfen, wenn sie in die Natur gehen. Ein langer Spaziergang an der frischen Luft und in der Stille des Waldes hat eine klärende und reinigende Wirkung. Das ist nicht verwunderlich, da wir ja auch selbst Natur sind. In ihr können wir uns mit der Einfachheit und der Schönheit des Lebens wieder verbinden.
Diese grundlegende Erfahrung wurde in alten Zeiten genutzt, um Menschen bei schwierigen Übergängen zu unterstützen, ihre heilsamen Quellen zu entdecken und sie kraftvoll ins Leben und die Gemeinschaft einzubringen. Von jeher haben sich daher Menschen in wichtigen Übergangssituationen alleine fastend in die Natur zurückgezogen, um Stille, Heilung und Mut zu finden und bewegende Lebensthemen zu klären. In vielen frühen Kulturen, in der Bibel, im alten Griechenland sowie in Märchen und Mythen gibt es Riten des Übergangs, um im Spiegel der Natur Sinn zu finden und Lebensübergänge in einem größeren Sinnzusammenhang zu begreifen.
In Kulturen, die eng mit dem Rhythmus der Natur verknüpft waren, gab es ein Wissen darum, dass man seine bekannte Welt eine Zeitlang verlassen muss, um den eigenen Platz darin besser zu erkennen. Um der Natur der eigenen Seele auf die Spur zu kommen, lag es nahe, in den Spiegel der unverstellten Natur zu schauen. So verbrachten Menschen jenseits gewohnter Pfade eine gewisse Zeit alleine und fanden Antworten für ihren weiteren Weg.
In rituellen Auszeiten in der Natur, Naturritualen und der Visionssuche heutiger Menschen werden diese uralten kulturübergreifenden Rituale langsam wieder lebendig. Dennoch fehlen uns heute weitgehend sowohl Übergangsrituale als auch das Wissen um sie. Zugleich haben Menschen ein großes Bedürfnis, wichtige Lebensübergänge heilsam zu gestalten.
Denn Übergänge gehören zu jedem Leben existenziell dazu, wie der erste und letzte Atemzug. Wir alle sind in einem Übergang geboren und wir alle sterben in einem Übergang. Übergänge laden dazu ein, alte, vergangene Lebensphasen bewusst zu würdigen und den Wechsel in eine neue Lebensphase als Teil des Kreislaufs des Lebens zu erfahren.
Lebensübergänge zeichnen sich immer durch eine Anpassung der Identität an neue Lebensumstände aus, die mit Verunsicherung und auch mit schwierigen Umbrüchen einhergehen können. Da sind zum einen die größeren Lebensübergänge wie das Erwachsenwerden, der Einstieg ins Berufsleben, Elternschaft oder Verluste, zum anderen Übergänge wie berufliche Neuorientierung oder Umzüge. Sie sind zum Teil sehr einschneidend und können sowohl schmerzhaft als auch beglückend sein, etwa die Geburt eines Kindes. Diese Wandlungsphasen fordern unseren Mut, der Unsicherheit, der Sehnsucht oder dem Schmerz, mit denen sie einhergehen, Raum zu geben. Unbewältigte oder nicht bewusst gelebte Lebensübergänge können uns aus der Bahn werfen. Werden sie dagegen bewusst gestaltet und in ihrer Bedeutung für die weitere Entwicklung verstanden, verlaufen sie meist weniger krisenhaft. Anstehende neue Lebensphasen können so leichter angenommen werden.
In Übergängen fragen wir uns: Wohin soll die Reise im weiteren Leben gehen? Wie kann ich mich neu ausrichten? Wie finde ich wieder Sinn? Das Buch bietet hier Wissen und wichtige Hilfestellung an, Rituale und rituelle Auszeiten in der Natur zur Bewältigung von Lebensübergängen selbst zu gestalten und ihre Bedeutung für sich wahrzunehmen. Es möchte Orientierungshilfen geben, mit Übergangsritualen persönlichen Krisen oder einschneidenden Veränderungen im Leben einen tieferen Sinn zu vermitteln. Weil Lebensübergänge so zentral sind, ist es lohnenswert, sich Zeit für ihre Gestaltung zu nehmen und tiefer verstehen zu wollen, was im Übergang eigentlich passiert.
