Nachdem wir beleuchtet haben, wie bedeutsam die bewusste Bewältigung von Lebensübergängen ist, wenden wir uns nun zunächst den klassischen und modernen Übergangsritualen zu. Wie wurden diese Lebensübergänge früher gestaltet? Was davon existiert heute noch? Wie können eigene Formen von Naturritualen und rituelle Auszeiten in der Natur gestaltet werden? Was ist dabei zu beachten? Abschließend geht es in diesem Kapitel darum, wie wir mit der Natur in Dialog und in Berührung treten, von ihr lernen und wie wir mit rituellen Naturerfahrungen umgehen können.
Rituale dienen seit der frühen Menschheitsgeschichte dazu, in Zeiten der Krise, des Übergangs und der Neuausrichtung Halt und Orientierung zu geben. Vor einer langen Reise wurde rituell um Schutz und Geleit gebeten. Die alten Opferrituale, Orakel, Regentänze oder Erntedankfeste zeugen davon, dass Menschen rituell im Dialog mit einer höheren Wirklichkeit ihr Schicksal beeinflussen, annehmen oder aber die Götter gnädig stimmen wollten.
Menschen brauchen Rituale. Bis heute werden sie überwiegend im Alltag, vereinzelt an wichtigen Lebensstationen, in Beziehungen sowie bei besonderen Ereignissen von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen durchgeführt oder neu erfunden. Sie rhythmisieren zeitliche, zyklische und soziale Abläufe im Jahreskreis und geben für unsichere Zeiten Kraft, Mut und Schutz.
Zyklische Rituale folgen Übergängen im Tages-, Wochen-, Monats- oder Jahreszyklus. Die Kelten feierten in den alten Jahreskreisfesten den großen Kreislauf der Natur. Mit der Dankbarkeit für die vergangene Periode stimmten sich die Menschen auf die neue Jahreszeit mit ihren Herausforderungen ein. Diese Rituale leben heute wieder neu auf und zeugen von der Sehnsucht, sich mit den Rhythmen der Natur in Einklang zu bringen.
Die Rituale der christlichen Feiertage im Jahreslauf orientieren sich an diesen alten keltischen Festen und übernahmen sie. So ist das alte Samhain-Ritualfest heute Allerheiligen, Imbolc wurde zu Lichtmess und die Wintersonnenwende als Geburt des Lichts feiern wir heute als Weihnachten. An Ostern ist diese Natur- und jahreszeitliche Bezogenheit deutlich zu erkennen. Das Fest der Wiederauferstehung findet zeitgleich mit der Wiederauferstehung der Natur in ihrem lebendigen Grün statt. Im Termin orientiert es sich am Wochen-, Monats- und Jahreszyklus und ist am ersten Sonntag nach dem ersten Vollmond nach Frühlingsanfang; im Wort orientiert es sich an der Himmelsrichtung des Ostens.
Zyklische Rituale unterstützen Menschen dabei, mit den starken Gefühlen an besonderen Tagen im Jahr wie Geburtstagen, Todestagen wichtiger Personen oder auch dem Hochzeitstag umzugehen.
Rund um die Schwellen im menschlichen Leben – etwa Geburt, Hochzeit oder Tod – finden sich die lebenszyklischen Rituale bzw. Übergangsrituale, denen wir uns später ausführlicher widmen.
Eng verbunden mit diesen Ritualen sind Heilungsrituale. Hier geht es um die Versöhnung mit Wut, Tod, Trauma, Trauer, Verlust, Schmerz und Krankheit. Heilungsrituale können insbesondere bei psychosomatischen Störungen und traumatischen Erlebnissen eingesetzt werden. Ihnen gehen meist Rituale zur Stabilisierung voraus. Daan van Kampenhout hat in seinem Buch »Heilende Rituale«20 einige sehr eindrückliche alte Heilungszeremonien beschrieben. Heilsame Erfahrung im Ritual meint nicht, einen Menschen von Vergangenem zu befreien, sondern vielmehr, das Erlebte und die damit verbundenen Gefühle in einem schützenden und Halt gebenden Rahmen ausdrücken zu dürfen und zu einem versöhnlicheren Umgang mit Verletzungen zu finden.
In Interaktionsritualen werden zwischenmenschliche Beziehungen rituell gestaltet. Mit ihnen werden Bindungen erneuert, bewahrt und bekräftigt oder aber getrennt, beendet und gelöst. Damit bezeugen sie Veränderungen in Beziehungen. Die bekanntesten Interaktionsrituale im Alltag sind der Handschlag und der Begrüßungskuss. Denken wir an Rituale wie die Hochzeit, die eine neue Verbindlichkeit in der Beziehung bekräftigt, so unterstützen sie den Prozess der Identifikation mit der neuen Form der Beziehung und drücken dies über Symbole wie den Ehering aus. Zugleich geben sie für schwierige Zeiten in der Partnerschaft Halt und Anker.
Interaktionsrituale werden auch in der Paartherapie konstruktiv genutzt. Bei chronischem Streit kann dieser Streit rituell verschrieben werden. Dann darf nur in festgelegten und begrenzten Zeiten nach vorher vereinbarten Regeln gestritten werden. Dadurch kann die Streitenergie einerseits ausgedrückt werden, andererseits geschieht sie planbar, eingerahmt und absichtsvoll. Zu den Interaktionsritualen gehören auch Trennungs- und Versöhnungsrituale, die heute zunehmend in systemischen Aufstellungen rituell gestaltet werden.
Des Weiteren gibt es Feierrituale, Rituale zur Ehrung der Natur und Dankesrituale.
Reinigungszeremonien finden sich in so unterschiedlichen Ritualen wie der Weihwassersegnung, dem Fasten, der Sauna, der Schwitzhütte, im Gebrauch von Räucherstäbchen oder bei der rituellen Fußwaschung.
Magische Schutzrituale werden eher geheim gehalten, obwohl auch sie verbreitet sind. Menschen tragen ein Amulett, einen Anhänger, einen Schutzspruch oder einen Schutzstein bei sich.
Bei dieser Vielfalt an Formen stellt sich die Frage: Wie kann eine sinnvolle Definition von Ritualen lauten? Im Unterschied zu Gewohnheiten sind Rituale Handlungen mit hohem Symbolgehalt und von großer Bedeutsamkeit. Sie finden einmalig oder regelmäßig statt und haben einen ihnen ganz eigenen Sinn. Kernelement im Ritual ist, dass in ihm Erlebtes oder Erwartetes in einer Handlung gestaltet und transformiert wird. Starke Gefühle können in der Handlung ausgedrückt und im Symbol konstruktiv gebunden und gewandelt werden. Symbole spielen in der rituellen Handlung eine große Rolle, da durch sie neue metaphorische Räume entstehen und seelische Energie freigesetzt wird. So sind Rituale eine Art Gefährt für Gefühle und Bilder der Seele. Weil die Menschen im Ritual emotional sehr beteiligt sind, werden wichtige Lebensthemen tief in der Seele mit Erinnerungsbildern der eigenen heilsamen Transformation verankert. Das hat stärkende Auswirkungen auf unseren Alltag und unser Leben.
Rituale können von wenigen Minuten bis zu Stunden und Tagen dauern, in der Natur oder im geschlossen Raum erfolgen und sowohl alleine als auch zusammen mit anderen Menschen durchgeführt werden. Sie sind flexibel in ihrer Struktur. Diese gibt dem Fluss der seelischen Energie eine Richtung.
Rituale in diesem Verständnis werden bewusst, mit Bedeutung und Absicht, abgehalten und folgen einem inneren Bedürfnis und einer inneren Notwendigkeit. Dadurch werden sie in einer Eigenzeit und einem Eigenraum erfahren und können Vergangenheit und Zukunft in der Gegenwart verbinden.
Wenn Rituale fehlen, fehlt etwas Wesentliches. Wenn ein Jubiläum oder eine Gratulation zum Geburtstag vergessen wird, wenn der bewusste Übergang in eine neue Lebensphase fehlt, entsteht eine Lücke im seelischen Erleben.
Obwohl eine Reihe von eher alltagsbezogenen Ritualen – von der Zahnfee, der ersten Schultüte bis zum Abiball – existieren, gibt es in unserer Kultur eher wenig Formen, um Lebensübergänge bedeutsam und rituell mit anderen Menschen zu teilen. So fehlen Übergangsrituale zur Ablösung vom Elternhaus, bei Trennungen, beruflichen Veränderungen, Elternschaft, bei Verlusten von Menschen, körperlichen Fähigkeiten und Lebensplänen ebenso wie Rituale, die eine gelungene Neuausrichtung bestätigen.
Besonders deutlich wird das Fehlen von Ritualen am Beispiel des Übergangs vom Jugendlichen zum Erwachsenen. Jugendliche möchten ihre Grenzen überschreiten, ihre Stärken in der Grenzerfahrung entdecken, um die Chance zu erhalten, über sich hinaus zu wachsen und so ihre Ganzheit zu erfahren. Sie möchten sich und anderen etwas beweisen, ihren Mut demonstrieren und über Abgrenzung ihren Selbstwert stärken und Sinn erleben. Versuche der Selbstinitiation wie Mutproben, tranceähnliche Rauscherfahrungen oder Ritzen bewirken im Dickicht des komplexen modernen Lebens in den seltensten Fällen eine Bewusstseinserweiterung oder ein Gewahrwerden der eigenen Möglichkeiten. Führerschein, Abipartys und materielle Geschenke reichen als seelische Reifeprüfung ins Erwachsenenalter nicht aus. So bleibt ein Teil des eigenen Wesens in einer alten Lebensphase stecken, auch wenn der Mensch biologisch reift.
Gerade in diesem Experimentieren mit Grenzen spiegelt sich das tiefe Bedürfnis nach Entwicklung und dem geschützten Rahmen eines Initiationsrituals wider. In diesem könnten Jugendliche in ihren neuen Erkenntnissen über ihr eigenes Wesen begleitet, gespiegelt und gewürdigt werden, um einen für sie sinnvollen Platz im Leben sowie neue Orientierung zu finden. Ohne diese können die Grenzerfahrungen ins Leere laufen. Hier sind wir in der Begleitung der uns nachfolgenden Generation gefragt.
Wenn Übergangsrituale der Bekräftigung – etwa der Übergang zum Erwachsenen, die bewusste Ablösung von den Eltern oder der Übergang in eine neue Bindung – fehlen, gibt es oft viele Jahre später den Ruf der Seele, diese nachzuholen. So kann endlich etwas »Verpasstes« beendet, befriedet oder eingelöst werden. Es ist wie eine innere Erlaubnis, diese unsichtbare und doch wirksame Schwelle zu überqueren. Was wir mitunter nur mühsam und auf Umwegen nachholen können, war in traditionellen Kulturen mit Hilfe von Übergangsritualen viel selbstverständlicher ins Leben eingebunden.
Auch Rituale um Sterben und Tod sind in anderen Kulturen verbreiteter. So finden wir im Islam die sogenannten Klageweiber, die tagelang gemeinsam trauern. In indigenen Völkern versammelt sich die Gemeinschaft um den Sterbenden, um Abschied zu nehmen, ihm die Reise in die Anderswelt zu erleichtern sowie das »Vermächtnis« des Sterbenden anzunehmen. Starb ein Mensch unserer westlichen Kultur in vorindustrieller Zeit, gab es ein religiöses oder philosophisches System, das übergeordneten Sinn verlieh. Der Tod hatte einen festen Platz im Leben der Großfamilie und alle sorgten für einen Sterbenden. Der westliche Durchschnittsmensch wird dagegen auf das eigene Sterben kaum gut vorbereitet sein, und wenn der Tod ihn dann ereilt, befindet er sich nur selten in einem liebevollen und vertrauten Umfeld. Siebzig Prozent der Deutschen sterben heute alleine, in Krankenhäusern, Pflegeheimen oder unbemerkt in ihrer Wohnung.
Die kulturell, christlich und gesellschaftlich überlieferten Rituale erreichen die Menschen nur noch zum Teil.21 Wer zu oft sinnentleerte Rituale erlebt hat, etwa ein Weihnachtsfest, bei dem es statt echter zwischenmenschlicher Begegnung nur Stress, unpersönliche Konsumgeschenke und Fernsehhypnose gab, der wird vergessen, dass Rituale eine Quelle der Kraft sein können. Und er verlernt dadurch vielleicht, Rituale sinnstiftend in seine Lebenszusammenhänge einzubinden. Die alten Rituale, vor allem die kirchlichen, verlieren angesichts der Tatsache, dass unsere Gesellschaft kulturell und konfessionell vielfältiger geworden ist, dass die Lebenswirklichkeiten und -themen sich entscheidend verändert haben und Menschen dies auch in Ritualen abgebildet wissen möchten, immer mehr an Bedeutung. Auch die Ritualleiterinnen und -leiter werden als Folge der Mobilität heute immer anonymer: Wer kennt noch außerhalb dörflicher Strukturen die Pfarrerin, welche die Grabrede hält? Wie viel kann der Ritualleiter wirklich über das Leben des Menschen erzählen und es ehren, die er vermählt oder bestattet? Auch dies führt zu einer Entfremdung von Ritualen, deren Bedeutung nicht mehr wahrgenommen werden kann. Hinzu kommt, dass die kritische Auseinandersetzung mit Inquisition, Glaubenskriegen, Missionierung und in jüngster Zeit die Aufdeckung von Missbrauchsfällen zu einem Vertrauensverlust geführt hat, der sich auch auf die Akzeptanz von Ritualen auswirkt.
In einem schneller und komplexer gewordenen Lebensalltag und in einer materialistisch-technokratischen Zeit, in der es fast alles zu kaufen gibt, ist der Kontakt zur nicht-alltäglichen Wirklichkeit und zur spirituellen Dimension in den Hintergrund getreten.
