Wenn wir beginnen, Altes zu verabschieden, dann zeigt sich oft auch unser inneres Kind, das geliebt werden möchte oder Angst hat. Geht eine alte Lebensphase zu Ende, werden seine unerfüllten Bedürfnisse oft reaktiviert. Vielleicht sind die Wunden des inneren Kindes noch offen, was dazu führt, dass wir uns anpassen, die eigenen Bedürfnisse zurückstellen, ängstlich sind, uns aus Angst selbst verraten oder uns aus Schutzbedürfnissen verschließen. Doch in der Übergangsphase möchten wir frei von Angst vor Strafe oder Abweisung unseren eigenen Wachstumsimpulsen folgen dürfen.
Das innere Kind wahrzunehmen und im besten Fall zu nähren, ist eine wichtige Basis, um sich mehr und mehr vom Alten lösen zu können. Es verleiht uns Stabilität und innere Sicherheit in einer instabilen Zeit. Für viele Menschen ist es eine erstaunliche und berührende Erfahrung, ihrem inneren Kind zu begegnen und sich ihm zuzuwenden. Sie nehmen wahr, dass sie mit ihrem erwachsenen Ich ihrem inneren Kind genau das geben können, wonach es lange gedürstet hat. Oft ist liebevolle, mitfühlende und verständnisvolle Zuwendung das Einzige, was es braucht.
In der Regel verhalten wir uns eher so, dass wir unser inneres Kind wegschicken, es alleine in seiner Ecke schmollen, weinen, ärgerlich und trotzig sein lassen, seine Gefühle nur kaum spüren und beachten. So bleibt es nackt und ungeschützt. Viele Menschen lassen es regelrecht fast verhungern.
Warum ist es so wichtig, sich dem inneren Kind zuzuwenden? Zunächst einmal sorgt die ungestillte Bedürftigkeit unseres inneren Kindes für viel Anhaftung und oft für unglückliche Bindungen im Erwachsenenleben. Das Kind hat Grenzen erfahren, an denen es nicht natürlich weiterwachsen konnte, und Muster gelernt, durch die es sich schützt. Diese alten Muster werden auf andere Menschen projiziert und konstellieren sich in aktuellen Beziehungen.
Wir können viel vom Schmerz in unseren Beziehungen lindern, wenn wir den aktuellen vom vergangenen Schmerz des Kindes, der immer noch in uns lebendig ist, sorgsam unterscheiden. Das innere Kind erlebt den alten Schmerz wieder und wieder, bis es über die früheren Begrenzungen hinaus weiterwachsen kann. Manchmal hilft hier bereits die einfache Frage: »Woran bzw. an welche frühere Situation erinnert mich meine aktuelle emotionale Reaktion auf einen Menschen?« Über diese Frage können wir entschlüsseln, ob Gefühle zu den Erfahrungen unseres inneren Kindes oder zur aktuellen Beziehung gehören, wobei Letztere diese Gefühle natürlich auch auslösen kann. Aktuelle Beziehungen beleben damit, auch wenn sie schmerzvoll sind, den Drang des inneren Kindes zu wachsen.
Es ist ein beseelender Prozess, sich durch all die Schichten der Verletzung hindurchzuarbeiten bis zu dem Ort, wo das Kind noch unverwundet und lebensfroh, voller Unschuld und Neugier war. Hinter dem Leid und den früheren Verletzungen gibt es einen unverletzten Kern. Es ist nicht zu spät, das Verletzte zu heilen. Unter all dem Ballast wartet unsere ursprüngliche Natur, das Lebensbejahende, Unverletzbare darauf, ans Licht gehoben zu werden.
Die belastenden Gefühle ausdrücken zu können, kann hier ein Schlüssel sein, um durch die Schichten von überlagernden Mustern hindurchzufinden. Noch wesentlicher ist es, dem Kind spürbar zu machen, dass wir für es da sein werden, es beschützen, es nicht mehr emotional verlassen, was immer auch passiert. Manchmal genügt es auch, dem Kind einfach Mut zuzusprechen und ihm zu sagen, wie wundervoll wir es finden. Diese Fürsorge und Freude am Lebendigsein des inneren Kindes führt dazu, es in seinem wahren Wert, der unter den alten Mustern verborgen liegt, zu sehen. Zuwendung entsteht über bewusstes Wahrnehmen, heilende Aufmerksamkeit und vor allem über Mitgefühl mit dem inneren Kind, das sich damals noch nicht bewusst selbst helfen konnte. Diese Art von Zuwendung schafft Geborgenheit und Sicherheit.
Anders als in unseren gelernten Beziehungsmustern können wir unserem inneren Kind die gute Mutter bzw. der gute Vater sein, die oder den es genau in diesem Schmerz gebraucht hätte. Entscheidender als das, was wir als Kind erlebt haben, was uns vielleicht »angetan« wurde, ist die Frage, wie wir heute selbst mit unserem inneren Kind umgehen. Hier können wir sofort selbst verantwortlich werden und etwas ändern.
Viele Menschen stellen sich einfach vor, ihr inneres Kind an die Hand zu nehmen, es auf dem Schoß zu spüren oder mit ihm zu spielen. Sie beruhigen oder trösten es. Sie suchen ganz bewusst den spielerischen Kontakt zu realen Kindern oder aber nach Zeiten und Räumen, wo sie ihr inneres Kind frei ausleben können.
Die folgenden rituellen Naturübungen möchten anregen, das innere Kind im Leben willkommen zu heißen und ihm Raum zum Leben zu geben. Die Übungen ermutigen, in liebevollem Kontakt mit ihm zu sein.
Mit dem inneren Kind in der Natur
Gehen Sie über die Schwelle. Stellen Sie sich Ihrem inneren Kind vor. Bewegen Sie sich anschließend in der Natur so, wie Sie als Kind waren und wie Sie das als Kind gemacht haben. Bitten Sie abschließend die Natur um eine Botschaft für Ihr inneres Kind.
Martin sieht einen blühenden Kirschbaum, der ihn magisch anzieht. Der Baum scheint ihm ein Tor zu öffnen und lädt ihn zu sich ein. Schnell ist er in den Baum geklettert. Dieser schenkt Martin eine tiefe Geborgenheit, die er lange nicht mehr gefühlt hat. Tiefer und tiefer schmiegt er sich an den Baum an, bis er fast das Gefühl hat, mit ihm zu verschmelzen. Lange weint er Träne um Träne um seine kürzlich verstorbene Mutter. Im Weinen kommt er nach und nach bei sich an. Das Gefühl kindlicher Verbundenheit und offenen Herzens kehrt zu ihm zurück. Plötzlich spürt er all die verschüttete Liebe zwischen seiner Mutter und ihm. Bilder von ihm als Kind kommen ihm in den Sinn: wie gerne er in Bäume geklettert war, geschaukelt und mit dem Wind gespielt hatte.
»Geh spielen«33
Gehen Sie über eine Schwelle hinaus in die Natur. Nehmen Sie Ihr inneres Kind an die Hand und gehen Sie im Wald mit ihm spielen, sprechen Sie mit ihm. Lassen Sie alle Erlebnisse, Erinnerungen an Ihr inneres Kind und an die eigene Bedürftigkeit auftauchen.
Diese Übung belebt das innere Kind. Sie kann aber auch eine Herausforderung sein, gerade dann, wenn Menschen als Kind zum Spielen nach draußen weggeschickt worden sind – nicht aus einer warmherzig erlaubenden, sondern aus einer genervten Haltung. Gerade dann kann es sinnvoll sein, experimentierend herauszufinden, wie das Spielerische belebt werden kann.
Dem eigenen inneren Kind begegnen
Gehen Sie über eine Schwelle hinaus in die Natur. Nehmen Sie Ihr Kind an die Hand und lassen Sie sich die Welt von ihm zeigen. Suchen Sie einen Platz, der Ihrem inneren Kind gut gefällt. Sprechen Sie dort mit dem Kind, fragen Sie es, was es von Ihnen als seine »Mutter« oder als sein »Vater« braucht. Wenn es Ihnen leichter fällt, können Sie auch einen jungen Baum für Ihr inneres Kind wählen und den Baum befragen und umarmen.
Kristin, eine beruflich erfolgreiche Frau Mitte dreißig, beschreibt ihr Leben als weder glücklich noch unglücklich. Sie sehnt sich nach Kindern, einem Partner und einer sinnerfüllteren Arbeit in ihrem Leben. In der rituellen Naturwanderung begegnet sie in der Dunkelheit ihrem verängstigten einsamen kleinen Mädchen, das wie ein Schatten nach ihr sucht. Unter Tränen nimmt sie es in den Arm und merkt, wie lebendig es ist. Diese Begegnung wirkt tief in ihr nach. Sie erinnert sich, wie sie sich als kleines Mädchen in Ecken verzog, unsichtbar, nicht mehr lebendig sein wollte. Sie erkennt, dass ein Kind in ihrem Leben bisher noch keinen Platz finden konnte, kannte sie doch kaum ihr eigenes inneres Kind, das als Spätaussiedlerkind seine emotionale und sprachliche Heimat verloren hatte. Sie beschließt, es zu beachten und mit ihrer Zuwendung zu nähren.