Das Buch möchte daher
Es werden eine Fülle von überlieferten und modernen Ritualanleitungen, Naturritualen und Ideen für rituelle Auszeiten in der Natur für unterschiedliche Themen in Lebensübergängen wie Versöhnung, Abschiede und Neubeginn vorgestellt. Die Naturrituale können alleine oder mit vertrauten Menschen, als Selbsthilfe oder mit professioneller Begleitung, in der beschriebenen Form oder verändert durchgeführt werden. Sie sind einfach und gut umzusetzen. Einige der Anleitungen stammen aus der Tradition der School of Lost Borders, die Meredith Little und Steven Foster begründet haben.1
Die angeführten Beispiele von Menschen, die Lebensübergänge rituell in der Natur gestaltet haben, können anregen, sich selbst in ihnen wiederzuerkennen und sich zu erinnern, was es bedeutet, ein Mensch in dieser Zeit zu sein, mit all seinen Nöten und seiner Fähigkeit zur heilsamen Wandlung. Ihre Erfahrungen können inspirieren, im Spiegel der Natur Mut zu schöpfen, um neue Wege zu gehen, sich auszusöhnen und in tieferen Kontakt mit sich selbst zu kommen.
Auf vielfältige Art lebt die Natur uns vor, wie wir mit Übergängen umgehen können. Im Zyklus ihres Erblühens, Wachsens, Vergehens und Sterbens zeigt sie uns das Grundmuster allen Lebens. In rituellen Auszeiten können wir mit der regenerativen Selbstheilungskraft der äußeren und unserer inneren Natur in Berührung kommen, was heilsame Erfahrungen und Wegweisung ermöglicht. Wir finden neuen Zugang zu verborgenen Kraftquellen und zu dem, was uns in der Essenz trägt. So erhalten wir wichtige Hinweise für unseren Entwicklungsweg und Antworten auf drängende Sinnfragen.
Die Praxiskapitel 3, 4 und 5 zeichnen die drei archetypischen Phasen von Lebensübergängen nach: das Würdigen und Abschiednehmen von einer alten Lebensphase, die Schwellenzeit und die Phase des Neubeginns und der Neuausrichtung. Da diese drei Phasen einen uralten transformatorischen seelischen Prozess beschreiben, können sie für die eigene Entwicklung in einem Lebensübergang als modellhafter, handlungsweisender Weg dienen. Er ist schrittweise aufgebaut. In der letzten Phase geht es darum, wieder ganz ins Leben und zu den Menschen zurückzukommen und das gestärkte Innere auch im Außen einzubringen. Dies ist gerade in der heutigen Zeit mit ihren vielen Umbrüchen wichtig. Durch den Rückbezug zur Erde und zu der Erkenntnis, dass auch wir Natur sind, liegt in der rituellen Naturarbeit einerseits die Chance, sich selbst beseelt und inspiriert zu entfalten. Sie kann andererseits zentral für den Entwicklungsprozess des Menschen in seinem Verhältnis und seinem Umgang mit der Natur werden. So verlangt die aktuelle ökologische Krise auch neue Wege in unserer Naturbezogenheit und ein erweitertes Naturverständnis, das uns selbst als Natur mit berücksichtigt.
Möge das Buch die Leserinnen und Leser ermutigen, eigene Wege für die ganz persönliche Gestaltung von Lebensübergängen zu finden und das eigene Leben in die größere Verbundenheit von allem Lebendigen einzubetten. Möge es dazu beitragen, im Spiegel der Natur Sinn zu finden.
Noch eine Bemerkung zur Sprache: Im Sinne einer Ausgewogenheit werden die männliche und weibliche Form abwechselnd gewählt.