Weil dieser Kontakt für das Menschsein aber zentral ist, wächst das Bedürfnis nach Rückverbindung (lat. religio) mit dieser ganz anderen Ebene des menschlichen Seins erneut. Viele Menschen leben heute neue rituelle Formen, um ihrer Verbindung zum Geistigen und Spirituellen Ausdruck zu verleihen. Sie suchen daher auch nach neuen Formen des kreativen und rituellen Gestaltens von Lebensübergängen.
Das, was heute als Sehnsucht nach ritueller Gestaltung von Lebensübergängen ganz zart neu wächst, war in traditionellen Kulturen zentraler Bestandteil des Alltags. Da Lebensübergänge universell sind und Menschen diese seit Tausenden von Jahren erfuhren, erhielten sie viel Beachtung. Sie wurden entsprechend durch Übergangsrituale gestaltet und markiert. Dadurch konnten etwa Jugendliche in das Erwachsensein initiiert und ein vollwertiges Mitglied mit allen Rechten und Pflichten werden. Übergangsrituale ermöglichten auf diese Weise, sich zu einer sozialen Gruppe zugehörig zu fühlen und den eigenen Platz darin einzunehmen. Zentrale Aufgabe der Riten war es, Menschen in schwierigen Veränderungen hilfreich zu begleiten und seelische Wachstumsschmerzen in einen tieferen Sinnzusammenhang zu stellen.
Die Initiation Jugendlicher zu Erwachsenen, die wohl als einer der bedeutsamsten Übergänge galt, war nicht ganz uneigennützig. Erkannte ein junger Mensch seine Gaben und Talente nicht, konnte er diese auch nicht in die Gemeinschaft einbringen. Es war aber für das Überleben aller unabdingbar, dass jeder junge Mensch durch Initiation und Prüfung reifte, um die Aufgaben der Gemeinschaft mitzutragen, um eigene und spirituelle Kräfte zu kennen und Ängste überwinden zu können. Nur über ein geschärftes Bewusstsein für die Nähe von Tod und Leben war es überhaupt möglich, Verantwortung zu übernehmen. Ohne Initiation war es jungen Menschen nicht gestattet, Privilegien zu beanspruchen oder soziale Rollen einzunehmen.
Um das Leben im Angesicht der Todesmöglichkeit zu erfahren, wurden die Initianden traditionell entführt, wie zum Beispiel die Braut vor der Hochzeitsnacht oder Jungen von den Männern des Dorfes zur Einleitung des Initiationsritus. Prüfungen simulierten die Herausforderungen eines erwachsenen Lebens. Welcher Weg hätte da besser sein können, als fastend in der Wildnis, nur auf sich gestellt, den Blick zu schärfen für die eigene Fähigkeit, in einer existenziellen Situation Krisen auch alleine zu bewältigen?
Keine Initiation war ohne Separation von vertrauten Menschen und Rollen vorstellbar. Der »Initiationsschnitt« bestand darin, aus dem Gewohnten herausgerissen zu werden, plötzlich in eine extreme Situation katapultiert zu sein und dem Tod ins Auge zu schauen. Dies ist bis heute für Menschen, die durch eine Initiation gehen, eine tiefgreifend transformierende Erfahrung. Das kann auch ohne Ritual geschehen. Einen anderen Menschen im Sterben zu begleiten, kann z. B. ein Initiationsschnitt sein, der einen die Welt plötzlich so ganz anders erleben lässt. Diese schmerzhafte Erfahrung lässt Menschen reifen und zuverlässiger sein. Es ist die Hingabe an das Größere im Leben und die Einweihung in die Erfahrung um die eigene Verletzbarkeit und Sterblichkeit. Im Unterschied zu vielen anderen Entscheidungen haben wir angesichts des Todes keine Wahl außer der Hingabe. Im Ritual wird die existentielle Krise im Dienste der Persönlichkeitsentwicklung absichtsvoll und achtsam initiiert.
Separation ist das erste Kernelement im Initiationsritual, das wie alle Übergangsriten der archetypischen Wandlungsstruktur folgt, in der die natürliche Dynamik seelischer Wachstumsprozesse symbolisch nachgezeichnet wird. An die Trennungs- und Ablöseriten schließt sich der Eintritt in den rituellen Raum an. Nach der Rückkehr der Initiantin erfolgten Wiedereingliederung und Integration. Neue Handlungsmuster und Rollen konnten eingenommen werden, weil sie von der Gemeinschaft bestätigt wurden.
Was vor allem an die Tradition indigener Kulturen, an indianische Rituale und afrikanische Initiationen erinnert, hat doch kultur- und zeitübergreifende Wurzeln. Die Visionssuche als zentrales Übergangsritual, um Wendepunkte im Leben zu markieren, ist Jahrtausende alt. Sie findet sich auch in der europäischen Kulturgeschichte. Sylvia Koch-Weser und Geseko von Lüpke geben einen fundierten Einblick in die mannigfaltigen Wurzeln der Visionssuche.22 So beschreiben sie, wie im germanischen Brauch die Visionssuche in Odin verkörpert ist, der an der Weltenesche Yggdrasil hängend in Weissagung und Weisheit eingeweiht wird. Im kretischen Labyrinth, in den keltischen Riten, in der Quest nach dem heiligen Gral, der Parzivalsage und vielen anderen Bräuchen sind Initiationsriten beschrieben. Auch Märchen überliefern früher gelebte Initiationsrituale in der europäischen Kulturgeschichte. In den Märchen Frau Holle, Eisenhans und Sterntaler wird der Initiationsritus anschaulich sichtbar. Viele zentrale Figuren in Judentum und Christentum, wie Jesus, Jeremia oder Elias, gingen rituell fastend in die Wüste, auf einen heiligen Berg oder in eine Höhle, um ihre Vision zu finden und dem Göttlichen zu begegnen.
Die alten Artemis-Rituale in Griechenland, beschrieben von Koch-Weser und von Lüpke23, künden davon, dass es nicht ausreicht, einmal geboren zu sein. Im Erwachsenwerden müsse sich jede junge Frau noch einmal selbst gebären. Mädchen, die diese herausfordernde Aufgabe vor sich hatten, wandten sich um Hilfe an die mächtige Göttin Artemis, die den Wald und seine Tiere behütet und über Geburt und Jagd wacht. Niemand außer den jungen Mädchen durfte sich ihr nähern. Diese hüllten sich in eine zweite Haut aus Bärenfell, dessen übler Geruch all jene erschreckte, die zu nahe kamen. Die jungen Frauen konnten ungestört dem Wasser, den Gesängen des Waldes zuhören, die Tiere beobachten und still werden. Über Wochen und Monate lauschten sie so lange in die Natur, bis sie in ihrem Zentrum den Klang ihrer eigenen Stimme vernahmen. So gebaren sie sich selbst und wurden sich Tochter und Mutter, Hebamme und Freundin. Sie warfen ihre zweite Haut ab und lebten ihr Leben, wie es ihrem eigenen Klang entsprach.
Der Hauptgedanke der Artemisrituale ist, dass ein Zeitpunkt kommt, wo es wichtig ist, sich selbst ins Leben zu gebären und damit selbst Ja zum Leben zu sagen, statt einfach nur in es hineingeworfen zu sein.
Wie in den überlieferten Traditionen können uns Übergangsrituale auch heute in Zeiten eines anstehenden globalen Wandels unterstützen, persönliche Krisen im Leben zu verstehen und wichtige Lebenswege zu würdigen. Einschneidende Veränderungen im Leben erhalten so einen tieferen Sinn. Übergangsrituale ermöglichen auch in der modernen Zeit Rückverbindung mit der inneren Welt und Wissen um die transzendente Existenz. Übergangsrituale helfen uns, uns neu zu gebären.
Im Wiederaufleben des alten Rituals der Visionssuche kommt seelenverbundenes altes Wildniswissen und heilsame Wandlungsmöglichkeit zu uns zurück. Steven Foster und Meredith Little haben Pionierarbeit geleistet, indem sie die zugrundeliegenden archetypischen Strukturen von Übergangsritualen und Visionssuchen weltweit zusammengetragen und in eine für den westlich zivilisierten Menschen praktikable Form der Visionssuche, auch »Visionfast« oder »Visionquest« genannt, gebracht haben.24 Es ist ihr Verdienst, dass sich die Visionssuche als großes Übergangsritual sowie kürzere Formen von Übergangsritualen in der Natur mittlerweile verbreiten. Diese Form der Visionssuche ist pankulturell, das heißt kultur- und religionsübergreifend.
Einige Schulklassen gestalten Übergangsrituale in der Natur, um den Schulabgängerinnen Orientierung für den beruflichen und persönlichen Weg zu geben. Andere Schulklassen bieten eine Solozeit in der Natur mit Vor- und Nachbereitung an, um den Übergang von der Kindheit ins Jugendalter im Kontext der sozialen Gruppe gelingend zu gestalten. Es ist berührend zu sehen, wenn Vierzehnjährige nach einer Nacht allein in der Natur zurückkehren und ihren Eltern und Schulfreunden von ihren Ängsten, Erkenntnissen, ihrer Kraft und ihren Zweifeln authentisch erzählen und plötzlich ihre Liebe und Dankbarkeit für ihre Eltern ausdrücken können. Auch für die Eltern, die den Übergang zum Jugendlichen bestätigen, ist dies eine tiefgreifende, oft sehr nachhaltige Erfahrung.
Stiftungen, Arbeits- und Jugendämter nehmen das Ritual der Visionssuche mit prozessbegleiteten Elementen ebenso in ihre Programme auf wie kirchliche Organisationen. Arbeitslose Jugendliche in Südafrika, die in Städten auf der Straße leben, werden durch das Ritual der Visionssuche zu ihren Wurzeln in der Natur zurückgeführt. Statt Resozialisierung steht die Wiederverbindung mit den eigenen Potenzialen und der Natur im Vordergrund.
Die moderne Visionssuche folgt der gleichen archetypischen Struktur wie die klassischen Rituale. Sie ist dreiphasig aufgebaut: Abschiednehmen von Altem in einer Vorbereitungszeit, für drei bis vier Tage in die heilige Solozeit eintreten, die fastend und alleine in der Natur verbracht wird, sowie die Integration der Erfahrungen in den Alltag in der Nachbereitungsphase. Durch diese klare Struktur und Form wird Halt und Sicherheit ermöglicht, auf deren Boden die existenziellen Sinnfragen erforscht werden können.
Die Vorbereitungszeit beginnt bereits mit der Entscheidung, eine Visionssuche zu machen. Mit der Anmeldung wird die eigene Absicht, auf Visionssuche zu gehen, aufgeschrieben. Ab diesem Moment wird meist deutlich, wie sehr wir in archetypische Fußstapfen treten, wenn wir uns auf uralte rituelle Pfade begeben. Alleine durch den Entschluss beginnt das rituelle Feld zu wirken. Erste Veränderungen im Leben werden bereits eingeleitet.
Die Gründe, weshalb Menschen auf Visionssuche gehen, sind sehr vielfältig:
Menschen möchten wichtige Entscheidungen treffen, endlich Frieden schließen mit bestimmten Menschen oder unerfüllten Wünschen, Trennungen besiegeln, sich für eine neue Beziehung öffnen, sich von den Eltern lösen, Kraft für ihren Beitrag in der Welt sammeln, Krisen bewältigen, Abschiede verschmerzen oder eine neue Ausrichtung erfahren.
Zur Vorbereitungszeit gehören kleinere Rituale in der Natur, das Führen eines Tagesbuchs und die tiefere Klärung der Absicht: Wer war ich als altes Ich? Wer bin ich dabei zu werden? Viele vergangene Aspekte und überholte Muster werden dabei im Rad des Lebens neu ausgeleuchtet, um herauszufinden, welche neue Identität sich denn herauskristallisiert und im Ritual bestätigt werden will. Vorbereitende Übungen zum Umgang mit Ängsten, Einführung in ein Sicherheitssystem während der Schwellenzeit und Anregungen für die Gestaltung persönlicher Rituale werden gegeben.
Dann tritt die Person rituell über eine Schwelle in ihre heilige Schwellenzeit ein, in die Leere, das Nichtwissen. Sie ist nur mit dem Notwendigsten – Wasser, Schlafsack, Isomatte und Plane – ausgestattet. Vier Tage und Nächte wird sie alleine fastend an einem Platz in der Natur sein. Einmal täglich wird sie ein Zeichen setzen, dass es ihr gut geht. Ansonsten ist sie mit den Wesen der Natur – den Bäumen, Steinen, Tieren, Pflanzen –, mit den Elementen, der Dunkelheit, der Nacht, Einsamkeit, Kälte, ihren Ängsten ganz auf sich gestellt. Es gibt nichts zu tun, außer zu sein. Vielleicht führt sie Rituale durch, wird von Tieren, Geist- und Naturwesen oder Träumen aufgesucht oder bleibt einfach in der Stille mit sich selbst. Mit den Naturkräften verbunden, hält sie Augen und Ohren offen und achtet darauf, was die Natur ihr zeigt. Sie hört, was zu ihr »spricht«, und lauscht den »Antworten« auf ihre Fragen.
Sie kann sich durch das Fasten sehr schwach fühlen oder aber voller Tatendrang. Langeweile, Kummer, Inspiration, tiefe Dankbarkeit und Liebe zum Leben – alles kann sie überfallen. Sie konfrontiert sich mit sich selbst, wenn alles andere wegfällt: Essen, Kochen, Gemeinschaft, Freundinnen und Freunde, Wege, Arbeit und all die täglichen Verpflichtungen und Ablenkungen. Wer ist sie dann? Was bleibt dann? Gerade in der Einfachheit dieser Zeit liegt tiefe Weisheit und Raum für Erkenntnis. Durch die Erfahrungen öffnen sich neue Tore für die Fragen: Wer bin ich? Wo stehe ich? Welchen Weg will ich weitergehen? Es wird wieder möglich, das Wesentliche zu erkennen, Botschaften aus dem Inneren wahrzunehmen und sich mit der eigenen Kraft zu verbinden. Aus der Stille und der Erfahrung heraus, mit allen Wesen eins zu sein, klärt sich der Geist, woraus neue Einsichten über das eigene Leben geboren werden können. War sie mit wichtigen Menschen in ihrem Leben in schmerzhaften Beziehungen verflochten, kann sie vielleicht ihre Dankbarkeit für die Liebe spüren – trotz alledem. In der letzten Nacht stirbt sie symbolisch und nimmt rituell Abschied von ihrem alten Ich. Diese Wachnacht verbringt sie in einem Absichts- oder Bestimmungskreis, d. h. in einem Steinkreis, der ihr symbolisch als Ort dient, die Absicht für ihr neues Ich ins Leben zu rufen. Sie bittet darin um ihre Vision, ihren persönlichen Mythos, einen neuen Namen, ein Bild oder ein Zeichen, sie tanzt, betet, singt, fleht um eine Erkenntnis für ihren weiteren Weg.