In einer weiteren rituellen Naturwanderung findet sie einen für sie sehr wichtigen Satz: »Ich lade mich ein.« In der Einfachheit des Satzes erkennt sie, wie wichtig es für sie ist, sich selbst und ihr kleines Mädchen voll und ganz ins Leben einzuladen und dieses Mädchen mit Wahrheit, Ehrlichkeit und Mut auch nach außen zu zeigen. Kurz nach dem Ritual lernt sie einen Partner kennen und ein halbes Jahr später wird sie schwanger.
Haben wir unser inneres Kind mit all seinen Gefühlen in unser Herz geschlossen, dann kann die Reise weitergehen. Wir können uns den destruktiven Mustern, die sich oft aus dem verletzten Kind entwickelt haben und uns als Erwachsenen nichts mehr nützen, von innen gestärkter zuwenden.
Der Abschied von alten, nicht mehr förderlichen Mustern ist ein sehr bedeutsamer Übergang. Im Laufe des Lebens und im Prozess unserer Identitätsfindung eignen wir uns Strategien an, um mit Verletzungen, Unvereinbarem oder belastenden Situationen, für die unsere Bewältigungsmöglichkeiten nicht ausreichen, umzugehen. Die Wunde muss nicht unbedingt einer traumatischen Erfahrung entstammen, es kann aber sein, dass sie einer entspringt. Oft besteht sie aus einem Muster schmerzhafter Ereignisse, einer beunruhigenden Entwicklung oder schwierigen Thematik in wichtigen Beziehungen. Selbst in der gesündesten Familie leidet jede Person unter mindestens einer bedeutsamen emotionalen Verletzung.
Die gelernten Muster dienten ursprünglich meist dem Überleben und waren Schutz in Phasen großer innerer Not. Jedoch können sie sich in hinderliche und auch selbstdestruktive Muster verwandeln, wenn sie generalisiert gelebt, unbewusst festgehalten und statisch wiederholt werden. Am Ende scheint es so, als wären wir nicht mehr frei in unserer Entscheidung, ob ein Muster uns lebt oder ob wir ein Muster leben. Das heißt, die Muster werden in Situationen angewendet, in denen sie nicht mehr passen, und führen zu Verwechslungen der aktuellen mit alten Situationen.
Diese alten Muster werden in Beziehungssituationen erlernt und mit der Zeit verinnerlicht. Sie können zu selbstentwertenden Glaubenssätzen, selbstdestruktiven Handlungsweisen oder zu sich selbst erfüllenden Prophezeiungen werden. Die verinnerlichten Muster können sich gegen andere Menschen und auch gegen uns selbst richten. Häufig erzählen Menschen von ihren kritisch kommentierenden inneren Stimmen, die manchmal sehr bewusst wahrgenommen, manchmal nur erahnt werden. Am häufigsten finden sich die Stimmen wie: »Du bist nicht gut genug«, »Du bist nicht liebenswert«, »Um geliebt werden zu können, musst du …«. Fast immer behindern diese Stimmen den wahrhaftigen Ausdruck des eigenen Selbst. Innere Entfremdung, Selbstunterdrückung und erhöhte Wachsamkeit für das gesellschaftlich Erwünschte sind die Folge.
Äußere Lebenssituationen, die uns herausfordern, können schlummernde Muster in uns neu aktualisieren; sie werden auf emotional aufgeladene Beziehungsrealitäten übertragen und dort gelebt. Das erklärt, warum sich manche Beziehungspartner uns gegenüber so verhalten wie frühere Bezugspersonen. Durch Verinnerlichung und Wiederholung werden die alten Muster aufrechterhalten. Die Bindung an das Gewohnte ist mitunter stärker als der Wunsch, sich von den seelischen Schmerzen, die mit den alten Mustern einhergehen, zu befreien. Immer wieder verwickelt uns die Seele in ähnliche emotionale Konstellationen, die von der Umwelt gespiegelt werden. Diese schwingt in Resonanz mit unseren inneren Mustern, so dass Situationen, die von der Grundenergie her ähnlich sind, wie geradezu magisch angezogen wirken. Dabei werden entweder Entwicklungsimpulse aktiviert, welche die Seele aufgreifen kann, oder es werden die früheren traumatischen Schichten reaktiviert.
Die Muster entstehen aus fremden Einflüssen von außen, wenn wir bestimmten Situationen nicht gewachsen waren oder unangenehme Seiten an uns nicht integrieren konnten. Dabei werden Teile der Seele abgespalten und können nicht mehr als uns zugehörig erkannt werden. Die entstehenden Lücken widersprechen der Seele, die nach Ganzheit strebt.
Die Muster stellen häufig Schutzreaktionen dar, die dazu dienen können, dass Angst, Unsicherheit und Verzweiflung, Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein nicht mehr gespürt werden. Dies vermittelt Sicherheit und Orientierung. Zugleich spürt die Seele, dass etwas Bedeutsames im Leben fehlt. Leere, ein Gefühl von Gefühllosigkeit stellen sich ein. Manche Menschen nehmen es so wahr, als wenn sie nur noch funktionierten statt zu leben, andere beschreiben es als unaufhörliches Laufen im Hamsterrad, aus dem sie nicht aussteigen können. Es entstehen Blockaden, die sich auch körperlich ausdrücken können.
Die Wiederbegegnung des erwachsenen Menschen mit dem einst Bedrohlichen aus einer reifen, ganz anderen inneren Souveränität heraus hat etwas Heilsames. Dadurch geschieht eine Rückbindung. Dies wird jedoch nicht immer erkannt und kann nicht immer genutzt werden Doch dann ruft uns die Seele erneut. Sie ruft nach Integration des Alten, Verletzten, nach einer gnadenvollen Anbindung des Verlorenen und der abgespaltenen Lebensfreude. Letztlich ist es die Sehnsucht nach dem Urgrund des Lebendigen.
Hinderliche Muster wandeln
Gehen Sie über die Schwelle hinaus in die Natur. Begegnen Sie dort einem alten, nicht mehr stimmigen Muster oder einem alten Glaubenssatz. Kreieren Sie ein Ritual, um Ihr altes Muster bzw. Ihren Glaubenssatz zu ehren und dann zu wandeln.
Hannah, eine Frau Ende dreißig, spürt in ihrem Leben die Mauer, die sie aufgrund von Verletzungen um sich gebaut hat. Verletzungen aus einer Partnerschaft hatten sie hart, wütend und selbstverletzend gemacht. Sie haben Seiten in ihr hervorgebracht, die sie so als weiche, friedliche Person gar nicht von sich kannte. Bei genauerem Hinsehen tauchen Erinnerungen an frühe, emotional belastende Erlebnissen in der Kindheit auf. Es sind Verletzungen, die sehr schmerzhaft waren, die sie aber bereits therapeutisch aufgearbeitet hatte. Ausgelöst durch die letzte Partnerschaft spürt sie, wie sie erneut durch die alten Muster von ihrer Lebensenergie abgeschnitten ist. Sie möchte die Mauern dünner machen, wieder in ihr inneres Fließen und ihre innere Mitte kommen und wieder offen sein.
Hannah geht in einem begleiteten Ritual von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang fastend in die Natur, mit der Absicht, aus ihrem alten Muster des Mauerns auszusteigen. Schon bald kommt sie an einen Weg, auf dem Bäume gefällt, entastet und achtlos liegen gelassen wurden. Beim Anblick der toten Bäume fühlt sie sich ohnmächtig und wird an ihre inneren Wunden erinnert. Sie sucht Abstand und findet Schutz auf einem Hochsitz. Dort schreibt sie in Ruhe alles auf, wofür sie dankbar ist, und dann alles, was sie verletzt hat. Der Regen lässt nach und sie geht meditativ über eine Wiese. Mit der Sonne im Rücken, die im See funkelt und durch die Wolkenschicht hervortritt, sowie begleitet von tanzenden Libellen, führt ihr Weg sie wieder zu abgerissenen Ästen und Zweigen, die kreuz und quer herumliegen, während das Nutzholz abtransportiert wurde. Erneut spürt sie ihre Wut und Hilflosigkeit angesichts der Gewalt. Sie beschließt, sich ihrer Wut und Hilflosigkeit zu stellen – im Wissen darum, dass ihre Angst, die früheren Verletzungen anzuschauen, ihren eigenen Weg blockiert hat. In einem spontanen Ritual räumt sie Ast für Ast zur Seite: Symbole für Achtlosigkeit und Verletzungen in ihrem Leben. Beim Aufräumen der Äste sieht sie sich jede einzelne Verletzung an, gibt sie den Menschen zurück, die sie verletzt haben, und nimmt genau wahr, aus welcher Absicht heraus die Menschen gehandelt haben. Sie verzeiht, wo es ungewollt und unachtsam geschah. Es ist, als würde sie damit ihre Wunden in das Licht der Liebe halten. Zunehmend fühlt sie ihre unbändige Kraft. Als sie fertig ist, schaut sie glücklich zurück. Sie fühlt sich mehr im Kontakt mit sich selbst und ihren Mitmenschen.
Hannahs Geschichte zeigt die große Weisheit, in einer emotional belastenden Situation erst einmal auf Abstand zu gehen und sich selbst zu schützen. Aus der Ruhe und Dankbarkeit heraus lässt sich Verletzendes und Verletztes anders anschauen. Vom Hochsitz aus, von oben, gibt es ein Wissen, dass es für alles die richtige Zeit und den richtigen Ort gibt, um sich dem Verletzten zuzuwenden. In Hannah war dies das Ergebnis eines langen inneren Vorbereitungsprozesses. Die Geschichte erzählt eindrücklich, wie alte Verletzungen im geschützten rituellen Gestalten und Symbolisieren transformiert werden können. Dass diese Heldinnenreise so möglich wurde, liegt auch an der unermüdlichen Ausdauer dieser Frau, ihre Muster therapeutisch aufzuarbeiten und sich dem Schmerz in sich liebevoll und achtsam zu widmen. Dadurch, dass sie in ihre Wunden eintauchte, wurden sie zur Möglichkeit, die eigene Kraft wiederzuerlangen. In Hannahs Beispiel wird auch deutlich, dass Rituale zur Aufarbeitung alter Verletzungen gut vorbereitet und in einen begleiteten rituellen Kontext eingebunden sein und nur bei psychischer Belastbarkeit durchgeführt werden sollten. Hannah hat ganz bewusst ein begleitetes Ritual im Rahmen eines Workshops für ihr Thema gewählt.
Rituale, bei denen es um die Wandlung hinderlicher Muster geht, können ganz spontan entstehen und sehr unterschiedlich gestaltet sein. Ein junger Mann zum Beispiel, der seine Süchte auflösen wollte, zerschmetterte stundenlang für jede Sucht einen Stein.
Um ein altes Muster oder eine destruktive innere Überzeugung zu spüren und zu transformieren, kann im Rahmen einer rituellen Auszeit das folgende kleine Ritual durchgeführt werden.
Ein altes Muster wandeln34
Sprechen Sie eine alte Überzeugung, zum Beispiel »Ich bin nicht liebenswert«, in einen Stock. Lassen Sie sich Zeit, die mit dem Satz zusammenhängenden Gefühle, Bilder, Gedanken, Erinnerungen, Verletzungen zu fühlen, während Sie sie ganz in den Stock hineingeben.
Wenn Sie schließlich das Gefühl haben, dass es »gut ist«, wird der Stock mit viel Energie zerbrochen. Symbolisch erfolgt mit dem Zerbrechen die Loslösung vom alten Muster. Die symbolische Handlung wird über einen Schrei oder ein lautes Aufatmen bekräftigt.
Nehmen Sie anschließend den durch das Ritual frei gewordenen Raum wahr und formulieren Sie die innere Bitte, dass etwas Neues, Konstruktives an den Platz des alten Musters in Ihr Leben treten darf.
Unversöhntes bindet uns an das Vergangene. Es kostet uns viel Lebensenergie, im Unfrieden mit Menschen, Erfahrungen und mit uns selbst zu bleiben. Auch wenn nicht immer alles versöhnbar ist, lohnt es sich, genauer zu erkunden, wo ein Versöhnungsprozess noch aussteht und ob Schritte zu einer versöhnlicheren Haltung der Vergangenheit gegenüber möglich sind. Mit dem Akt der Vergebung und Versöhnung holen wir Kraft und Selbstrespekt zurück, wodurch Energie zu uns selbst zurückfließen kann.
Unsere Haltung zu Vergebung und Entschuldigung ist oft tief geprägt durch die unausgesprochenen Botschaften in unserer Ursprungsfamilie und die Sprachlosigkeit der Nachkriegsgeneration. Dennoch können wir uns heute bewusst für eine Haltung entscheiden, die unsere Integrität stärkt, und die Fesseln des Unversöhnten vorsichtig lösen. Dies ist nicht nur heilsam für die eigene Seele, sondern auch für unsere Kultur, die nach neuen Wegen der Versöhnung sucht.
Der Weg der Versöhnung ist ein sehr vielschichtiger Prozess, der einer ganz eigenen Dynamik folgt. In meiner rituell-initiatischen und therapeutischen Tätigkeit habe ich zwölf Phasen im Prozess des Sich-Aussöhnens beobachtet. Die einzelnen Phasen können dabei auch parallel, in anderer Reihenfolge verlaufen oder gar nicht auftauchen. Es ist gut, langsam und achtsam mit sich selbst die Schritte im Versöhnungsprozess zu gehen.
Wie wir gesehen haben, reagiert unsere Seele, wenn sie keinen guten Umgang mit Verletzungen findet, weil wir zu jung, zu schutzlos oder zu ausgeliefert sind, damit, die Verletzung zu ignorieren, abzuspalten oder einzukapseln. Ein Teil der eigenen Wesenheit splittert ab. Ausgelöst durch neue, ähnliche Erlebnisse, Träume und konfrontierende Erfahrungen, aber auch durch Mitgefühl, wird der Rückzug eines Teils der Seele, das innere »Dichtmachen«, schmerzlich spürbar. Etwas fehlt. Wenn wir Emotionen abtrennen und einfrieren, schneiden wir auch Lebendigkeit von uns ab, die wie hinter einer Mauer eingeschlossen scheint. Das schafft Distanz zu uns selbst und anderen, auch wenn wir uns dadurch schützen.
Diesen seelischen Rückzug bewusst wahrzunehmen, ist oft der erste Schritt im Prozess der Versöhnung. Das kann bereits ein großes Eingeständnis für Menschen sein. Sie erkennen, wie viel Einfluss sie einer anderen Person oder früheren Situationen noch viele Jahre später auf ihr Seelenleben geben.
Oft folgt hierauf in der zweiten Phase, in der nun Gefühle zugelassen werden, heftige Wut über andere Menschen, über das Leben, das einem etwas angetan oder vorenthalten hat. Wir konnten etwas, das von außen auf uns zukam, nicht kontrollieren. Heftige Emotionen brechen aus wie Scham, Schuld, Verzweiflung, Neid, Missgunst, Hass und bittere Anklage. Die Anklage betrifft häufig das Leben selbst: Wieso ist gerade mir dies zugestoßen? Was hätte ich anders machen sollen? Dabei können auch diese heftigen Gefühle eine Quelle der Kraft sein. An Versöhnung ist hier noch nicht zu denken, obwohl das Zulassen dieser Gefühle ein bedeutsamer Teil im Versöhnungsprozess ist. Es ist sehr wichtig, klar auszudrücken und selbst dazu zu stehen, dass das, was passiert ist, nicht in Ordnung war. In diesem Prozess ziehen wir klare Grenzen.
In einer dritten Phase wird oft betrauert, was war, was nicht war, was gefehlt hat. Allmählich kann die eigene Not umarmt werden, das Mitgefühl für sich selbst wächst. Es ist, als ob wir ein tiefes Erbarmen mit unserer Not haben können. Oft ist der Schmerz so groß, dass wir Mitgefühl von außen brauchen. Der entscheidende Schritt ist dabei, die Gefühle und uns selbst liebevoll anzunehmen sowie uns selbst emotional zu versorgen. Tränen werden zum Schmelzwasser der Seele. Wir lernen, die Bürde auszuhalten, und können uns erlauben, den Schmerz zu fühlen. Auch wenn er nicht verschwindet, kann er unser Herz für Mitgefühl öffnen.
Im vierten Schritt vertiefen sich die Sehnsucht nach Lebendigkeit und der Wunsch, sich dem Leben wieder mehr zuwenden zu können.
Verbunden mit dieser Sehnsucht suchen Menschen in einer fünften Phase danach, wo sie wieder Schutz finden und sicher und geborgen über ihre Erfahrungen sprechen können. Sie überprüfen, ob ihre Lebensumstände sicher genug sind, und festigen sich innerlich.
Ein sechster Schritt ist, neue Geschichten zu erzählen und Verantwortung im Hier und Jetzt zu übernehmen. Dies schließt die Erkenntnis ein, dass das Vergangene, was im Außen passiert ist, mehr oder weniger auch innerlich und äußerlich wiederholt wird, indem wir uns zum Beispiel selbst bestrafen. Das ist erst einmal erschreckend. Wir realisieren, dass Leid auch deshalb in unser Leben gekommen ist, weil wir so lange mit etwas oder jemandem unversöhnt geblieben sind. Dieser Erkenntnis folgt oft ein tiefes Aufatmen, dass die alte Situation zumindest äußerlich nun wirklich vorbei ist und dass es nun darum geht, was wir selbst aus der Verletzung machen.