Kehrt sie über die Schwelle nach Hause zurück, beginnt die Integrationsphase und Nachbereitung, in der sich das Erlebte nach und nach entfalten kann. Sie wird empfangen im Kreis einer sozialen Gemeinschaft auf Zeit, der sie ihre Geschichte aus der Schwellenzeit erzählt. Sie bringt die Geschenke aus ihrer Solozeit mit, geprägt von Spuren des Gewandeltwordenseins. Ihre Geschichte und ihr Mut werden gehört und gewürdigt. Der Kreis der Gemeinschaft schält das Einzigartige ihres persönlichen neuen Mythos heraus, verwebt ihn mit der Tiefendimension menschlicher Stirb- und Werde-Prozesse und hilft, das Erlebte tiefer zu verstehen. Gerade vertraute Bezugspersonen können so den Wandel anerkennen. Ist die Person eine Jugendliche, dann können ihre Eltern ihr den Segen geben und sie in ihrer neuen Rolle bestätigen. Dadurch verändert sich auch die Rolle der Eltern. Bis sich das Neue ganz in ihrem Leben manifestieren wird, kann ein Tag oder können auch mehrere Jahre vergehen.
In der Regel ereignen sich nach einer Visionssuche tiefgreifende Veränderungen im Leben. Aufgrund ihrer starken Wirkung sollte eine Visionssuche von außen begleitet und nicht für sich alleine gestaltet werden. Vor allem Jugendliche brauchen für eine nachhaltige Initiation reife Erwachsene, die sie in achtsam durchgeführten Ritualen als Mentorinnen und Mentoren prozessbezogen und individuell über einen längeren Zeitraum begleiten.
Angelehnt an die Struktur dieses großen Übergangsrituals gibt es viele kürzere Formen für die eigene Gestaltung von Lebensübergängen wie bestimmte Rituale, Visionswanderungen, Jahreskreisfeste, Sternennächte und rituelle Auszeiten in der Natur.
Inspiriert von der Visionssuche betrachten wir nun, wie eigene Übergänge in der Natur gestaltet werden können.
Da wir Übergänge und Lebensschicksale unterschiedlich erleben und unsere Wege, sie zu verarbeiten, vielfältig sind, braucht jeder Mensch auch ein individuell abgestimmtes Ritual. In der Gestaltung eigener Rituale kann berücksichtigt werden, in welcher emotionalen Situation wir uns mit einem Lebensthema befinden. Sind wir von einem Ereignis noch völlig überwältigt, brauchen wir ein anderes Ritual, als wenn wir das Geschehene größtenteils schon annehmen können.
Selbstgestalteten Ritualen kann eine ganz persönliche Bedeutung gegeben werden. Wesentlich dabei ist die authentische Absicht, dass etwas Bedeutsames geschieht und der Raum dafür bereitet wird. Finden Rituale in diesem selbstgewählten sinngebenden Kontext statt, können sie entsprechend stark wirken.
Sich selbst ein Ritual auszudenken, es zu planen, den ganz eigenen Ausdruck von Gefühlen zu entwerfen, ist ein intimer, intensiver und bereits transformatorischer Prozess. Er ermöglicht, sich mit dem Vergangenen und dem Zukünftigen auseinanderzusetzen und sich innerlich und äußerlich neu auszurichten. Die Seele erhält so die Zeit, die für den Lebensübergang benötigt wird. Es wird möglich, sich auf einer tieferen Ebene von Vergangenem zu lösen, innerlich das abzulegen, was nicht mehr dazugehört, und das ins Leben einzuladen, was gebraucht oder bewahrt werden möchte.
In einem achtsamen und wertschätzenden Raum entstehen Rituale in der Natur auch oft spontan, einfach und kraftvoll. Dadurch sind sie leicht selbst zu gestalten. Manche Rituale folgen Bestandteilen bekannter Rituale, andere greifen Rituale auf, die wir als Kind im Wald spielten, als der Zugang zur natürlichen Welt noch unbefangen und spontan im Ausdruck war.
Bei selbstgestalteten Ritualen bleiben wir zu jeder Zeit Expertin oder Experte für uns selbst, da wir die zentrale Idee und die handlungsleitenden Elemente selbst wählen. Und doch wenden wir uns zugleich dem Nichtwissen, dem größeren Ganzen und der Dynamik des Lebens im rituellen Geschehen zu.
Innerhalb dieser Offenheit für das Unerwartete unterstützt eine klare räumliche und inhaltliche Form. Rituale sind in ihrer Grundstruktur einfach, mit einfacher Sprache, einfachen Elementen, einfachen Gesten. Es ist sinnvoll, wenn selbstgestaltete Rituale der dreiphasigen Wandlungsstruktur von Loslösung, Schwellenzeit und Wiedereingliederung folgen. Die äußere Form des Rituals wird auf die natürliche Lebenswelt, das eigene Anliegen und das eigene Glaubens- und Sinnsystem abgestimmt.
Die folgenden Ausführungen möchten Anregung für die eigene Gestaltung von Ritualen geben. Natürlich kann die Vorbereitung auch abgekürzt werden; man braucht nicht alle Aspekte vorher sorgfältigst vorzubereiten. Die klare Absicht ist das wichtigste Element der Vorbereitung.
1. Die Absicht für das Ritual klären
Ein Ritual wirkt auf vielen Ebenen, aber überwiegend durch die bedeutungsvolle und klare Absicht. Um die eigene Absicht zu klären, sind folgende Fragen hilfreich:
Die Beweggründe für ein selbstgestaltetes Naturritual drehen sich meist darum, versöhnlicher und innerlich freier zu werden bei Abschieden von Menschen, Orten, Arbeitsplätzen, Lebensabschnitten. Sie zentrieren sich um die bewusste Gestaltung persönlicher, körperlicher oder beruflicher Übergange. In ihnen kann es möglich werden, Gefühle auszudrücken, zu trauern, Ängsten zu begegnen, Wut zu transformieren, wichtige Entscheidungen zu treffen, den eigenen Weg im Umgang mit einer Erkrankung zu finden und sich dem Sinn in einer Krise anzunähern.
Menschen bitten im Ritual um Kraft, Unterstützung und Führung für neue Lebenssituationen und Rollen. Sie klären bestehende Beziehungen, um darin kraftvoller sie selbst sein zu können, sie möchten einer spürbaren Veränderung eine neue Richtung geben, Mut für den eigenen Weg erhalten und zu innerem Frieden und Vertrauen ins Leben finden. Rituale stimmen auch auf Bevorstehendes und Neues ein, bereiten bei Unabwendbarem eine neue Haltung vor und können vorbeugend und vorausschauend durchgeführt werden, z. B. als Schutz vor einer schwierigen Operation.
Die Absicht sollte klar, einfach und positiv formuliert sein. Wird eine Frage gewählt, sollte sie kein Entweder-Oder enthalten. Statt der Frage »Soll ich die Arbeitsstelle in x annehmen oder in y?« würde die Frage lauten: »Was brauche ich an einem neuen Ort?« Das könnte im Ritual ins Leben gerufen oder bekräftigt werden.
Bei der Formulierung der Absicht ist zu beachten, von einem Ritual nicht die Lösung aller Probleme zu erwarten und sich nicht zu hehre Ziele zu stecken. Wenn wir zum Beispiel einen Freund durch Tod verloren haben, verfolgt das Ritual mitunter nicht die Absicht, loszulassen. Vielmehr könnte es für uns wichtig sein, aus der Erstarrung wieder in den »Fluss des Lebens« – vielleicht auch der Tränen – zu kommen. Wir möchten vielleicht die tiefe Freundschaft würdigen, uns erinnern, was dieser Mensch in unser Leben gebracht hat. Vielleicht möchten wir auch zu einer neuen Form unserer inneren Beziehung finden oder einfach wieder Ja sagen können zu einem Leben ohne den äußerlich lebendigen Menschen.
Doris bearbeitete bereits länger therapeutisch Missbrauchserfahrungen aus ihrer Kindheit. Sie spürte immer noch die Energie des Übergriffs in ihrem Körper sowie die Wut auf die wegschauende Mutter. Ihre Absicht für das Ritual war, die fremde, übergriffige Energie mehr und mehr aus ihrem Körper herauszuwerfen und ihrer Wut Ausdruck zu verleihen, so dass sie sich verwandeln konnte.
2. Eine transformierende Handlung wählen
Die zweite Frage lautet: Welche Handlung passt zu meiner Absicht und zu mir? Welches Element wähle ich dafür?
Die Umsetzung der Absicht in die Handlung sollte so gestaltet sein, dass der neue Erfahrungsraum kraftvoll genug ist, um die alten Gewohnheiten zu überlagern. Dabei spielen die emotionale Bedeutung eines kritischen Geschehens sowie bisherige Bewältigungsmuster eine Rolle. Gehen Sie bei der Wahl der geeigneten Handlung neben der Absicht auch von Ihnen bereits vertrauten Traditionen und rituellen Handlungen im Alltag aus.
Sprache und Strukturelemente im Naturritual sind einfach. Sie ergeben sich aus der elementaren Sprache der Natur, in der die Elemente Wasser, Feuer, Erde und Luft in ihrer transformatorischen Kraft wirken. Dadurch werden Übergangsrituale in der Natur so wirkmächtig. Feuer transformiert schnell und heftig, Wasser bringt mehr das fließende Element vom Tropfen bis zum Meer ins Spiel. Die Erde zeigt uns immer wieder ihre große Selbstheilungs- und Regenerationskraft durch ihre Verwandlung von Abfall in Humus. Die Luft und der Wind tragen Samen, Schwingungen weit fort und sind von der Energie her leichter, nach oben gerichtet. Die meisten Menschen wissen intuitiv, welches Element der Transformation zu ihrer Frage passt und der Integration dient.
Daraus folgt eine Reihe von symbolischen Handlungen zu rituellen Zwecken. Aus dem Element Feuer sind dies: verbrennen, ein rituelles Feuer entzünden und hüten, eine Kerze anzünden. Das Element Wasser umfasst rituelle Handlungen wie: baden, etwas dem Fluss übergeben oder darin versenken, sich selbst mit Wasser taufen, sich oder etwas weihen, reinigen oder besprengen. Im Kontakt mit dem Element Erde kann etwas in die Erde eingebuddelt, begraben, zerschmettert, Hölzer zerbrochen, Steine geschleppt, zerschmettert oder zu Mustern angeordnet, ein Steinkreis um sich gelegt oder Samen in die Erde gesät werden. Mit dem Element Luft kann man etwas in den Wind streuen, räuchern, atmen oder Worte vom Wind wegtragen lassen.
Weitere rituelle Handlungen beziehen sich auf die Symbolik des Weges wie: eine Prozession zu einem bestimmten Ort machen, pilgern, durch ein Tor gehen, einen Schutzkreis ziehen, symbolisch erst den alten, dann den neuen Weg gehen, eine Schwelle überschreiten. Und es gibt auch eine Reihe kreativer, körperlicher und verbaler ritueller Ausdrucksmöglichkeiten wie: den Namen ändern, etwas drei Mal laut aussprechen, ein Gelübde ablegen, ein Versprechen geben, danksagen, gedenken, wünschen, etwas herbeirufen, bannen, schreien, dichten, Gegenstände durch Affirmationen mit Kraft aufladen, z. B. in Steine oder in eine Muschel etwas hineinsprechen, einen Brief schreiben, beten, sich die Haare schneiden, die Kleider wechseln, malen, Masken herstellen und tragen, rituell Früchte essen, Düfte, Körperhaltungen einnehmen, stampfen, sich selbst oder etwas anmalen, tanzen, Theater spielen, das neue Ich tanzen, singen, tönen, musizieren, rasseln, Geschenke basteln, einen Blumenkranz flechten, schmücken, etwas an Bäume binden, Fäden spannen, Fäden lösen, Knoten knüpfen und/oder auflösen, flechten, zerreißen, umwickeln, etwas zerschneiden, bauen, aufräumen, umräumen, ein Opfer bringen.
Im Prinzip kann jede Handlung rituell werden, wenn sie mit Absicht durchgeführt wird und vom Alltag bewusst abgegrenzt wird. All diese Handlungen wirken nur in Verbindung von Intention, Bedeutsamkeit und rituellem Rahmen. Da es gut ist, der Einfachheit des Rituals eine hohe Priorität einzuräumen und auch der Spontaneität Raum zu lassen, reichen ein bis drei der rituellen Handlungen aus.
In der rituellen Handlung werden sowohl mehrere Sinnebenen als auch möglichst viele Sinne einbezogen. Sie können einen besonderen Bewusstseinszustand fördern, zum Beispiel durch Musik, Rasseln, Trancetanzen oder Trommeln. Damit ist die Frage verbunden, durch welche Handlungsabläufe auch emotionales Erleben möglich wird.
Als Elemente wählte Doris die Erde und den Wind. Im ersten Teil des Rituals stampfte sie sehr lange ihren Schmerz in die Erde mit der Bitte um kraftvolle Transformation durch die Erde. Sie bat den Wind, wenn sie sich schüttelte, dass er die losgeschüttelte, freigewordene fremde Energie mit sich forttragen möge.