Glück oder Unglück ist oft keine Frage der äußeren Umstände, sondern der inneren Haltung, die wir zu früheren Verletzungen heute einnehmen. Was in der Vergangenheit war, lässt sich von der Tatsache her nicht mehr ändern. Es gehört zu unserem Leben prägend dazu. Die Geschichte, die wir davon erzählen, wie wir das Geschehen bewerten, welche Ressourcen durch die Wunde freigelegt werden und wie wir heute damit umgehen – darauf haben wir selbst einen Einfluss. Die alten Geschichten können das Erfahrene größer machen als es war. Es ist gut, hin und wieder unsere Haltung zu überprüfen und beispielsweise zu schauen, ob das, was wir über die Verletzung erzählen, in der bisherigen Version noch wahr ist. Wenn nicht, wird es Zeit, die Geschichte zu verändern.
Zur Wahrheit gehört auch die Reflexion des eigenen Anteils an der Wunde. Damit ist nicht gemeint, das Geschehene, vor allem wenn es um Gewalt geht, zu entschuldigen. Als Kind sind wir niemals verantwortlich. Als Erwachsene können wir aber für die Geschichte, die wir in uns tragen, Verantwortung übernehmen. Es geht darum, die Art, wie wir seit der Verletzung mit uns selbst umgegangen sind, wie wir die Geschichte in uns wieder und wieder erschaffen haben und uns selbst vom Leben abgeschnitten haben, achtsam anzuschauen. Es ist so hilfreich, wenn wir unsere Selbstverurteilung, Selbstzerfleischung und Selbstbeschuldigung wahrnehmen und uns diese vergeben können. Wir hören langsam auf, über das Warum zu grübeln, und erkennen an, dass unser Unbewusstes vielleicht die beste Art, mit dem Schmerz umzugehen, für uns gewählt hat.
Aus diesen Erkenntnissen entspringt in einer siebten Phase das Wagnis zum Aufbruch und der Entschluss, die alten hinderlichen Muster abzustreifen. Menschen können dabei immer auch wieder in Altes zurückfallen oder sich neu verwundet fühlen. Gerade im Versuch der Loslösung von alten Mustern scheinen sich diese dagegen zu wehren, Als wären sie vertraute Gefährten, die meinen, uns beschützen zu müssen, bleiben sie oft hartnäckig bei uns. Rückfälle in alte Muster gehören dazu. Wir können würdigen, wozu es damals so war, wie es heute ist, und den alten Mustern danken, dass sie uns geschützt und uns gedient haben.
In einem achten Schritt beginnen wir mehr und mehr, Ja zu sagen zu dem, was ist, zu dem was war, zu unseren eigenen Entscheidungen in der Vergangenheit, und übernehmen mehr und mehr Verantwortung für das, was in unserem Leben gerade ist. Die Anklage anderer ist der Selbstfürsorge gewichen. Wir sagen Ja zu unseren Wünschen, zum Lauf des eigenen Lebens genauso, wie es war.
Ein sehr wichtiger neunter Schritt im Versöhnungsprozess ist die Hinwendung zur eigenen Kraft, die aus der Wunde entstanden ist, und das Sich-Erinnern an den eigenen unverletzbaren Kern. Jede Wunde hat letztlich Ressourcen in uns wachsen lassen. Wie haben wir es geschafft zu überleben? Woraus haben wir Kraft gezogen? Was ist an Erkenntnis und Engagement durch eine Verwundung in unser Leben gekommen? Hinter dieser Idee, dass aus Wunden Kraft werden kann, steht der Archetyp des verwundeten Heilers bzw. der verwundeten Heilerin. Das Verletztsein, die heilige Wunde, hat vielleicht dazu geführt, dass wir Heilkräfte entwickeln konnten und andere verletzte Menschen sowie Schmerz im Leben zutiefst verstehen.
Für manche umschließt dieser Schritt auch die Hinwendung zum göttlichen bzw. großen »Geliebtsein«. Wir können die eigene Wunde in das Licht der Liebe halten und uns hingeben, so dass Heilung geschehen kann. Angebunden an eine größere Kraft erfahren wir Unterstützung, mögen wir sie Schöpfungsliebe, Selbstheilungskraft oder Gott nennen. Frieden zu schließen kann heißen, sich dem Leben und wie es in uns webt, zutiefst anzuvertrauen.
Mitgefühl mit dem anderen im zehnten Schritt ist ein großer Perspektivwechsel. Ein indianisches Sprichwort besagt: »Laufe tausend Meilen in den Mokassins eines anderen, bevor du über ihn urteilst.« In dem Wissen, dass das, was war, nicht in Ordnung war, können wir andere in ihrem Gewordensein und ihrer Fehlbarkeit erkennen und vielleicht tiefes Mitgefühl für ihre Not empfinden, so handeln zu müssen. Mit dieser Einfühlung sehen wir den anderen wieder in seiner Menschlichkeit. Das kann große Auswirkungen haben. Wir unterscheiden, was jemand getan hat und was jemand ist. Solange wir die andere Person dämonisieren, machen wir es ihr einfach, weil sie sich dann nicht verantworten muss. Mitgefühl zu haben ist ein sehr wichtiger Schritt, denn auch die andere Person könnte sich dadurch verändern. Mitgefühl meint in diesem Sinne nicht, damit einverstanden zu sein, ihr von jetzt an zu vertrauen oder sie zu lieben. Jedoch können wir entscheiden, ob wir uns in Richtung Vergebung oder Rache bewegen und damit den Zyklus von Frieden oder von Gewalt weiter nähren.
Es gibt eine Kultur, in der Jugendliche, die etwas falsch gemacht haben, in der Mitte eines Kreises sitzen. Dieser Kreis der Gemeinschaft erzählt dem Jugendlichen, was alles gut an ihm ist – über viele Stunden. Die Erwachsenen gehen davon aus, dass das Fehlverhalten nur deshalb entstehen konnte, weil die Erwachsenen vergessen haben, den Jugendlichen daran zu erinnern, wie gut er ist. Wie sähe unser Leben wohl aus, wenn wir ähnlich mit Fehlern anderer umgehen würden?
An diesem Punkt angekommen, kann es manchmal tiefen Frieden bringen, anzuerkennen, dass vielleicht nicht alles zu versöhnen und zu verschmerzen ist. In diesem Sinne kann es sehr entlasten, zum aktuellen Zeitpunkt versöhnt damit zu sein, dass etwas unversöhnbar bleiben darf. Das Versöhntsein mit Unversöhnbarem ist ein elfter Schritt.
Ein letzter Schritt ist der Mut zur achtsamen Konfrontation. Die Zeit, die eigene Authentizität aus Rücksicht auf andere oder um der gesellschaftlichen Akzeptanz willen zu verleugnen, ist vorbei. Es gilt nun, die eigene Wahrheit auch nach außen auszusprechen. Es ist Zeit, die eigene Integrität höher zu stellen als die Erwartungen anderer. Manchmal haben Menschen so lange die Bürde der Schuld hinter viel Unausgesprochenem mit sich herumgeschleppt, dass es sehr wichtig ist, das Schweigen endlich zu brechen.
Es braucht Mut, Klärungen herbeizuführen, schwierige Dialoge zu führen und Wege zur Wiedergutmachung auszuhandeln. Ideal wäre es natürlich, wenn die Person, die verletzt hat, sagen würde: »Ich weiß, wie sehr es dich verletzt hat, und ich werde es nicht wieder tun«. Aber letztlich können wir das nicht erwarten. Zu vergeben ohne Stolz, ohne moralische Erhöhung, schützt uns davor, in ein erneutes Machtspiel mit Siegern und Verlierern einzusteigen. Wenn dann eine ähnliche Verletzung wieder passiert, z. B. in einer Beziehung, haben wir die Wahl: Möchten wir uns öffnen für unsere Verletzbarkeit, oder entscheiden wir, dass wir an unserer Grenze angekommen sind und gehen?
Die rituellen Auszeiten in der Natur beziehen sich auf unterschiedliche Phasen im Versöhnungsprozess. Es ist gut, wenn diese Naturrituale zur Versöhnung in einen geschützten Rahmen eingebettet sind und mit einem vertrauten Menschen, bei traumatischen Erlebnissen von einer in Psychotherapie oder Ritualarbeit erfahrenen Person, vor- und nachbereitet werden. Schaffen Sie bei all diesen Auszeiten sichere Grenzen, klare Schwellen und achten Sie darauf, in der Natur abgeschieden und ungestört zu sein. Sie können zum Beispiel eine sehr frühe Tageszeit wählen, in der kaum Menschen unterwegs sind. Für diese Rituale bzw. rituellen Auszeiten sind zwei Stunden ausreichend.