3. Ein Symbol wählen
Bei der Gestaltung und Durchführung eines Rituals kann es wirkungsvoll sein, sich von einem Symbol führen und inspirieren zu lassen. Es kann als Ausgangspunkt und Mittelpunkt dienen oder den Ritualprozess einrahmen.
Nach einer Krisenphase setzt eine Frau symbolisch mit Ästen, Wurzeln und Blättern ihren Lebensbaum wieder zusammen und erweckt ihn mit ihren Tränen und Bitten zu neuem Leben.
Aus den vielen verschiedenen Facetten und dem Bedeutungsreichtum der Symbole können lebendige Rituale entwickelt werden, die das eigene seelische Befinden spiegeln und den Gefühlszustand versinnbildlichen. Allein die Beschäftigung mit einem Symbol kann eine große Bedeutung im Ritual haben. Eine der wirkmächtigsten Aspekte von Ritualen besteht darin, dass im Gestalten mittels eines Symbols innere Prozesse in Gang gesetzt werden. Vorher Unbenanntes und Unaussprechliches erhält plötzlich eine physische Realität und wird durch die größere Kraft eines der vier Elemente transformiert.
Die zentrale Frage bei diesem Schritt der Vorbereitung ist also: Welches Symbol könnte im Mittelpunkt des Rituals stehen? Welche Symbole aus der Natur, welche kulturellen, religiösen Symbole und welche metaphorischen Handlungen sind geeignet? Auch rituelle Worte, Gedichte, Affirmationen, laut gesprochene Kraftsätze haben Symbolcharakter.
Statt eines Symbols wählte Doris drei Sätze ihrer größten Wut, die sie in den Wind schrie mit der Bitte, die Wut zu transformieren.
4. Ort, Raum und Zeit bestimmen
Wenn Absicht, Handlung und Symbol klar sind, stellt sich die Frage: Wo soll das Ritual stattfinden? An einem bekannten oder unbekannten Ort? Nahe der Zivilisation oder sehr abgeschieden? Sollten an dem Ort, der ausgewählt wurde, noch Veränderungen vorgenommen werden, wie zum Beispiel durch eine Reinigung? Den Ort selbst in das Ritual mit einzubeziehen, kann die Kraft des Rituals stärken. So kann der Ort in besonderer Beziehung zum Thema gewählt werden. Die Energie an einer hellen Lichtung ist anders als am Waldrand, an einem Fluss, an einem bereits genutzten Ritualplatz in der Natur mit Feuerstelle oder an einem bekannten Ort, der für eine bestimmte Erfahrung steht. Der Ort kann das Ritual besonders dramatisieren; er kann auch eine besondere Beziehung zu neuen Aufgaben und Abschnitten im Leben aufweisen.
Es ist gut, sich vor einem Ritual zu überlegen, wie der rituelle Raum und seine Grenzen gewahrt werden können. Hier geht es darum, die Grenze von Außen und Innen, von Hier und Dort für sich und andere bewusst zu halten. Manchmal wird besonderer Schutz benötigt. Das kann ein Kraftgegenstand sein, die bewusste Einladung von Schutz, ein Schutzkreis, der mit Reiskörnern gezogen wird, ein Sichtschutz oder eine Person, die eine Art Eingang zum Ritualort hütet.
Als nächstes kann festgelegt werden, zu welcher Zeit das Ritual stattfinden soll. Soll sie bedeutungsvoll gewählt werden, im Morgengrauen, mittags, in der Abenddämmerung oder um fünf vor zwölf?
Auch ist es gut zu überlegen, wie lange das Ritual dauern sollte. Zu lange kann erschöpfend sein, zu kurz könnte dazu führen, nicht tief genug in die rituelle Dynamik einzutauchen.
Doris wählte als Ort einen Grat im Wald, über den der Wind zugig hinwegpfiff. Nach einem Orkan lagen die Bäume abgeknickt kreuz und quer herum. Sie wusste, dass an diesem Ort in naher Zukunft Windräder gebaut werden sollten – für sie ein Symbol für neue, nachhaltige, sinnvoll gewonnene Energie. Als Zeit wählte sie die Abenddämmerung in die Dunkelheit hinein, weil zu dieser Zeit kaum Spaziergänger mehr unterwegs sind.
5. Die Rolle von beteiligten Personen überlegen
Rituale können je nach Absicht alleine oder mit anderen Personen durchgeführt werden. Vorbereitende Fragen sind: Welche Personen außer mir selbst sollen oder müssen wann und wo leibhaftig am Ritual teilnehmen? Sollen einzelne Personen durch ein Symbol einbezogen werden? In welchen Rollen sollen die Personen anwesend sein? Was sollen sie tun oder sagen? Soll jemand mich durch das Ritual hindurchführen? Wie können die Rollen feierlich im Ritual eingeführt und emotional erlebbar werden? Welche Person kann mich auffangen, wenn das Ritual emotional sehr aufwühlend sein sollte?
Sind andere Personen anwesend, sollte die Freiwilligkeit zu jedem Zeitpunkt des Rituals betont werden. Die Rollen von Menschen in der Gestaltung und Durchführung von Ritualen können sehr unterschiedlich sein. Sie liegen zwischen Initiatorin, Teilnehmer, Zeugin, Leiter, Begleiterin oder in der symbolischen Verkörperung einer wichtigen Bezugsperson.
Ein Mann, dessen Bruder bei einem Autounfall plötzlich verstorben war und den er nie richtig verabschieden konnte, da dieser im Ausland lebte, wollte sich rituell ein letztes Mal richtig verabschieden. Er bat einen Freund, im Ritual seinen Bruder zu verkörpern.
Neben äußeren Personen können besondere Kräfte in das Ritual eingeladen werden. Sie werden herbeigerufen oder durch Menschen sowie Objekte aus der Natur symbolisiert.
Doris bat eine Freundin, mit ihr das Ritual gemeinsam vorzubereiten und es für sie anzuleiten, damit sie sich geschützt durch deren haltende Energie ganz auf das Ritual einlassen konnte. Als Symbolisierung ihrer Mutter wählte Doris einen Baum. Sie lud drei ihr sehr vertraute Menschen ein, die ihr zurufen und sie anspornen sollten, alles auszudrücken, und die nach dem Ritual ihren Prozess rituell laut bezeugen und sie auffangen sollten.
6. Selbstverantwortung übernehmen
Werden einschneidende Lebensthemen im Ritual bearbeitet, ist auch mit starken, zum Teil aufwühlenden Gefühlen zu rechnen. Hier ist es wichtig, sich zu fragen, ob man diese Energien alleine auffangen kann und will oder ob besser eine ritualerfahrene Person für Schutz und Halt im Ritual sorgt bzw. das Ritual mit einer therapeutisch oder ritualerfahrenen Person vor- und nachbereitet wird.25
Manchmal lohnt es sich auch zu überprüfen, ob hinter dem Wunsch, ein Thema in einem selbst gestalteten Ritual zu bearbeiten, die Haltung steht, die Dinge alleine klären und lösen zu wollen, oder ob es Zeit ist, sich fallen und begleiten lassen zu dürfen. Und manchmal tut es ganz einfach gut, die Verantwortung für die Ritualdurchführung abgeben zu können, sich einfach dabei führen lassen zu dürfen und auf die rituelle Erfahrung konzentrieren zu können.
Diese Achtsamkeit sich selbst gegenüber sowie eine selbstverantwortliche, selbstehrliche Überprüfung und Einschätzung der eigenen Belastbarkeit und psychischen Stabilität sind zentral dafür, Rituale selbst zu gestalten.
Sollen im Ritual alte Wunden aus traumatischen Erlebnissen bearbeitet werden, ist es sehr ratsam, therapeutische Begleitung oder eine erfahrene Ritualleitung mit hinzuzunehmen. Das Ritual kann keinen therapeutischen Prozess ersetzen, und eine achtsame innere Transformation ist ein langer Prozess, der meist nicht in einem einzigen Ritual zu »machen« ist. Es ist gut zu unterscheiden, ob vielleicht erst ein therapeutischer Prozess ansteht. Rituale sind dann wie Wegmarker und bestätigen das zuvor therapeutisch Erarbeitete. Und auch wenn sich im Ritual Wesentliches ereignen kann – die eigentliche Arbeit geschieht im Alltag.
Eine begleitende Therapie ist dann sinnvoll, wenn bereits die Ritualvorbereitung innerseelisch viel auslöst, wenn man sich von den ausgelösten Emotionen überfordert fühlt und diese nicht alleine verarbeiten kann, bei länger andauernder psychischer Instabilität und wenn deutlich wird, dass es mehr Zeit für den inneren Prozess braucht und daher auch eine längerfristige Prozessbegleitung nötig ist.
Die rituelle Erfahrung auch mit anderen in einer Gemeinschaft – zum Beispiel im Rahmen eines Workshops – zu teilen, mit dem eigenen Transformationsprozess nicht alleine zu sein und die Kraft des Mitgefühls, des Gehaltenseins und des Bezeugens eines Kreises von Gleichgesinnten zu spüren, kann zentral für den eigenen heilsamen Prozess sein. Mitzuerleben und mitzufühlen, wie andere Menschen sich uns mit ihren Nöten, ihrem Ringen und ihrer Selbstwerdung zeigen und sich ihnen zuzuwenden, bettet unsere persönliche Erfahrung in den größeren Kontext des Menschseins ein.
Bei allen Ritualen sollte vorher nachgespürt werden, ob die Zeit für das Ritual reif ist und der innere Prozess, der im Ritual bestätigt werden soll, stattgefunden hat. Das Hochzeitsritual macht zum Beispiel nur dann Sinn, wenn es auch ein klares inneres Ja gibt. Wir können im Ritual nur das herbeirufen, was in uns auch bereit ist zur Wandlung. Durch ein Ritual kann nichts heraufbeschworen werden.
Ein Ritual sollte nicht durchgeführt werden bei suizidalen Gedanken und in akuten psychischen Krisen. Wenn keine klare Absicht vorliegt, es keine gute Vorbereitung, keinen geschützten Rahmen und nicht genug Zeit gibt, ist die Durchführung von Ritualen ebenfalls nicht ratsam.
7. Die Handlungsabfolge festlegen
Die letzte vorbereitende Frage bezieht sich auf die Handlungsabfolge: In welcher Reihenfolge sollen Handlungen erfolgen? Entspricht die Handlungsabfolge der Absicht und öffnet sie einen Bedeutungsraum?
Die einfachste Struktur für den Ablauf eines Rituals sind der Beginn, die Mitte und das Ende des Rituals.
Zu Beginn wird das eigene Anliegen klar und deutlich ausgesprochen. Symbolisch wichtig ist der Übergang von der alltäglichen Welt in einen Raum der Innerlichkeit und nicht-alltäglichen Wirklichkeit, in dem Seelenbewegungen möglich sind. Hier stehen die Einstimmung und der bewusste Schritt in den rituellen Raum, den anderen Wirklichkeitsbereich, im Mittelpunkt. Altes, das gerade keine Rolle spielt, wird losgelassen, um offen für das Jetzt zu werden.
Dies kann durch sehr kleine symbolische Handlungen erfolgen: durch einen Ast, der zu einem Torbogen geformt ist und durch den man hindurchgeht, etwas Erde auf die Wangen streichen, gemeinsam rasseln, trommeln, atmen, sich mit dem Rauch von getrocknetem Salbei reinigen, mit Maismehl oder Reis einen Schutzkreis um den Ritualplatz ziehen, einfach einen bedeutungsvollen Schritt nach vorne gehen oder mit laut gesprochenen Worten »Das Ritual mit der Absicht … beginnt«. Damit wird der Beginn klar markiert.
Man kann auch Gefühle oder Qualitäten einladen, wie zum Beispiel Schutz oder Führung. Je nach Kontext können zu Beginn die Kräfte der vier Himmelsrichtungen angerufen werden. Es ist sinnvoll, diesen Energien von dem Anliegen zu erzählen, ihnen zu sagen, weshalb sie gerufen werden. Der Respekt gegenüber diesen Kräften ist sehr wichtig, denn »die Geister, die ich rief«, können sehr machtvoll sein, gerade in der Natur.
Anschließend erfolgt im Kern des Rituals der kreative Akt, in dem sich die Transformation entfaltet. Die Kernhandlung besteht meist darin, dass das gewählte Symbol gestaltet und durch eines der vier Elemente Feuer, Erde, Wasser und Luft transformiert wird. Im Kern kann das Ritual je nach Anliegen wieder der bekannten Struktur von Loslösung, Schwelle und Neuanbindung folgen oder einen Aspekt dieser drei Phasen herausgreifen. Alle drei Phasen können in einem oder auch in mehreren zeitlich auseinanderliegenden Ritualen an drei unterschiedlichen Plätzen in der Natur durchgeführt werden. Die Entscheidung darüber und wie viel Zeit zwischen den einzelnen Phasen vergehen soll, richtet sich nach dem persönlichen Prozess.
In der ersten Phase der Loslösung geht es um die Würdigung einer vergangenen Lebensphase und um das Verabschieden vom Alten.
Die zweite Phase der Schwelle ist geprägt von dem bewussten Eintreten in den Schwellenraum des Nichtswissens und des »Nicht-mehr-und-noch-nicht«, in dem die Transformation geschieht. Aus diesem bewusst wahrgenommenen Raum des Übergangszustands und der Leere kann das Neue entspringen. Hier erfolgt die eigentliche Kernhandlung des Rituals; Menschen erfahren sich dabei in neuen Rollen, Überzeugungen oder finden einen neuen Namen für sich. Mit Objekten oder Symbolen wird die Zeremonie durchgeführt, die einen transformativen Charakter hat, zum Beispiel indem ein Brief symbolisch verbrannt oder ein Ring dem Fluss übergeben wird.
In der dritten Phase der Neuanbindung wird das Neue begrüßt und mit dem Alltag verbunden. Dies kann eine neue Rolle, Identität oder Haltung sein. Dabei ist die Frage handlungsleitend, was auch für die Zukunft und für das Neue eine Kraftquelle sein könnte.
Zum klaren Abschluss des Rituals gehören Dank und das Begrüßen des Neuen oder ein erster symbolischer Schritt auf das Neue hin. Ein Abschlusskreis in einer Gruppe, das Auspusten einer Kerze oder das Zurückkehren über die Schwelle markieren den Abschluss des Rituals. Wenn Kräfte gerufen wurden, wird ihnen zum Abschluss gedankt und sie werden aus dem Ritual entlassen. Wenn ein Schutzkreis gezogen wurde, wird dieser wieder aufgelöst. Das Ende des Rituals kann auch Bezug zum Beginn nehmen; dies rundet das Ritual ab. Alle Reste und Spuren des Rituals werden beseitigt.
Wenn die drei Phasen Beginn, Kern und Abschluss des Rituals vorbereitet wurden, kann überlegt werden, welche Wirkung es möglicherweise hat und was deshalb gleich danach am besten geschehen sollte.
Ist die Vorbereitung abgeschlossen, folgt eine Neuordnungsphase, in der sich das Vorbereitete noch einmal setzen kann. Der innere Verarbeitungsprozess wird stimuliert und in Gang gehalten. Während dieser Phase können Gegenstände gestaltet werden, wie Bilder, Geschichten, Briefe oder Symbole.
Wie ein Ritual wirkt, ist trotz aller Planung nicht vorhersagbar. Viele Menschen berichten, dass sie durch ein Ritual mehr Halt finden und einen neuen Lebensabschnitt beginnen. Eine verlorengegangene Haltung kann im Ritual wiederentdeckt oder Belastendes verarbeitet und gewürdigt werden.
Obwohl die Absicht für das Ritual klar formuliert wird, bleibt die Reise im Ritual offen für Überraschungen und das Unerwartete. Wertung wird ersetzt durch schauendes Vertrauen. Es ist hilfreich, der dem Ritual eigenen Dynamik und Präsenz zu folgen, vielleicht auch den wohl überlegten Ablauf hier und da zu verlassen, um der Spontaneität nachzugeben.
Im Ritual treten wir aus dem irdischen in den »anderen Raum« jenseits des Alltagslebens, indem eine Verbindung mit dem Größeren möglich wird. Verbunden mit den Kräften und Wesen der Natur können wir spüren, wie wir in größere kollektiv wirkende Kräfte des Lebendigen eingebettet sind und wie diese uns bei der Heilung unterstützen. Der Raum für das Numinose, Heilige, kann sich öffnen. So stärken Rituale die Bindungen zwischen dem persönlichen Bewusstsein und den Schichten des kollektiven Unbewussten und können auch der inneren Widersprüchlichkeit Ausdruck verleihen.
Zum Abschluss eines längeren therapeutischen Prozesses bringt Herr Bergmann ein Foto von einer Skulptur mit, das fast zwanzig Jahre seinen Schreibtisch »schmückte«: Die Skulptur zeigt einen gesichtslosen Menschen, bei dem zwischen Armen und Händen sowie zwischen Beinen und Füßen ein Teil des Körpers zerschnitten und herausgetrennt war, wie Schichten, die fehlten. Das Foto sei der treffende Ausdruck seines alten, unverbundenen Ichs, und die Zeit sei gekommen, dieses alte Selbstbild zu verabschieden.
In einem spontanen Ritual verbrennt er das Foto. Als er im nahegelegenen Park die Asche aus der Schale rituell auf die Erde ausschüttet und ihr dabei für ihre transformierende Kraft dankt, war für ihn das Ritual beendet. In diesem Moment kam eine kräftige Windböe, wirbelte die Asche in die Höhe und nahm eine Form an, die wie ein davonschwebender Geist aussah. Er war tief ergriffen und spürte, dass nun wirklich ein »Geist« von ihm gehen konnte, der ihn lange geprägt und belastet hatte. Er schaute noch eine ganze Weile dem »aufsteigenden Geist« nach und nahm dessen Auflösung ganz bewusst wahr.
Das Ritual beendete er mit dem Dank an den Wind. Dieses eindrückliche Bild begleitete und nährte ihn noch lange, vor allem in schwierigen Situationen. Der alte Geist, der ihn in die Therapie führte, konnte endlich gehen.
Der Einbruch des Numinosen, Heiligen, dieser ganz anderen Ebene im Ritual, ist natürlich nicht machbar. Die Natur mit ihren Kräften, Elementen und Wesen – Bäumen, Steinen, Tieren, Pflanzen – unterstützt die Möglichkeit für numinose Begegnungen. So können wir den numinosen Raum wiederentdecken. Er ist geheimnisvoll, absichtslos, würdevoll und gegenwärtig.
Das Beispiel verdeutlicht, wie kraftvoll es sein kann, die Natur auch über die Elemente Feuer, Wasser, Luft und Erde in die therapeutische Praxis hineinzuholen. Das können einzelne Ritualabschnitte sein, so wie im oben genannten Beispiel, oder auch ganze Rituale. Ebenso ist es vorstellbar, Klientinnen und Klienten zwischen zwei Therapiesitzungen Ideen für rituelle Auszeiten in der Natur zu geben, die sie in der Zwischenzeit durchführen können und die anschließend im therapeutischen Rahmen besprochen werden. Diese ganz andere Quelle tiefen Wissens um Heilung kann so in die Therapie mit einfließen. Mögliche rituelle Handlungen sind etwa: Es kann etwas in einer feuerfesten Schale verbrannt, mit Tinte Geschriebenes in einer Wasserschale rituell aufgelöst oder ein Same für etwas Neues in einen Blumentopf mit Erde gepflanzt werden. Auch können Klientinnen rituell Gegenstände in der Natur sammeln, die für Personen oder Qualitäten in ihnen stehen. Damit kann wunderbar szenisch gearbeitet werden. In jeder Therapie gibt es Situationen, in denen Naturrituale sinnstiftend und erweiternd eingebunden werden können.
In der Nachbereitung des Rituals kommen die Aspekte Reinigung, Erdung und Wiedervereinigung zum Tragen.
Im unmittelbaren Anschluss an das Ritual erfolgt die Reinigung, z. B. mit Duschen, Baden und dem Wechseln der Kleider. Es folgt die Erdung, z. B. mit Kochen oder einem Dankesessen. Es ist sinnvoll, ganz bewusst wieder in die eigene Körperlichkeit zurückzufinden und die Wiedervereinigung mit dem Alltag zu würdigen. Dafür braucht man Zeit. Das Erlebte aufzuschreiben und einer Person des Vertrauens in einem achtsamen Kontext zu erzählen, kann das Erlebte vertiefen und zur Integration in das Alltagsleben beitragen.
Selbstgestaltete Naturrituale können auch sehr gut im Rahmen einer rituellen Naturwanderung oder Auszeit durchgeführt werden, die das Herzstück von Ritualen in der Natur sind. Der rituelle Raum und die besondere Atmosphäre der Verbundenheit mit der Natur sind bereits geschaffen. Spezifische Trennungs-, Versöhnungs-, Ruf- oder Kraftrituale werden dann zum zentralen Bestandteil der gesamten rituellen Auszeit.
Mit einer rituellen Auszeit können selbstgestaltete Rituale auch vorbereitet werden.
Während eines Hochzeitsrituals gehen alle Gäste für eine halbe Stunde rituell in die Natur und suchen ein Symbol dafür, was die Liebe in ihrem Leben erhält. Die gefundenen Symbole werden dem Brautpaar mit begleitenden Wünschen mit auf den Weg gegeben.
Während die rituelle Naturwanderung mehr die Bewegung und damit symbolisch den eigenen Weg betont, bezieht sich die rituelle Auszeit allgemeiner auf den bewussten Rückzug aus der gewohnten Alltagswelt in die Natur.
Die Grundidee der rituellen Naturwanderung bzw. Auszeit in der Natur ist, mit einer bestimmten Absicht in die Natur zu gehen und dort im Kontakt mit den Wesen der Natur und durch das, was die Natur spiegelt, Antworten auf wichtige Lebensfragen zu finden. Im Unterschied zu einem »normalen« Spaziergang wird alles, was geschieht, als bedeutsam für die eigene Fragestellung angesehen. Es ist eine Welt der Bilder und Symbole, eine heilige Welt mit Botschaften und Bedeutungen, die bewusst und absichtsvoll betreten wird. Jede Beobachtung, jeder Weg, jede Begegnung mit Wesen in der Natur und alles, was geschieht, wird als Resonanz auf die eigenen seelischen Schwingungen verstanden.
Die Absicht kann eine individuelle Frage sein oder eine Aufgabe, die sich am jeweiligen Lebensübergang und am Rad des Lebens orientiert. Durch die Absicht bzw. Frage wird die eigene Aufmerksamkeit ausgerichtet.
Dabei ist es gut, offen für die Antworten zu bleiben. Fixieren wir uns etwa darauf, eine Entscheidung treffen zu müssen, bei der die Natur unbedingt helfen soll, verschließen wir uns für andere Erlebnisse. Die Botschaften der Natur sind nicht eins zu eins entschlüsselbar, vielmehr regen sie unsere inneren Bilder und unsere Intuition an. Vielleicht liegen unserer Frage andere Themen zugrunde oder es stehen ganz andere Dinge an, als unser bewusster Wille sagt. Die Natur zeigt uns dann mitunter einen unerwarteten Weg.
Um den Unterschied von der normalen Alltagswelt in den rituellen Raum klar zu gestalten und bewusst in diesen einzutauchen, wird eine rituelle Schwelle in die andere Welt überschritten, wodurch der rituelle Raum eröffnet wird. Die Schwelle verweist auf das Ende der Alltagsrealität und hilft, in die andere Wirklichkeit zu wechseln. Sie ist ein Symbol des Übergangs. Die Schwelle erzeugt ein energetisches Feld und bedarf daher in Mythen oft des Schutzes, wie die Sphinx.
Bekannte Schwellenrituale sind, eine Braut über die Schwelle zu tragen oder Symbole über eine Türschwelle zu schreiben oder zu hängen.
Da es in der Natur keine Türen gibt, die innen von außen abgrenzen, wird Ausschau gehalten, was gut geeignet erscheint, den Übergang zu symbolisieren. Das kann ein zum Tor gebogener Ast sein, eine Wurzel, über die man steigt oder ein Strich, der auf dem Boden gezogen wird.
Wie bei den Ritualen folgen auch die rituelle Naturwanderung und die rituelle Auszeit dem Wandlungsmuster von Loslösung, Schwelle und Reintegration. Bevor die Schwelle überschritten wird, ist es sinnvoll, einen Moment innezuhalten und sich mit dem eigenen Anliegen zu verbinden. Die Absicht kann auch laut ausgesprochen werden. Anschließend wird ein bewusster Schritt über die Schwelle gemacht. Am Ende der rituellen Auszeit wird die gleiche Schwelle zurück in die normale Welt gewählt. Im Innehalten vor dem Überschreiten zurück in den Alltag kann für das Erlebte noch einmal gedankt werden. Anschließend wird die Schwelle aufgelöst, um den rituellen Raum klar abzuschließen.
Bereits in der Wahl der Schwelle und beim Überschreiten kann sich das seelische Thema entfalten und widerspiegeln.
Eine achtzehnjährige Frau geht mit der Frage, ob sie nach der zwölften Klasse von der Schule abgehen oder bis zum Abitur durchhalten soll, auf eine rituelle Naturwanderung. Als Schwelle wählt sie einen bewussten Schritt über einen kleinen Bachlauf. Dabei rutscht sie ab und steht bis zu den Knien im Wasser.
Ihr wird sofort deutlich, dass das Wasser für die fließende Energie in ihr steht. Aber sie muss sich dafür auch »nass machen«: Sie muss bereit sein, sich einzusetzen, mit den Hindernissen auf ihrem Weg leben zu lernen und den Schritt ins kalte Wasser wagen. Sie versteht ihre Erfahrung als heitere Ermutigung, ihre Kraft mehr ins Leben zu bringen, unabhängig davon, welchen Weg sie wählen wird.
Ein weiterer Unterschied zwischen der rituellen Auszeit und einem Spaziergang ist der bewusste Verzicht auf Ablenkungen. Es gilt die Regel: Essen, Gemeinschaft und Schutz durch eine Überdachung werden weggelassen. Alleine und fastend draußen, ohne Ablenkung vom Alltag, der gewohnten Umgebung, ohne etwas zu tun zu haben, wird es möglich, sich selbst auf eine tiefere Art zu begegnen und zuzuhören. Zurückgeworfen nur auf sich und die Natur, kann die eigene Identität deutlicher spürbar werden. Fragen nach dem, was von innen nährt und trägt, wenn alles Äußere wegfällt, ermöglichen einen direkteren Kontakt mit den Bedürfnissen der Seele.
Zugleich ist der bewusste Verzicht auch eine Hingabe an die »Verdauungsarbeit« der Seele. Das rituelle Fasten öffnet feinere Sinnesebenen und macht durchlässiger für Erfahrungen in der Natur.
Es wird auch darauf verzichtet, ein Feuer zu machen. Damit wird die menschliche Dominanz gegenüber der Tierwelt aufgegeben. Nur in wohlüberlegten Ausnahmen wird ein kleines rituelles Feuer entzündet. Dabei wird dann jedes Holzstück, das ins Feuer gegeben wird, mit Absicht oder einem Gebet ganz bewusst hineingelegt. Die Natur wird so hinterlassen, wie sie vorgefunden wurde. Aus Respekt vor dem Lebensraum anderer Wesen beseitigen wir symbolisch wieder unsere Spuren und hinterlassen nichts außer den eigenen Fußabdrücken.
Sich rituell in der Natur zu bewegen heißt, keinen vorgegebenen Weg zu gehen. Wir wählen den Weg, der den eigenen Impulsen entspringt. Die Füße weisen uns den Weg und wir nehmen wahr, wohin sie uns tragen wollen. Das bedeutet, vom Weg und vom ursprünglich erdachten Ziel abzuschweifen, uns treiben zu lassen, dort hinzugehen, wo wir spüren, dass es uns hinzieht.