Im folgenden Ritual geht es darum, leer zu werden von dem, was wir nicht verarbeiten, leben, fühlen oder ausdrücken konnten im Leben. Damit können wir Platz für Neues schaffen. Da unser Körper alte Informationen speichert – auch all das Ungesagte, Ungefreute, Ungetrauerte und Ungefluchte –, ist es gut, den Körper einzubeziehen und ihn Stück für Stück von alten Informationen zu befreien, indem wir unseren Gefühlen freien Lauf lassen. Dieses Ritual kann so oft wiederholt werden, bis sich Körper und Seele freier fühlen.
Loch-Zeremonie – Gefühle zulassen35
Gehen Sie über eine Schwelle hinaus in die Natur. Suchen Sie sich einen Platz, der eine Verletzung, die Sie geprägt hat, symbolisiert. Schaffen Sie einen sicheren Raum für sich. Bleiben Sie im Kontakt mit der Erde.
Graben Sie nun mit bloßen Händen ein Loch in die Erde, auch wenn das schwierig ist. Vielleicht kommen Sie darüber gut in Kontakt mit Wut und Verzweiflung. Erzählen Sie dem Loch von Ihren Schmerzen, Ihrer Verletzung, von Verspannungen, wo sie sich im Körper festgesetzt haben, was Sie »hinuntergeschluckt« haben oder verdrängen müssen. Erlauben Sie sich, alle Gefühle und allen Ballast auszudrücken. Nehmen Sie dabei wahr, was die Gefühle Sie lehren wollen. Geben Sie sie in das Loch hinein und erleben Sie die Gefühle auch körperlich. Wenn das nicht so einfach geht, können Sie so tun, als ob es möglich wäre, bis die Gefühle mehr und mehr zu Ihnen kommen.
Am Schluss bedanken Sie sich bei der Erde. Setzen Sie einen Samen in das Loch (z. B. eine Buchecker), gießen Sie etwas Wasser hinein, schütten es wieder zu mit der Bitte an die Erde, die Wunden mit ihrer Regenerationskraft in etwas Fruchtbares zu transformieren. Bitten Sie am Schluss den Ort um einen Kommentar: Was kann er Ihnen darüber sagen, wie Sie mit dieser Wunde überlebt haben?
Sie können diese Übung auch variieren: Sie können mit der Person, die sie verletzt hat, imaginär spazieren gehen und dabei laut aussprechen, was nicht in Ordnung war, und anschließend die Loch-Zeremonie durchführen. Oder Sie suchen sich etwas – ein Wesen oder einen Ort – in der Natur, das diese Person symbolisiert, und gehen damit in Dialog. Sie können auch ein Symbol für die Verletzung selbst finden und mit dem Symbol sprechen, oder Sie suchen sich einen lichten und einen dunklen Platz, die Ihre Erfahrung widerspiegeln, und wechseln so lange zwischen beiden hin und her, bis Sie sich von dem dunklen Platz für immer rituell verabschieden können.
Ein kleineres Schutzritual ist:
Die Gefühle einem Schutzwesen erzählen
Finden Sie ein »Schutzwesen« in der Natur – einen Baum, einen Felsblock, eine Pflanze, einen besonderen Platz – bei dem Sie das Gefühl haben, geschützt zu sein. Erzählen Sie dem Wesen von Ihren Gefühlen und was für Sie nicht in Ordnung war. Nehmen Sie wahr, wie das Wesen Sie unterstützt und schützt.
Die folgende Übung unterstützt sehr eindrücklich, den eigenen Fokus von der Frage, was war, zu verschieben hin zu der Frage, welche Kraft durch die Verletzung in das eigene Leben gekommen ist.
Die Kraft aus der Wunde36
Gehen Sie hinaus über eine Schwelle in die Natur. Finden Sie dort eine Wunde oder ein Hindernis. Stehen oder sitzen Sie davor. Fragen Sie die Natur: Was ist meine eigene Wunde oder mein Hindernis? Und wie geht die Natur mit solchen Wunden und Hindernissen um? Wie heilt die Natur? Was kann Ihnen die Natur für Ihr Leben zeigen? Lassen Sie sich ermutigen, Ihre eigene Verletzung oder was Sie am Leben hindert, anzuschauen. Bleiben Sie eine Weile damit in Kontakt. Sie werden spüren, wann es genug ist.
Dann drehen Sie sich um und sitzen oder stehen mit dem Rücken zur Wunde oder zum Hindernis. Was sehen Sie dann? Was liegt der Verletzung oder dem Hindernis gegenüber? Fragen Sie das, was direkt vor Ihnen liegt, welche Kraft aus der Wunde bzw. dem Hindernis hinter Ihnen kommt. Spüren Sie hin: Wie fühlt sich die Wunde, das Hindernis nun in Ihrem Rücken an? Fragen Sie, welche Stärke, Fähigkeit oder Kraft dadurch in Ihr Leben gekommen ist.
Maria, Mitte vierzig, findet während ihrer rituellen Auszeit viele Federn an der Rupfungsstelle eines Raubvogels. Sie sieht, dass dort ein heftiger Kampf um Leben und Tod stattgefunden hat, und erinnert sich augenblicklich an die Wunde an ihrer Brust und an ihre Tochter. Sie spürt, wie viel »Federn« sie während ihrer Brustkrebserkrankung »gelassen hat«, bis dahin, dass sie aus dem Leben gehen wollte. Sie beweint die Verletzungen in dieser für sie sinnlosen und qualvollen Zeit. Und sie spürt die Schuldgefühle ihrer Tochter gegenüber und betrauert, dass sie nicht mehr für sie da sein konnte. Als sie sich umdreht, sieht sie Äste, die zu einem Torbogen über ihr geformt sind. Als sie ganz bewusst hindurchgeht, spürt sie neues Leben. Ihr wird deutlich, dass sie für ihre Tochter im Leben geblieben ist. Sie hat ihrer Tochter das Leben geschenkt, und ihre Tochter hat ihr das Leben neu geschenkt. Die Narbe auf ihrer Brust würde sie immer an das Geschenk des Lebens erinnern.
Die folgende rituelle Naturwanderung vertieft das Mitgefühl für andere Menschen.
Laufe in den Mokassins der anderen Person37
Gehen Sie über eine Schwelle hinaus in die Natur. Verbinden Sie sich zunächst mit Ihrem Vertrauen in sich selbst und mit Schutz.
Schlüpfen Sie dann in Gedanken in die Mokassins einer Person, die Sie verletzt hat. Laufen Sie durch die Welt mit ihren Schritten und sehen Sie durch ihre Augen. Tun Sie, was sie tun würde. Empfinden Sie, was sie empfindet. Lassen Sie sich von der Person zeigen, wie ihre Welt aussieht. Fühlen Sie ihre Wunden. Wie fühlt es sich an, auf diese Art und Weise in der Welt zu sein? Sie müssen dabei nichts gutheißen. Versuchen Sie einfach nur mitzufühlen.
Nach einer Weile markieren Sie eine neue Schwelle, über welche die andere Person nicht mitkommt. Gehen Sie als Sie selbst weiter. Schauen Sie, was Ihnen dann begegnet. Fragen Sie ein Wesen in der Natur: Was hat die andere Person dazu geführt zu verletzen?
Wenn wir von der anderen Seite keine Entschuldigung oder Einsicht erhalten, danach aber immer noch dürsten und es uns keine Ruhe lässt, dann kann dazu ein Ritual gestaltet werden:
Imaginiertes Mitgefühl
Gehen Sie über eine Schwelle hinaus in die Natur. Finden Sie ein Wesen, das für die Person steht, deren Verhalten für Sie in der Vergangenheit schwierig war. Nehmen Sie den Abstand ein, der für Sie passend ist. Stellen Sie sich nun vor, dass die Person genau die Worte spricht, die Sie zutiefst versöhnen würden. Bleiben Sie dabei verbunden mit dem Wissen, dass die reale Person diese Worte sagen würde, wenn sie es könnte, wenn sie das Liebevolle, Respektvolle und Achtsame frei in sich fließen lassen könnte und nicht durch ihre Muster daran gehindert würde. Hören Sie einfach nur zu, verabschieden Sie sich und spüren Sie auf dem Rückweg nach, was sich in Ihnen verändert hat.
Es ist eine große Herausforderung, die eigenen Schattenaspekte anzuschauen, uns selbst zu vergeben und andere um Vergebung zu bitten, wenn dies ansteht.
Mit »Schatten«, ein Konzept, das von dem Tiefenpsychologen C. G. Jung entwickelt wurde, sind diejenigen Seiten und Verhaltensweisen in uns gemeint, die wir nicht gerne sehen, wenig an uns akzeptieren und verdrängen – es sind unsere dunklen Seiten. Es ist der Ort, wo die Vorhänge vor unserer seelischen Bühne zugezogen sind, Orte der Scham, Ängste, alte Schuldgefühle, aber auch blinde Flecken, die uns unsere Mitmenschen spiegeln. Der Schatten wird meist auf andere projiziert, wenn es zu schmerzhaft ist, ihn anzuschauen und ihn uns ehrlich einzugestehen – das bekannte Sündenbockphänomen kann als Schattenprojektion verstanden werden.
Gerade wenn wir auf unserem Lebensweg mit manchen Entscheidungen, Verhaltensweisen oder Trennungen in der Vergangenheit hadern, lohnt sich die sanfte und selbstehrliche Frage, was der eigene Anteil daran ist, was passiert ist. Wir können uns vorsichtig fragen, ob es einen kleinen Funken der Beteiligung an einer bestimmten, für uns schwierigen Lebenssituation gibt oder gab.
Dabei ist es wichtig, sehr achtsam zwischen Ehrlichkeit und Selbstbestrafung aufgrund von Schuldgefühlen zu unterscheiden. Die Frage heißt deshalb nicht, warum wir etwas getan oder unterlassen haben, sondern wozu es gut war und wovor es uns geschützt hat. Vielleicht hatten wir etwas Bestimmtes zum Ausdruck bringen wollen und die Absicht war gut gemeint, auch wenn unser Tun ganz anders gewirkt hat.
Menschen sind fehlbar. Auch wir machen immer wieder Fehler. Sich dies einzugestehen und Verantwortung für unseren Anteil an dem, was passiert ist, zu übernehmen, heißt manchmal auch, einen Teil unserer Ichbezogenheit sterben zu lassen. Das ist leichter, wenn wir uns selbst vergeben und unsere Fehlbarkeit liebevoll annehmen können. Unsere Fehler und Schatten zu schauen heißt, uns in unserer Menschlichkeit zu erkennen. Dahinter kann ein neues, realistischeres Bild von uns selbst und vom Leben auftauchen. Unseren Schatten zu schauen, ihn anzuerkennen, ändert uns: Die Selbstakzeptanz wächst und wir nähern uns einem Gefühl von Ganzheit an.
Fehler zu klären, Dinge zu bereinigen und etwas wiedergutzumachen ist ein Urimpuls der menschlichen Natur. Sich mit der eigenen Wahrheit auch dem anderen zu zeigen, einzugestehen, dass uns leid tut, was wir getan haben und dass wir verletzt haben, ist auch ein tiefer Ausdruck der eigenen Selbstvergebung und Selbstheilung. Es ist liebevolle Ehrlichkeit mit uns selbst. Die Worte an sich sind dabei sehr einfach: »Es tut mir leid, dass ich das getan habe«, »Es tut mir leid, dass es dich verletzt hat« und »Bitte vergib mir.« Durch unsere Handlungen und eine Haltung frei von Stolz und Selbstanklage können wir viel wiedergutmachen.
Der Akt des Sich-Entschuldigens hat dabei seine eigene Bedeutung und seinen eigenen Wert. Die andere Person muss uns nicht vergeben, und es ist gut, Vergebung nicht zu erwarten. Denn manchmal können Entschuldigungen und Wiedergutmachungsversuche auch wie eine Beleidigung wirken, weil nichts in der Welt seelische oder körperliche Unversehrtheit zurückbringen kann. Über Taten der Wiedergutmachung Respekt vor der verletzten Person zu zeigen, ist daher vor allem ein symbolischer Akt.
Finden Menschen keinen Frieden, bevor sie sterben, kann es sein, dass sie dies an die nachfolgende Generation weitergeben. Ein Versöhnungsauftrag bleibt mitunter unbewusst in einem Familiensystem gespeichert, bis er »erlöst« wird.
Ein anderer Aspekt des Schattens sind Ängste: existenzielle Ängste; Angst vor Verlassenheit und Alleinsein; Angst zu versagen, nicht geliebt zu werden, nicht dazuzugehören; Angst vor der Zukunft, vor dem Alter, vor Krankheit, Verlust, Sterben und Tod.
Die übliche Haltung gegenüber der Angst ist, sie möglichst schnell zu unterdrücken oder das Angstauslösende zu vermeiden. Ängste sichern unser Überleben, können aber auch irrational sein. Ängste aktivieren unsere Schutzmechanismen, was dazu führen kann, dass wir uns verschließen und isolieren. Oft hindern uns Ängste daran, unseren eigenen Weg zu gehen und Altes zu verabschieden.
Die eigenen Schatten zu schauen ist mit der Einladung verbunden, die Ängste mit auf den Weg zu nehmen, uns ihnen liebevoll zuzuwenden und das Geschenk der Angst an uns freizulegen. Wenn wir der Angst ins Auge schauen und dem, was hinter der Angst liegt, Aufmerksamkeit schenken, können wir in unserem Herzen Frieden mit ihr schließen.
Grenzerfahrungen und Ängste können uns mit unseren brachliegenden Ressourcen in Kontakt bringen und diese wachrufen. Die Angst zu erkennen, auf sie zuzugehen, wenn sie kommt, und den inneren Ort zu erkunden, wo Angst und Freude gleichzeitig anwesend sein können – dafür braucht die Seele Zeit.
In allen spirituellen Traditionen der Welt gibt es die Ermutigung: »Fürchte dich nicht, sondern fühle die Gnade, das tiefe Geliebtsein vom Leben.« Ängste laden uns dazu ein, unseren eigenen Weg mit ihnen zu finden. So werden sie uns zu wichtigen Wegweisern, unsere Unsicherheiten mit ins Leben hineinzunehmen. Marianne Williamson sagt so weise, dass unsere tiefste Angst nicht die Angst vor unseren eigenen Unzulänglichkeiten sei, sondern die Angst vor unserer unermesslichen Kraft. Was uns am meisten ängstige, sei das Licht in uns, nicht die Dunkelheit. Die Befreiung von unserer eigenen Angst würde auch anderen Menschen erlauben, ihr Licht scheinen zu lassen.38
Die Lochzeremonie ist eine kraftvolle Zeremonie, in welcher der Schatten erfahren und befreiend verwandelt werden kann. Die nächste rituelle Naturwanderung betont einen spielerischen Aspekt, mit den eigenen Schatten umzugehen.
Mit dem Schatten tanzen
Gehen Sie an einem Sonnentag, zu einer Tageszeit, zu der die Schatten bereits länger sind, über eine Schwelle hinaus in die Natur. Laden Sie Ihren Schatten ein, Sie zu begleiten. Beobachten Sie, wie er Ihnen folgt. Spielen Sie mit ihm Verstecken, tanzen Sie mit ihm, versuchen Sie, ihn loszuwerden, ihn zu umarmen, sich im Schattenspiel Geschichten zu erzählen.
Dann fragen Sie ihn: Was soll ich von dir wissen? Wozu bist du gut? Was brauchst du von mir? Schauen Sie in die Sie umgebende Natur und lassen Sie sich vom Land lehren über Ihren Schatten.
Im folgenden Naturritual geht es darum, das eigene verletzende Verhalten zu ergründen und sich selbst dafür zu vergeben.
Sich selbst vergeben39
Gehen Sie über eine Schwelle hinaus in die Natur. Laden Sie symbolisch eine Person ein, die Sie verletzt haben. Nehmen Sie wahr, auf welche Art und Weise sie sich verletzt fühlt. Fühlen Sie ihren Schmerz. Fragen Sie sich: Wie mache ich das, dass ich andere verletze?
Lassen Sie dann die Person zurück und führen Sie einen ehrlichen Dialog mit sich. Was in Ihnen hat dazu geführt, dass Sie die Person verletzt haben? Versuchen Sie, viel Verständnis für sich selbst zu finden. Mit dem Schmerz verbunden fragen Sie sich: Kann ich mir selbst vergeben? Bitten Sie die Natur um ein Zeichen dazu.
Georg, dessen erwachsener Sohn den Kontakt zu ihm abgebrochen hat, nimmt seinen Sohn symbolisch mit auf seine rituelle Auszeit. Es tut ihm zutiefst leid, dass er sich immer so wenig Zeit für ihn genommen hat und dass er so wenig für ihn da sein konnte. Während seiner Wanderung kommt er an einen Baum, dessen Stamm sich auf Kopfhöhe in vier Äste teilt. Einer der Äste war abgeschnitten. Es ist, als ob er seinen Sohn durch den Baum sprechen hören könnte, dass ihm ein ganzer Ast in seinem Leben gefehlt und dass er ihn so sehr gebraucht hätte, gerade als Jugendlicher. Immer wieder hätte er das Gefühl, etwas von seiner Männlichkeit wäre abgeschnitten. Aber noch tiefer hätte er vom Vater gebraucht, dass er verständnisvoll ist mit seinem aufbrausenden Temprament. Georg entschuldigt sich aufrichtig bei seinem Sohn und drückt aus, wie sehr er ihn vermisst habe.