Wenn wir uns achtsam in der Natur bewegen, in Zeitlupe laufen und einen »Schneckengang« einlegen, erfahren wir mehr, öffnen uns für die leisen Töne und Botschaften der Natur. Tiere reagieren darauf unmittelbar. Sie kommen näher, zeigen sich mehr, sind weniger schreckhaft.
Vor allem in unwegsamem Gelände gilt die Regel, dass entweder gegangen oder geschaut wird. Beides gleichzeitig führt zu Unachtsamkeit. Da sich das eigentliche Abenteuer innen ereignet und nicht im Außen, werden gefährliche Klettereien oder andere brisante Handlungen vermieden. Die physische Unversehrtheit und Sicherheit sind der tragende Rahmen, um sich seelischen Themen zu widmen.
Während der Zeit in der Natur sind wir eingeladen, einfach nur absichtslos dazusein und leer zu werden. Das Einzige, was es zu tun gibt, ist, im Kontakt mit sich selbst und den Wesen der Natur zu sein. Eine zu klare Zielorientierung lässt vielleicht an den leisen Zeichen vorbeisehen. Zu beobachten, was ohne unser bewusstes Zutun kommt, ist eine bewegende Erfahrung.
Sich Zeit zum Staunen und Lauschen zu nehmen, sich von Tierspuren den Weg weisen zu lassen, mit dem Wind, einer Blume oder Eidechse zu sprechen, in Baumrinden Gesichter zu sehen oder sich von Wolkenformationen etwas mitteilen zu lassen – all das eröffnet einen absichtslosen Raum, in dem sich neue überraschende Einsichten ankündigen können. Wenn ein Platz zum Verweilen einlädt, kann sich im Halbschlaf ein bedeutsamer Traum zeigen.
Die eigenen Lebensthemen finden oft ein erstaunliches Echo in der Natur, aus Richtungen, aus denen dies am wenigsten erwartet wird. Die äußere Umgebung wird zum Spiegel, in dem sich die inneren Themen zeigen. Unser Offensein für das Geschehen in der Natur und die Schönheit des Lebendigen verändert unseren Blick auf das eigene Leben.
Auch unsere Gefühle und körperlichen Symptome können zu hilfreichen Botschaftern werden. Was will der Kopfschmerz oder die Angst mir sagen? Welche Botschaft hat die Schwere? Woher kommt meine Freude? Diese Phänomene werden bewusst wahrgenommen. Sie können das Tor zu einem wichtigen seelischen Aspekt sein.
Die Tiere und Vögel des Waldes, der Wiesen, der Berge und der Seen haben uns meist schon lange gesehen, gehört oder gerochen, noch bevor wir selbst sie wahrgenommen haben. Bei einer rituellen Auszeit in der Natur treten wir in den bereits von Tieren und Pflanzen bewohnten Raum ein. Achtsam mit diesem Gastrecht umzugehen, ist ein Zeichen des Dankes für all das, was die Natur uns emotional, physisch, seelisch und geistig schenkt. Wir können uns auch mit Worten beim Platz bedanken oder etwas für die Tiere zurücklassen, etwa ein paar Haare für die Nester der Vögel. Traditionell wurde an Ritualplätzen Kräuter, Mais oder Tabak verschenkt.
Wenn sich ein Tier nähert, kann es eine neue Erfahrung sein, einfach still und bewegungslos stehen zu bleiben und zu beobachten, was passiert.
Während einer rituellen Auszeit werden Begegnungen mit Menschen gemieden. Alltagskontakte führen dazu, dass die rituelle Ebene verlassen wird. Wenn doch eine Begegnung stattfindet, kann der andere ebenso als Bote angesehen werden. Dann können wir überlegen, womit wir gerade beschäftigt sind, eine Frage formulieren und diese dem fremden Menschen stellen. Die Antwort kann vielleicht wichtig für das eigene Lebensthema sein.
Die Auszeit kann von zehn Minuten bis zu mehreren Tagen wie bei einer Visionssuche dauern. Auch sehr kurze Auszeiten können intensiv und lehrreich sein. Um sich größeren Lebensthemen zuzuwenden, kann eine rituelle Auszeit von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang der richtige zeitliche Rahmen sein. Die meisten rituellen Auszeiten und Naturwanderungen dauern zwei bis vier Stunden.
Rituelle Auszeiten, die länger als einen Tag in der Natur andauern und die über Nacht gehen, bedürfen einer sorgfältigen Vor- und Nachbereitung. Es ist sinnvoll, durch eine erfahrene Person begleitet zu werden. In jedem Fall empfiehlt es sich, einer Person des Vertrauens Bescheid zu geben, wohin Sie gehen und wie lange Sie unterwegs sein werden. Es ist wohltuend zu wissen, dass es möglich ist, früher zurückzukehren und von einer vertrauten Person empfangen zu werden. Diese kann Sie während Ihrer Auszeit durch gute Wünsche, Gebete oder einfach ihr Dasein unterstützen, Sie an der Schwelle verabschieden und empfangen sowie z. B. eine Suppe für Ihre Rückkehr kochen. Im Anschluss an eine längere Auszeit ist es gut, die Erlebnisse in einem vertrauten Kreis zu teilen.
Bei rituellen Auszeiten, die länger als zwei Stunden andauern, wird in der Regel ausreichend Wasser, ca. vier Liter pro Tag, mitgenommen. Ebenso werden ein Tagebuch, Traubenzucker oder Honig für den Notfall, ein Taschenmesser, eine Trillerpfeife, ein Dreieckstuch, Sonnenschutz, eine kleine Sitzmatte, warme Kleidung für kühleres Wetter und Regen in einen Rucksack gepackt. In der Regel bleiben Uhr und Wanderkarte zu Hause; ein Handy wird nur für Notfälle bei Wanderungen in unbekannten, abgelegenen Gebieten eingepackt, bleibt aber ausgeschaltet. Es wird so viel wie nötig und so wenig wie möglich mitgenommen. Zugleich hat die Sicherheit eine hohe Priorität bei rituellen Wanderungen. Aus Respekt vor sich selbst und dem Wohl der Menschen, mit denen man verbunden ist, gilt es, lieber vor der Zeit zurückzukehren, als sich bis zum Ende hin zu quälen, nur um »durchzuhalten«.
Wird ein unvertrautes Gebiet gewählt, ist es gut, sich im Gelände Orientierungspunkte zu merken.
Als Einstieg eignen sich die drei nachfolgenden rituellen Auszeiten:
Direkt nach der Auszeit braucht es die Achtsamkeit für den besonderen Raum. Wie nach einem Ausflug in die Tiefen des Meeres tauchen wir ganz langsam auf, halten alle drei Meter an, bis wir uns an die neuen Verhältnisse angepasst haben. Die Rückkehr in den Alltag braucht ihre Zeit. Dabei verhalten sich die gewonnen Tiefenerfahrungen wie Treibholz, das auf den Wellen der erlebten Bilder schwimmt und langsam ans Ufer des Bewusstseins treibt. Es ist gut, den Gefühlen und dem Erlebten noch eine Weile nachzufühlen und es erst dann aufzuschreiben. Vielleicht erinnern wir uns an emotionale Kipppunkte während der Auszeit oder möchten einfach das Erlebte malen. Wir können singen, uns an die Atmosphäre erinnern oder in Kontakt mit einem Wesen bleiben. Und wir können uns auch selbst würdigen für das Thema, für das wir in die Natur hinausgegangen sind und um Unterstützung gebeten haben.
Manchmal stellt sich am Ende einer Auszeit das Gefühl ein, es wäre nichts Besonderes passiert und es hätte nicht richtig funktioniert. Wir bewerten die Erfahrungen vorschnell oder zerteilen sie durch Analyse. Viele Botschaften können jedoch so frisch nach der Erfahrung noch nicht verstanden werden. Statt zu interpretieren, können wir unsere Aufmerksamkeit wieder zu den Erlebnissen aus der Auszeit und zu unseren Gefühlen zurücklenken. Wenn wir irritiert von dem Erlebten sind, können wir die Augen schließen und innerlich ein uns bedeutsames Naturwesen um Rat dazu fragen. Wir können uns auch prüfen, ob es wirklich wichtig ist zu verstehen oder ob das Fühlen ausreicht.
Eine schöne Möglichkeit ist es, Menschen des Vertrauens einzuladen und die eigene Geschichte rituell zu erzählen. Gehen Sie dabei sehr sorgsam mit Ihrer Geschichte um und achten Sie sehr genau darauf, was Sie wem in welchem Rahmen erzählen. Zu schnelle Bewertungen von außen können die eigene seelische Erfahrung überlagern. Nicht jeder Außenstehende kann nachvollziehen, was ein Dialog mit einem Ameisenhaufen für Sie persönlich bedeutet. Ein einfühlendes Gegenüber, das aufmerksam zuhört und Ihnen Ihre Erfahrung spiegelt, ist hilfreicher, als wenn Ihre Geschichte diskutiert oder zerredet wird.
Eine andere Möglichkeit nach einer eigenen rituellen Auszeit ist natürlich auch, nichts zu tun, außer in die Wandlung zu vertrauen und sich dann überraschen zu lassen, was bereits im Leben erscheint und wie wir im Alltag anders handeln.
Vergleichen wir das Erdzeitalter mit einem Kalenderjahr, dann würde der Mensch erst am 31.12. um zwölf Uhr mittags auftauchen. So gesehen ist der Mensch noch ein Baby auf der Erde, die schon so viel erlebt hat. Aufgrund ihrer uralten Weisheit im Wandel aller Zeiten: Wer sonst könnte als Gesprächspartnerin besser in Frage kommen als die Erde, die lebendige Natur?
Doch statt sich als Lernender und Unwissender, der bei der Erde um Rat suchen kann, zu verstehen, stellt der Mensch sich in eine ganz andere Hierarchie: Vereinfacht gesprochen sieht der Mensch sich ganz oben und die Wildnis ganz unten.26 Aber die Erde braucht nichts von uns, während wir alles, was wir zum Leben brauchen, von ihr nehmen. Die Hierarchie ist in Wirklichkeit genau umgekehrt.
Die zentrale Frage, die sich hier stellt, ist: Wie können wir uns von der Natur den Weg weisen lassen, wenn unser Verhältnis zu ihr derart gestört ist? Wie können wir uns wieder öffnen für ihre Stimme sowie für unsere eigene tiefe innere Weisheit, die sich in ihr spiegelt? Wie können wir empfänglich sein für die Weisheit der Erde? Diese Stimme ist noch tief in uns verborgen.
Als Kinder hatten auch wir einen unmittelbaren, tiefen Zugang zur Natur. Wir umarmten Bäume, sprachen mit den Vögeln. Bachläufe und Sträucher waren beseelt, voller Magie und luden zum spontanen Spiel ein. Als Kinder waren wir empfänglich für und eins mit der natürlichen Welt. Irgendwann verlor sich die Selbstverständlichkeit, mit Pflanzen und Baumelfen zu sprechen. Der natürliche, spontane Dialog mit der Natur hörte auf. Vielleicht wurde das natürliche Verbundensein als animistisches, noch unreifes und noch nicht erwachsenes Bewusstsein bewertet. Die innere Stimme, durch die Naturwesen zu uns sprechen, wurde sehr sehr leise.
Auch als Erwachsene wissen wir, dass wir uns in der Natur mit der Natürlichkeit des Lebens wieder verbinden und unsere heilsamen Quellen tiefer spüren können. Obwohl wir unserer Mitwelt achtsam und respektvoll begegnen wollen, führen uns Natur- und andere Katastrophen sowie ein großes Ungleichgewicht in Ökonomie und Ökologie weltweit vor Augen, dass wir davon weit entfernt sind.
Wollen wir mit der Natur in Dialog treten, müssen wir auch eine Jahrhunderte lange Entfremdung und deren Auswirkungen überwinden. Das heutige Ergebnis dieser umfassenden Entwurzelung kennen wir alle. Da wir die Kreisläufe nicht mehr als Ganzes sehen, sondern nur noch ihre fertigen Endprodukte, wissen wir nicht mehr, wo unser Gemüse gewachsen, die Tiere des Fleisches, das wir essen, gegrast haben. Wir beschäftigen uns nur selten damit, dass für die Produktion des Atomstroms hierzulande Milliarden Liter Quellgrundwasser in Australien zur Ausschwemmung von Uran unwiderruflich radioaktiv verseucht werden. Essen wir »günstigen« Fisch, denken wir nicht daran, dass die Meere in dreißig Jahren leergefischt sein werden. Damit vernichten wir die Lebensgrundlagen für alle nachkommenden Generationen und alle zukünftigen Tiere und Pflanzen auf dieser Erde. Das heißt, dass wir in unserem täglichen Handeln eine große Spaltung praktizieren.
Noch betrachtet die industrielle Wachstumsgesellschaft die Welt wie einen großen Speicher, aus dem wir die Ressourcen herausnehmen und den Müll hineingeben können. An jedem Tag werden fünfhundert Millionen Plastikflaschen weggeschmissen, verhungern vierzigtausend Kinder, in jeder Sekunde werden dreitausend Quadratmeter Wald abgeholzt. Arten sterben unwiderruflich – all das wissen wir. Wir wissen auch, dass es so nicht weitergeht. Und wir wissen, dass wir das oft nicht wissen wollen.
Diese Paradoxie ist nur zu verstehen vor dem Hintergrund eines technologischen Naturverständnisses, das zur fixen Idee geführt hat, dass der Mensch außerhalb der Natur sei. Die daraus folgende Ausbeutung prägt auch unsere zwischenmenschlichen Beziehungen in Jahrhunderte lang währenden Herrschaftssystemen. Im Zustand der Welt spiegelt sich auch unsere Beziehung zur ihr.