Er fühlt, dass er damals nicht über seine Schatten hatte springen können und dafür nun den Preis zahlt, von seinem geliebten Sohn völlig entfremdet zu sein. Der Baum lädt ihn zu einer Umarmung ein. Lange umarmt Georg ihn. Es ist eine heilige Zeit, in der er symbolisch seinen Sohn umarmt. Er erkennt zutiefst, dass er, ganz gleich was gewesen war, immer der Vater bleiben wird und dass er jetzt aus ganzen Herzen bereit ist, für seinen Sohn da zu sein.
Als der Mann den abgeschnittenen Ast genauer betrachtet, sieht er, dass dort eine kleine Höhle mit Wasser gefüllt ist. Genau an der Stelle, wo Verlust und Abgeschnittenes ist, konnte Neues entstehen. In diesem Moment kann er sich endlich selbst vergeben. Aus der Ferne betrachtet er den Baum noch eine Weile. Da fliegt eine Blaumeise zur kleinen Wasserhöhle und badet in ihr. Georg fühlt sich nach dieser Auszeit versöhnt mit sich, seiner Fehlbarkeit und seinem Sohn.
Die nächste Naturwanderung ist den Geschenken aus der Angst gewidmet. In der Dunkelheit ist es am leichtesten, mit der eigenen Angst in Kontakt zu kommen. Packen Sie eine Taschenlampe und ein Handy ein, die Sie nur in Notfällen benutzen. Es empfiehlt sich, bei dieser rituellen Auszeit eine Person Ihres Vertrauens über Ihr Vorhaben und die geplante Dauer der Naturwanderung zu informieren. Die Person sollte auf Sie warten. Nach der Auszeit signalisieren Sie ihr, dass Sie sicher zurückgekehrt sind.
Geschenke der Angst40
Gehen Sie in der Dunkelheit über eine Schwelle hinaus in die Natur. Nehmen Sie Kontakt mit der Dunkelheit und der Nacht auf. Suchen Sie sich einen Platz, an dem Sie sich mit ihm und mit sich selbst verbunden fühlen. Schauen Sie, wie es Ihnen in der Dunkelheit geht und was passiert.
Rufen Sie eine Angst, bis sie präsent ist. Fragen Sie die Angst: Was ist dein Geschenk an mich? Nehmen Sie dabei Ihre Gefühle im Körper wahr. Bleiben Sie so lange mit der Angst und der Dunkelheit in Kontakt, bis Sie spüren, dass Sie erhalten haben, was wichtig war.
Bedanken Sie sich für das, was Sie erfahren haben. Kehren Sie über die Schwelle zurück, informieren Sie die Vertrauensperson, dass Sie sicher zurückgekehrt sind, und gehen Sie wenn möglich direkt schlafen. Bleiben Sie bis zum nächsten Morgen im Schweigen und beobachten Sie Ihre Träume in der Nacht.
Helene, die große Angst vor der Dunkelheit hat, bricht bereits in der Dämmerung auf und bleibt ganz nah am Waldrand, fast reglos, wartend, verbunden mit ihrer Angst. Als es ganz dunkel ist, kommen plötzlich immer mehr Glühwürmchen hervor und tanzen vor ihren Augen in großen Scharen. Sie erkennt, dass in ihr immer Licht ist, auch wenn es draußen dunkel ist.
Schatten können wir auch dann schauen, wenn unsere Wünsche, die wir an andere Menschen haben, nicht erfüllt werden. Diesen Aspekt nimmt die folgende rituelle Naturwanderung in den Blick.
Im Spiegel des anderen
Gehen Sie über eine Schwelle hinaus in die Natur. Nehmen Sie symbolisch eine nahestehende Beziehungsperson mit auf den Weg, mit deren Verhalten Sie hin und wieder Mühe haben oder von der Ihre Wünsche nicht erfüllt werden.
Nehmen Sie dabei an, dass die andere Person Ihnen wie in einem Spiegel genau das zeigt, was Sie ohne diesen Spiegel nicht an sich selbst sehen könnten. Was finden Sie? Was sagt Ihnen die Natur dazu?
Finden Sie ein Symbol, das Ihren eigenen Anteil an der Situation liebevoll und ehrlich zum Ausdruck bringt.
An dieser Stelle der ersten Übergangsphase angekommen, können wir nun entscheiden, ob es ansteht, alte, überholte Bindungen auch innerlich zu lösen bzw. zu transformieren.
Auch wenn Trennungen von Menschen äußerlich vielleicht bereits vollzogen wurden, ist die innere und energetische Loslösung von wichtigen Bindungen noch einmal ein ganz eigener Prozess. Mit uns sehr nahestehenden Bezugspersonen sind wir so tief verbunden, als wären wir zwei nah beieinander stehende Bäume, deren Äste in den Kronen umeinander verschlungen und in den Wurzeln mehr und mehr zusammengewachsen sind. Es scheint, als wären sie im Laufe der Jahre eins geworden. Bei einer Trennung ist dieses feine Geflecht besonders deutlich spürbar: im Zugehörigkeitsgefühl, in der Vertrautheit, Geborgenheit sowie im Gefühl körperlicher Verbundenheit.
Dieses Geflecht sorgsam zu entwirren, mutet manchmal wie ein fast aussichtsloses Unterfangen an, als könnte man die ineinander gewachsenen Wurzeln nur noch gewaltsam zerreißen. Wann immer wir jedoch Wurzeln verlieren, haben wir auch die Ressourcen, neue Wurzeln auszubilden. Es ist nur die Frage, wie wir mit dem Veränderungsimpuls des Lebens umgehen.
Kann eine innere Loslösung geschehen, dann entfaltet sich meist sehr viel mehr Klarheit und es entsteht eine neue Ausrichtung im Leben. Das verändert auch die Beziehung zu dem Menschen, von dem wir uns lösen. Wir können ihm wieder freier und offener in einem neuen Verständnis und in einer neuen Rolle begegnen.
Trennen sich Paare, bevor die gemeinsamen Kinder erwachsen oder die gemeinsamen Projekte abgeschlossen sind, geht es ja nicht nur darum, die Bindung zu lösen. Vielmehr erfordert die gemeinsame Verantwortung für physische, geistige oder ideelle Kinder, neue Formen des Miteinanders zu finden. Die gemeinsame Geschichte, das gemeinsam Erlebte, das zusammen ins Leben Geborene lässt sich nicht einfach wieder auseinanderzerren. Es ist zu einem Teil unseres Lebens geworden. In der Lebensgeschichte sind wir untrennbar miteinander verwoben. In diesem Sinn lassen wir eine Bindung auch nicht wirklich los, sondern befreien uns nur von alten Lasten, überholten Bildern und transformieren die Beziehung in eine neue Form.
Das, was gelöst werden kann, sind die feinen energetischen Linien tieferer Schichten des Verbundenseins. Menschen wollen ihre ureigene Kraft zurückholen, Delegationen an und Projektionen auf den anderen zurücknehmen, die eigene Energie wieder zu sich zurückholen, die sie der anderen Person gegeben hatten. Sie wollen bestätigen, dass sie nun wieder eigenverantwortlich durchs Leben gehen.
Rituale, bei denen es darum geht, Bindungen zu lösen, haben einige wichtige Bestandteile: Zunächst ist es für den Lösungsprozess hilfreich, für das zu danken, was war: für die gemeinsame Geschichte, die schönen Erfahrungen, die einem niemand nehmen kann, für die tiefe Liebe, die man sich geschenkt hat, und für das, was man gemeinsam ins Leben bringen konnte. Diese Würdigung bereitet den Weg, sich der Frage zu widmen, wie das eigene Leben durch den anderen Menschen trotz aller Schwierigkeiten bereichert wurde, und ermöglicht, zu vergeben und um Vergebung zu bitten.
Im Zentrum von Loslösungsritualen steht meist, die Verantwortung für den anderen zurückzunehmen und die Verantwortung für das eigene Leben anzunehmen. Symbolisch wird das Verbindende durchtrennt. Manche Menschen verbrennen rituell Briefe oder zerreißen Fotos und vergraben sie anschließend. Manche wählen besondere Tage, die sie mit dem anderen Menschen verbunden haben, wie Hochzeitstage. Sie schenken sich selbst im Ritual, was sie sich von der anderen Person gewünscht hätten.
Zum Schluss eines Rituals kann die neue Rolle zur anderen Person bekräftigt werden, indem zum Beispiel ein Versprechen gegeben wird, weiterhin für die Kinder gemeinsam da zu sein. Die Naturrituale können alleine oder mit der Beziehungsperson, mit oder ohne Kinder durchgeführt werden. Hilfreiche Trennungsrituale, in denen auch Kinder eingebunden werden, hat Martina Kaiser entwickelt.41
Bindungen lösen42
Gehen Sie über eine Schwelle hinaus in die Natur. Tun Sie dies mit der Frage: Wer bin ich ohne den anderen? Schauen Sie, was Ihnen begegnet.