Der moderne Mensch hat sich weitgehend von den Rhythmen der Natur abgekoppelt. Früher spielte die Verbundenheit mit den Wachstumsrhythmen der Natur eine existenziell wichtige Rolle. Seit der Nahrungsmittelmassenproduktion sind wir darauf nicht mehr angewiesen und seit der Erfindung des Stroms durchbrechen wir den Tag-Nacht-Zyklus.
Durch die Psyche des modernen Menschen geht ein tiefer Riss: die illusionäre, aber tragische Abspaltung seiner Existenz vom lebendigen Körper der Erde. Diese tiefe Spaltung hat zahlreiche kulturgeschichtliche Wurzeln. Mit dem aufkeimenden rationalen Bewusstsein am Ende des Mittelalters ging die Befreiung vom Ausgeliefertsein an die Naturmächte und die Zerstörung des alten Abhängigkeitsverhältnisses von der Natur einher. Die Idealisierung der Vernunft, der Beginn der exakten Naturwissenschaften, die Aufklärung und die zunehmende Industrialisierung unterstützten den Prozess der Naturbeherrschung. Zur Realisierung dieser neuen Weltordnung musste zwangsläufig alles Naturhafte, alles Mystische bekämpft werden. Man hat uns die Angst vor der bösen Natur gelehrt und uns erzählt, dass der Wald gefährlich sei. Die in früheren Kulturen verehrten Göttinnen sind zu bösen Hexen umgedeutet worden; die Waldgeister verschwunden. Wir haben vergessen, dass wir Natur27 sind. Doch heute ist das ausschließlich rationale, kausal-lineare Denken überholt.
Viele Wissenschaftler, Denkerinnen und Philosophen gehen davon aus, dass wir uns in einer Wendezeit und einer Revolution der Nachhaltigkeit28 befinden, in der das Bewusstsein für die Ganzheit alles Lebendigen erwacht und verantwortliche Fürsorge für die Natur und damit letztlich für uns selbst wächst. Denn wie können wir uns selbst achten, wenn wir mit der Erde nicht achtsam umgehen?
Unser Umgang mit Mitmenschen und anderen Lebewesen ruft nach einem tiefgreifenden Wandel. Die Zeit ist reif für ein erweitertes Naturverständnis, in dem wir anerkennen, dass wir selbst Natur sind, Asche von der Asche der Erde, Wasser von ihrem Wasser. Der Phosphor, der in unserem Körper gebunden ist, war bereits achttausend Mal Teil eines anderen Lebewesens.29 Wenn wir einen Schluck Wasser trinken, dann ist es zuerst »nur« Wasser. Sobald wir es aber hinunterschlucken, wird es zu uns selbst. Wo ist der Unterschied, die Trennlinie zwischen äußerer und innerer Natur? Die Luft, die wir ausatmen, wird von den Bäumen und anderen Wesen eingeatmet. Das Wasser, das in unserem Körper gebunden ist, wird im Laufe der nächsten Jahrzehnte die Träne eines Kindes, ein Tautropfen in einem Spinnennetz, ein Regentropfen oder Gischt sein. Wir sind immer Natur und immer mit dem Wind, der Erde, der Luft und dem Feuer verbunden. Ohne sie würden wir nicht existieren. Die Erde ist unser erweiterter Körper. Die grundlegende Entwurzelung und Entfremdung von der Natur und ihren zyklischen Prozessen führt dazu, dass wir nicht mehr spüren, dass wir es letztendlich sind, welche die Folgen des Umgang mit der Natur zu spüren bekommen. Das Wasser, das wir mit Schwermetallen, Dioxinen, Düngemitteln aus konventioneller Landwirtschaft, mit Östrogenen aus einer unwürdigen Massentierhaltung belasten, ist letztlich dasselbe Wasser, das einmal in den Seen, in denen wir baden, aus unserem Wasserhahn und in unseren Körpern fließen wird. Alles landet im großen Kreislauf der Natur und damit letztendlich in uns. Es gibt kein Wegschütten oder Wegwerfen. Wir bleiben immer eingebunden in dieses Wechselspiel.
Joanna Macy und Arne Naess, die Begründer der Tiefenökologie, sprechen in Bezug auf dieses Bewusstsein vom ökologischen Selbst, das ein Teil des Ganzen ist.30 Die Gaia-Theorie erinnert uns daran, dass die Erde selbst ein lebendiges Wesen ist. Im rituellen Dialog mit der Natur entwickeln und erweitern wir dieses Bewusstsein und erkennen, dass wir zur Natur dazugehören. Wir werden vom Leben geatmet, wir teilen unseren Atem mit allen Lebewesen. Ein solches erweitertes Selbst- und Naturverständnis würde uns unterstützen, die Entfremdung von der Natur zu überwinden und unser Verbundensein mit der Natur tiefer zu erleben.
Lassen wir dieses Wissen vollumfänglich zu, dann fühlen wir mit all den Wesen und dem, was auf der Erde passiert, mit, und dies ist kaum auszuhalten; die Spaltung geschieht dann fast unweigerlich, weil der Schmerz zu groß wäre. Vielleicht resignieren wir oder fühlen uns schuldig. Schuldgefühle bewirken jedoch eher, dass wir uns verschließen, statt dass wir uns für die Stimme der Erde öffnen. Statt sich zum Beispiel mit Schuldgefühlen wegen des Artensterbens zu quälen, können wir die Schönheit und Weisheit dieser einmaligen unersetzlichen Arten still würdigen. Wir können uns den Verlust bewusstmachen und ihn in Erinnerung halten. Wir können nachdenken über unsere Liebe für die natürliche Welt, uns darauf besinnen und innerlich an die Tiere, Pflanzen und Bäume denken, die uns kostbar sind. Es geht immer mehr darum, die Augen und Herzen offenzuhalten.
In der indianischen Tradition war jeder Teil der Erde heilig. Flüsse, Wind, Grashalme waren Brüder, Schwestern, Verwandte und daher auch wichtige Weggefährtinnen und Wegweiser. Der Große Geist wohnte in allem und beseelte alle Wesen. Die Natur war Ausdruck dieses lebendigen Wesens, das verehrt und geheiligt wurde.
Diesen uralten Weg, mit Tieren, Pflanzen und Steinen zu sprechen, von ihnen zu lernen und in ihnen die Stimme des »Großen Geistes« zu hören, wollen Menschen heute wieder aufnehmen. Sie wollen den Riss überwinden. Im Bewusstsein des modernen Menschen ist das uralte Bedürfnis nach Rückverbindung durch den Dialog mit der Natur deutlich zu spüren. Es ist die Sehnsucht, die Wildnis in unserer Seele zu entfesseln, die unterdrückt wurde. Menschen möchten ihre innere Wildnatur, ihr wildes Denken und ihr ursprüngliches Sein jenseits von Anpassungen und unverdeckt von Überformungen wiederentdecken. Eine solche ausgeprägte Sehnsucht nach tiefer Naturverbundenheit und Beseeltheit alles Lebendigen ist auf dem Boden des entmythologisierenden, aufgeklärten, rationalen Zeitgeistes, wie er sich im zwanzigsten Jahrhundert verdichtet hat, nur zu gut zu verstehen.
Zwar ist die äußere Wildnis, zumindest in Deutschland, weitgehend verschwunden. Aber die innere Wildnis ist eine Geisteshaltung und nicht ein Gebiet. Sie kann innerhalb kürzester Zeit im Dialog mit der Natur »wiederbelebt« werden.
Das Bewusstsein um die innere Wildnis erleichtert es, sich auf die Natur als Dialogpartnerin und Wegweiserin einzulassen. Umgekehrt verleiht das Sein in der Natur Respekt vor allem Lebendigen und wandelt unser Handeln in der Welt.
Menschen, die mehrere Tage fastend und rituell in der Wildnis verbringen, beschreiben, wie sie sich nach und nach als ein tief zugehöriger Teil der Natur fühlen. Ihr Leben verwebt sich mit den Wesen der Natur und durchdringt die Erfahrung, dass alle Lebewesen wechselseitig aufeinander bezogen sind. Sie erleben, dass sie wie der Baum und der Wind ein natürliches Wesen sind, im Land, in den Jahreszeiten, im Wind leben und vom Land lernen. Die Kräfte der Natur, die Elemente werden direkt und unmittelbar erlebt; allmählich hebt sich die Trennung von Ich und Natur auf.
Dieses seelische und spirituelle Verbundensein knüpft daran an, dass wir uns in ein archetypisches Feld der Weisheit hineinbewegen können, in dem der Mensch über viele Jahrtausende in einer natürlichen Welt gelebt hat. Eingebettet in diese Rückverbindung wird es möglich, die Natur auf eine archaische Weise wahrzunehmen. Die Wesen der Natur werden zu einem Du, einem anteilnehmenden Gegenüber.
Es ist, als könnten wir wie unsere Ahninnen und Ahnen mit dem Herzen in den Tiefenschichten der eigenen Seele hören, was »Schwester Mond« und »Bruder Fluss« sprechen. Viele Menschen tun dies auch rein intuitiv: Wenn sie am Ufer eines gurgelnden Flusses sitzen, scheint es ihnen, als ob ihnen der Fluss etwas über ihr eigenes Leben erzählt. Richten wir unsere Achtsamkeit auf den Fluss in seiner geistigen Existenz, können wir ihn über das Leben befragen. Im lauten Sprechen mit den Wesen der Natur müssen die meisten von uns erst einmal eine kulturelle Schranke überwinden. Vermutlich wird der Fluss nicht mit Worten, Fontänen oder spontanen Wasserfällen antworten, sondern mit einer leisen Stimme in uns sprechen. Wenn wir ihr lauschen, können wir darin unsere eigene innere Wahrheit heraushören. Das bedeutet auch, die Weisheit und Intuition in uns zu achten und zu erkennen, dass die innere Stimme wahrnehmungsfähig ist. Wenn wir mit allen Sinnen in die Natur gehen, beobachten wir genau und hören gleichzeitig nach innen und nach außen. Wir sehen, riechen, hören, fühlen, tasten.
Die Natur schaut auch uns an. Tiere haben sich, lange bevor wir sie wahrnehmen, auf uns eingestellt. Der Eichelhäher hat vielleicht schon alle Wesen im Wald gewarnt, dass sich ein Mensch nähert; die Ameisen haben die Erschütterungen unserer Schritte längst wahrgenommen. Nicht nur wir sprechen mit der Natur, sondern auch sie spricht mit uns.
Im Dialog langsam, leise und offen zu sein und in die Tiefen zu lauschen – das ist für uns moderne Menschen oft ein Gegenpol zum hektischen, auch atemlosen Dialog im Alltag, in dem vieles geregelt und organisiert werden will. Die stille Haltung der Präsenz und Gegenwärtigkeit ist eine Voraussetzung, um der Intuition, dem Milan oder dem Schwarzspecht eine Chance zu geben, mit uns zu sprechen. Der rituelle Raum fördert diese Haltung, die uns neue Freundinnen und Freunde entdecken lässt. Es sind Bäume, die uns etwas bedeuten, Pflanzen, die uns über das Leben lehren, Steine, die zu uns sprechen. Wir gewinnen viele neue faszinierende »Verwandte«, und eine mögliche Einsamkeit kann sich in ein Gefühl von Zugehörigkeit wandeln.
Wesentlich im Dialog mit der Natur ist, sich bewusst dafür zu entscheiden, dass das äußerlich Erfahrene mit der eigenen Seelenlandschaft zusammenhängt. Es bedeutet, darauf zu vertrauen, dass die Wesen der Natur uns den Weg weisen und uns das zeigen, was für uns bedeutsam ist. Wir fragen die Natur, was uns auf symbolischer Ebene gezeigt werden soll, wenn wir auf ein Moosgeflecht schauen, und nehmen uns Zeit für das, was uns besonders berührt, anspricht oder auch ängstigt. Nehmen wir die Natur auf diese Weise als Gesprächspartnerin ernst, dann wird sie zu einem spirituellen Raum voller lebendiger intelligenter Wesen, die uns antworten.
Die Natur kann manchmal sehr direkt und eindeutig antworten, wie im Beispiel einer Frau, die sich nicht zwischen zwei Alternativen entscheiden konnte. Als sie mit leiser Stimme sprach, was für sie eigentlich das Beste wäre, klopfte im Baum neben ihr ein Specht drei Mal, was laut und deutlich durch den Wald hallte. Überrascht verstand sie dies als klares Zeichen, als ob der Specht ihre leisen Worte durch dreimaliges Klopfen laut bekräftigen wollte. Sie nahm es dankbar an und konnte ihrer zaghaften Stimme bestimmter folgen.
Meist werden die Botschaften auf Ebenen übermittelt, die sich nicht auf Anhieb übersetzen lassen. Dann ist es wichtig, mit dem Erfahrenen in Kontakt zu bleiben und nicht zu versuchen, gleich alles zu verstehen.
Die Natur antwortet in Zeichen, Symbolen, in Wegen, die wir gehen. Sie spricht zu uns, indem wir uns zu etwas hingezogen fühlen, uns abwenden, uns an Weggabelungen entscheiden, etwas bewusst wahrnehmen und an unser Leben erinnert werden oder auch indem wir plötzlich im Dickicht landen.
Auf der rituellen Wanderung eines Mannes, der sich selbst als depressiv beschrieb, funkelte in der Morgendämmerung das Licht der Sonne strahlenförmig gleißend durch den Wald. Er fühlte die Wärme, das Staunen und spürte nach einer langen Zeit innerer Finsternis in seinem Leben wieder deutlich sein »verborgenes Sonnenwesen«.
Die stimmige Übersetzung mancher Erfahrungen zeigt sich oft erst später im Alltag. Die Erfahrung wirkt auch, ohne jeden Dialog bis ins Detail zu verstehen. Im Übersetzen der Botschaften in eine menschliche Sprache ist ein spielerischer Umgang sinnvoll. So können die Zeichen ihre Bedeutung ändern, wenn wir sie mit anderen Augen sehen und mit »anderen Ohren« hören. In dieser Art der Begegnung kann die Natur als heilsamer und sinnstiftender Erfahrungsraum wahrgenommen werden.
Das Rauschen der Blätter von Pappeln im Wind kann diejenigen trösten, die Trost suchen, das Sprießen der ersten Schneeglöckchen kann jenen Mut zusprechen, denen noch ein Impuls zum eigenen Wagnis und Durchbruch fehlt. In Ritualen in der Natur berührt immer wieder, wie tief die äußere Natur mit der eigenen Seelennatur mitschwingt und zu ihr in Resonanz geht. Im Ruf eines Vogels, im Leuchten einer Blüte, in der Kraft einer großen Wurzel können wir Aspekte des eigenen Lebens erkennen. So wird die Natur zum Spiegel unserer Seelenlandschaft und Lebensgeschichten.
Das folgende Beispiel zeigt deutlich, wie tief diese Spiegel in der Natur wirken und sichtbar werden können.
Ullas Mann trennte sich nach zwanzig Jahren Ehe wegen einer anderen Frau von ihr. Dieses einschneidende Erlebnis änderte ihr Leben von heute auf morgen – plötzlich war sie es, die alleine planen und entscheiden musste und sich verunsichert fragte, wer sie ohne den Mann an ihrer Seite eigentlich sei. Ein Jahr nach der Trennung, in dem sie ruhiger und gelassener geworden ist, möchte sie in einer mehrtägigen Auszeit Klarheit und Zuversicht für ihren weiteren Weg finden und ihre Vergangenheit liebevoll loslassen. In der Vorbereitungszeit formuliert sie einen Satz für ihr neues Ich: »Ich bin die Frau, die im Dunkeln ihr Licht anknipst.«
Am letzten Abend ihrer rituellen Auszeit regnet es in Strömen, der Himmel ist wolkenschwer. Obwohl sie für ihre letzte Nacht alles so schön geplant hatte, erkennt sie, dass sie nicht alles planen kann und muss. Während sie noch mit ihrem Satz ringt, reißt plötzlich die Wolkenschicht direkt über ihr auf und sie sieht drei Regenbögen. Diese lehren sie, dass sie auch den Regen in ihrem Leben willkommen heißen muss, wenn sie den Regenbogen will. Intuitiv war ihr in dieser Nacht ganz klar, wie ihr Lebensweg weitergehen würde. Nachdem der Himmel in den Bergen seine Schleusen geöffnet hatte, war er voller klar leuchtender Sterne, und sie sah Sternschnuppe um Sternschnuppe die ganze Nacht hindurch. Es war ihr, als würde ihr Satz Realität werden – ihr inneres Licht wurde so vielfältig angeknipst. Zurück in ihrem Alltag konnte sie sich dieses Bild immer wieder in Erinnerung rufen und sich davon berühren lassen, wenn Angst, Trauer oder Zweifel wiederkamen.
Wann immer wir uns rituell mit der Natur verbinden und auf ihre Zeichen achten, geht sie mit uns auf ungewöhnliche, manchmal auch sehr direkte Weise in Kontakt und spiegelt unsere seelischen Prozesse.
Spiegeln ist ein grundlegendes Prinzip menschlicher und natürlicher Bindungen und Bezogenheit. Die Neurowissenschaften belegen mit der Idee von Spiegelneuronen, dass Spiegel- und Resonanzphänomene grundlegend für Wachstumsprozesse in der menschlichen Entwicklung sind. Die Bindungs- und die Autismusforschung betonen, wie wichtig es für die frühkindliche Entwicklung ist, durch ein Gegenüber gespiegelt zu werden. Und auch in Beziehungen erfahren wir ein Gefühl tiefen Gesehenwerdens bis hin zu einer heilsamen Qualität, wenn uns jemand spiegelt. Da wir mit allem, was lebt, verwandt sind, befinden wir uns permanent in seelischen Spiegel- und Resonanzräumen mit tierischer, pflanzlicher und menschlicher Natur. In diesem großen Netz hängen alle Seinsebenen dynamisch zusammen, so dass Veränderungen in einem Bereich zu Bewegungen und neuen Formen des gesamten Netzes führen. Dies wird auch im indischen Mythos von Indras Netz versinnbildlicht: »Im Himmel von Indra sei ein gigantisches Netz, das in jedem seiner Knotenpunkte eine spiegelnde Perle in sich trägt. Durch die Spiegelung ihrer unmittelbaren Nachbarn spiegelt jede Perle die Unendlichkeit aller Perlen in den äußersten Räumen des Gesamtnetzes, weil jede Perle das Spiegelbild ihres Nachbarn in sich trägt.«31
Eine schöne Möglichkeit, diesem Mysterium zu erlauben, uns zu erreichen, ist das erzählende Spiegeln der Erlebnisse aus der Natur. Bereits im Erzählen wird der Spiegel der Natur mehr und mehr zu einer Geschichte und zum eigenen Mythos. Wir »mythen« uns im Erzählen neu, wagen eine neue Sicht auf unser bisheriges und weiteres Leben. Das Erlebte verhält sich dabei wie eine Feder, die langsam im Wind hin und her geschaukelt wird. Bis das Erlebte in der Natur zur Realität in unserem Leben wird, fällt die Geschichte wie die Feder in der Luft durch verschiedene Schichten des Verstehens und Erkennens, bis sie schließlich am Boden ankommt. Es ist der Weg von der Idee, von einer »geschauten Erkenntnis«, bis zu ihrer Verwirklichung. Das Spiegeln unterstützt die Selbsterkenntnis, ob im Kreis vertrauensvoller Menschen oder im eigenen spiegelnden Zugang zur Geschichte für uns allein.
Die Tradition des Erzählens und Spiegelns von Naturgeschichten in einem Kreis vertrauter Menschen greift auf eine alte Tradition zurück. Rituale waren immer eingebunden in eine Gemeinschaft. Nach einer heiligen Zeit der Initiation draußen bei den Wesen des Landes war der Kreis der Gemeinschaft neugierig. Was haben die Wesen gesprochen? Was wird für die Gemeinschaft gebraucht? Was bringen die Menschen mit als Gaben für ihr Volk? Ihre Neugier war auch darin begründet, dass sie teilhaben wollten an dem Mysterium des Lebens und seinen faszinierenden Wandlungen. Als ob das Gewebe des Lebens neu erzählt würde, wurde es in der Geschichte wieder neu gehört: »Ah, so ist es, ein Mensch zu sein!«
Da wir heute andere Gemeinschaftsstrukturen haben, fragt sich, in welchem Kontext wir heute die Geschichte aus einer für uns bedeutungsvollen rituellen Auszeit von Herzen erzählen und wo unsere Erfahrungen gespiegelt werden können. Dies könnte der Partner sein, eine Frauen- oder Männergruppe, eine gute Freundin. Wir können auch versuchen, die Kultur kraftvoller Kreise vertrauter Menschen wieder zu aktivieren, in denen wir tiefe Erfahrungen miteinander teilen, aus dem Herzen sprechen und uns gegenseitig unsere Geschichten spiegeln können.32 Sich einander mit der eigenen Wahrhaftigkeit zuzumuten und sich gegenseitig zu bezeugen, kann für alle im Kreis einer solchen Gemeinschaft auf Zeit ein großes Geschenk sein.
Die Voraussetzung für das Spiegeln der Geschichte ist, dass die Personen im Kreis frei von Wertungen und Beurteilungen bleiben. Sobald uns gesagt wird, wie komisch es doch sei, freiwillig nichts zu essen und im Regen mit Bäumen zu sprechen, verschließen wir uns und beginnen, selbst an unseren Erfahrungen zu zweifeln. Es geht in solchen Kreisen nicht darum herauszufinden, was das Problem ist, oder Rat zu geben, sondern darum, die Weisheit und Einzigartigkeit, mit der die Person durchs Leben geht, aus den Worten herauszuhören und sie respektvoll zu würdigen.
Es gäbe viele Versionen, die Geschichte zu erzählen. Oft fallen uns schon kurz danach andere ein. Darauf zu vertrauen, dass das, was erzählt wird, richtig ist, dass die eigene Geschichte vollständig und perfekt ist, kann vom Druck befreien, wie es erzählt werden muss. Wir können uns ziehen lassen von dem, was uns wirklich wichtig ist, was uns berührt, unabhängig davon, ob es der Chronologie des Erlebten folgt. Nicht alles kann in Worte gefasst und nicht alles will erzählt werden.
Möchten wir die Geschichte ohne weitere Personen für uns selbst spiegeln, wird das Erlebte zunächst aufgeschrieben. Noch intensiver kann es sein, wenn wir einen Brief an uns selbst oder auch an unser zukünftiges Ich schreiben, in dem wir das Erlebte beschreiben. In einem Antwortbrief an uns, einem »Spiegelbrief«, spiegeln wir die Geschichte des ersten Briefes, erzählen, was uns beim Lesen berührt hat und was uns von Bedeutung erscheint. Alternativ kann die Geschichte auch laut gesprochen und anschließend selbst laut nacherzählt werden. Wir können mit der Art zu spiegeln spielerisch umgehen.
Eine Geschichte spiegeln heißt, das Gehörte in eigenen Worten nachzuerzählen. Meist wird dabei in der dritten Person gesprochen. Dadurch kann die individuelle Erfahrung von außen betrachtet werden und als eine Geschichte des Menschseins erfahren werden: »Ich habe die Geschichte eines Mannes / einer Frau gehört, die …«. Die Geschichte wird damit kollektiv eingebunden. Wenn wir zuhören und anschließend erzählen, was ein Mensch braucht, können wir verstehen, was die Erde braucht. Jede Geschichte kann uns etwas über unser eigenes Leben lehren.
Das Spiegeln erfolgt aus einer anteilnehmenden Haltung heraus. Jedes kleine Fragment der Geschichte ist ein Mikrokosmos der Person. Was Menschen vom Spiegeln erinnern, sind oft nicht die Worte, sondern die liebevolle Präsenz und die Intensität des Zuhörens. Daher können Geschichten auch ohne viel Erfahrung gespiegelt werden.
Im Spiegeln wird nichts fixiert oder geändert; die Geschichte bleibt in ihrer Schönheit bestehen. Der Schwerpunkt wird darauf gelegt, was in der Person im Werden und Entstehen ist. Damit helfen wir der Geschichte zur Geburt. Zu werden bedeutet oft, zerrissen zu sein. Auch deswegen ist es sinnvoll, Wertungen, Urteile und eigene Lebensgeschichten beiseite zu lassen. Es wird nicht korrigiert, eingeordnet oder verglichen. Das Spiegeln dient der Weiterentwicklung. Der rote Faden sind die Fragen: Was ist die eigene, innere Wahrheit der erzählenden Person? Was unterstützt sie, sich der Bedeutung ihrer Geschichte hinzugeben? Was ermutigt sie für ihren einzigartigen Weg?
Auch wenn wir manchmal die Dinge anders sehen: Im Spiegeln erlauben wir der anderen Person, die zu sein, die sie ist, statt danach zu suchen, wie sie sein sollte. Wir können versuchen, uns für den Mythos der Person zu interessieren, unabhängig davon, ob wir mit ihm einverstanden sind. Das heißt auch, den Schmerz der Person im Spiegel zu würdigen. Gerade wenn die stagnierenden, verletzten, blinden inneren Erfahrungen einen Menschen bedrängen, braucht er jemanden, der in der Liebe bleibt, wenn sie fehlt. Manchmal ist dabei eine Frage wichtiger als eine Antwort.
Bereits während des Zuhörens erhalten wir tiefe Einsichten in das Wesentliche, das den Menschen bewegt. Diese Einsichten sind wie Fenster ins Innere, wenn wir später die Geschichte spiegeln. Wir können beobachten, wo jemand berührt ist, was wirklich von Bedeutung für die erzählende Person ist und wo sich die Sehnsucht zeigt. Wir hören heraus, was der rote Faden, der Mythos und das Hauptthema in der Geschichte ist und was die Person über die Art und Weise, wie sie sich durch die Landschaft bewegt und welche Plätze sie wählt, über ihr Leben erzählt. Dabei ist es hilfreich, die Geschichte auf die Absicht der Person rückzubeziehen, mit der sie in die Natur gegangen ist. Was spricht die Geschichte über das Leben, in das die Person zurückgeht? Wo steht sie im Rad des Lebens mit ihrer Frage? Welche Begegnungen waren besonders, zum Beispiel mit einem Tier oder einer Pflanze? Was fällt mir dazu ein?
In vielen Auszeiten werden Aspekte der Heldenreise deutlich. Aus dieser Perspektive können wir spiegeln, wie sich die Heldin mit Hindernissen, Engpässen und Ängsten auseinandergesetzt und wie sie ihre persönlichen Kräfte und Gaben in der Natur gelebt hat.
Wiederholungen, Wortspiele, Gesten, mitgebrachte Symbole können ebenso wie eigene Empfindungen eine Quelle von Inspiration für das Spiegeln sein.
Während des Spiegelns ist es am leichtesten, den ersten eigenen Impulsen zu folgen und sich vom eigenen Sprechen aus dem Herzen tragen zu lassen. Sollten die Ideen zum Spiegeln ausbleiben, dann kann um einen direkten Spiegel von der Erde selbst gebeten werden. Es kann sein, dass gerade ein Windstoß kommt, eine Krähe ruft oder eine Amsel einen Regenwurm verspeist. Diese Zeichen können auf das Lebensthema der erzählenden Person rückbezogen werden; oft ergibt sich daraus ein neuer, bislang nicht gesehener Aspekt der Wahrnehmung. Spiegeln heißt auch, überraschende Worte auf sich zukommen zu lassen. Es heißt fragen, danken und sich berühren lassen. Spiegel, die nicht passen, dürfen abgelehnt werden.
Der Alltag wartet schon »mit scharrenden Hufen«. Nach dem Spiegeln wird daher meist ein erster konkreter Schritt für den eigenen Alltag benannt.