Suchen Sie sich dann einen Platz für Ihr Loslösungsritual. Legen Sie dort einen Steinkreis oder einen Kreis aus Blättern, Hölzern oder Tannenzapfen und setzen Sie sich hinein. Fragen Sie die imaginäre Beziehungsperson, von der sie sich lösen möchten, ob sie bereit ist, in den Kreis einzutreten. Wenn ja, dann empfangen Sie dort die Person, die Sie über einen besonderen Stein oder einen anderen Naturgegenstand symbolisieren können.
Nehmen Sie sich Zeit, um die Person um Vergebung zu bitten für das, was Ihnen leid tut, und vergeben Sie ihr, dass sie so war, wie sie war. Danken Sie der Person für das, was durch sie in Ihr Leben gekommen ist. Wenn es für Sie stimmt, sagen Sie Ihr, dass Sie sie lieben. Verabschieden Sie sich von ihr, zum Beispiel, indem Sie den Stein nun außerhalb des Kreises legen. Bleiben Sie noch eine Weile in Ihrem Kreis und verbinden Sie sich mit dem Platz.
Lösen Sie den Steinkreis auf. Stellen Sie sich auf dem Rückweg zur Schwelle die gleiche Frage wie zu Beginn: Wer bin ich ohne den anderen?
Das Verbindende dem Fluss des Lebens übergeben
Gehen Sie über eine Schwelle hinaus an einen Fluss. Setzen Sie sich an sein Ufer. Erinnern Sie sich an das, was Sie noch an den anderen Menschen bindet und was Sie lösen möchten. Halten Sie jeden einzelnen »Bindungsfaden« fest: Schreiben Sie ihn mit Tinte auf Blätter, auf kleine Papierzettel, ritzen Sie es mit einem Messer in trockene Äste oder besprechen Sie kleine Steine mit dem Verbindenden, das Sie lösen möchten. Achten Sie darauf, dass die Energie der Verbindung über das Gestalten für Sie spürbar wird.
Wenn Sie bereit sind, geben Sie mit der Bitte um Loslösung und Transformation Blatt für Blatt, Ast für Ast in den Fluss hinein. Lassen Sie es mit dem Fluss des Leben davonschwimmen.
Nehmen Sie sich anschließend Zeit zu fühlen, wie es ist, nachdem Sie diese Bindungsfäden gelöst haben.
Bereits das bewusste Gestalten dessen, was verbindend war, aktiviert einen tiefen Erinnerungsfluss.
Im Rahmen einer Therapie erzählt eine Frau, wie sehr es sie ein halbes Jahr nach ihrer Trennung zu ihrem Expartner zurückzöge, obwohl ihr Verstand ganz klar wüsste, dass für sie der Entschluss der Trennung unumkehrbar sei. Die noch nicht wieder »gutgemachten« Verletzungen lösten eine unbewusste Bindung zu ihrem ehemaligen Partner aus in dem Wunsch, dieser möge sich endlich entschuldigen.
Sie entschloss sich, selbst Verantwortung für diesen anstehenden Prozess zu übernehmen, und schrieb allen Schmerz, den sie in ihrer Partnerschaft erlitten hatte, und auch alle Verletzungen, die sie selbst ihrem Partner zugefügt hatte, mit Tinte auf ein Blatt Papier. Als für sie der innere Zeitpunkt gekommen war, in einem Ritual von den Verletzungen Abschied zu nehmen, hielt sie Blatt für Blatt so lange in den Fluss, bis die Tinte sich auflöste. Mit Dank für das Wasser und das Fließen kehrten eine bisher nicht gekannte Ruhe und Kraft in ihr ein.
In diesem Beispiel wird deutlich, dass Rituale nur so wirksam sind, wie sie in einen klärenden bewussten persönlichen Prozess eingebunden sind. Manchmal möchten wir vom Kopf her einen Verbindungsfaden bereits lösen, aber das Herz ist dazu noch nicht bereit. Es ist wichtig, ein gutes Gespür zu haben, ob die Zeit für das Ritual reif ist, um eine Verbindung rituell zu lösen. Gerade bei uneindeutigen Verlusten, wenn wir zum Beispiel nicht wissen, ob und wann wir einen Menschen je wiedersehen, oder wenn der Ausgang einer Erkrankung unklar ist, können Menschen zwischen Hoffnungslosigkeit und Hoffnung schwanken. Das Ritual hilft, die Loslösung eindeutiger zu vollziehen und zu bezeugen oder aber zu spüren, was noch nicht gelöst werden will.
Wenn Menschen Rituale gestalten, um eine alte Beziehungsform zu transformieren, ist es hilfreich, die Rituale mit kraftvollen Sätzen zu begleiten, um die Lösung der Bindung zu bekräftigen. Allein das laute Aussprechen der Sätze entfaltet schon die Wirkung von mehr Wahrheit und Realität. So wählte ein Vater folgende Sätze: »Ich ehre dich als Mutter meiner Kinder und würdige, dass es die Form der heilen Familie so nicht mehr gibt.« Er schrieb seine alte Vorstellung von Familie auf und übergab sie dem Feuer. Ein anderer Mann sprach: »Unsere Familie ist kaputt. Ich verspreche, als Vater Verantwortung zu übernehmen und verlässlich zu sein.« Eine Mutter formulierte den Satz: »Mögen wir beide als Eltern für unsere Tochter da sein können.«
Fäden durchtrennen
Gehen Sie über eine Schwelle hinaus in die Natur. Suchen Sie sich zwei Bäume, von denen einer für Sie und der andere für eine wichtige Beziehungsperson steht, mit der Sie eine alte Bindung lösen möchten.
Gehen Sie zunächst zu dem Baum der anderen Person. Nehmen Sie wahr, was an diesem Baum Sie an die andere Person erinnert. Spannen Sie dann Fäden um sich und den Baum. Das kann mit einem Knäuel Wolle sein oder Sie können die energetischen Fäden auch symbolisch mit der Hand aufspannen. Benennen Sie mit jeder Umkreisung, was Sie an die Person bindet. Wählen Sie dazu nur das aus, was Sie bereit sind zu lösen. Lassen Sie sich viel Zeit zum Nachspüren.
Dann trennen Sie die Fäden durch: entweder mit einer Schere, energetisch mit Ihrer Hand, die Sie durch die unsichtbaren Fäden ziehen, oder mit einer Feder. Sprechen Sie bei jeder Durchtrennung laut aus, wovon Sie sich lösen. Am Schluss können Sie noch symbolisch Fäden spannen, die bleiben sollen. Diese durchtrennen Sie nicht. Danken Sie dem Baum.
Anschließend gehen Sie zu Ihrem Baum. Nehmen Sie sich selbst und ihr Wesen in diesem Baum wahr. Spannen Sie Fäden für das, was Sie nun wieder mehr im Kontakt mit sich selbst leben wollen. Fühlen Sie die Verbundenheit mit Ihren Qualitäten und Fähigkeiten, die in der Beziehung gebunden waren und die nun zu Ihnen zurückfließen können. Durchtrennen Sie die symbolischen Fäden nicht. Sollten Sie Wolle verwendet haben, wickeln Sie diese wieder auf. Danken Sie Ihrem Baum.
Dieses Ritual kann vielfältig variiert werden: Sie und Ihr früherer Partner – oder eine stellvertretende Person – können in einem gemeinsamen Ritual Fäden für die Verbindungslinien zwischen Ihnen beiden spannen, die dazugehörigen Erinnerungen benennen und die Fäden dann durchtrennen. Jeder nimmt die halbierten Fäden mit, als Symbol für das nun Getrennte, das einmal verbunden war und von dem nun jeder im Rückblick seine eigene Geschichte erzählen kann. Sie können auch zwei Bäume mit Fäden verbinden, diese dann lösen und die Handlung mit Worten bezeugen und bekräftigen. Sie können sich auch symbolisch von einem Baum verabschieden, der den anderen Menschen verkörpert, so wie es am Anfang von Kapitel 1 in Susannes Geschichte beschrieben wurde.
Ulrich fand folgende Variante für sein persönliches Abschiedsritual in der Natur: Er wollte eine Nacht allein im Wald verbringen. In der Abenddämmerung über die Schwelle getreten, spürte er zunächst seine Verbundenheit mit der Schöpfungskraft. Er ging zu einem Platz, den er bereits kannte, und suchte sich dort einen Baum für seine Expartnerin, von der er sich lösen und die Bindung bereinigen wollte. Zunächst entschuldigte er sich bei ihr, dass er nicht der war, den sie sich gewünscht hatte, und bat sie um Verzeihung. Dann sprach er laut aus, was er ihr verzieh. Er sagte, dass er verzeihe, dass sie weder die Schwester, Mutter, Freundin noch die Geliebte war, die er sich gewünscht hatte und an deren Bildern er sie immer wieder gemessen hatte. Dann atmete er mit den Worten ein: »Ich nehme meine Energie zu mir zurück.« Dabei stellte er sich vor, wie er die Energie zu sich zurücknahm, die durch den Kontakt und die Bindung entstanden ist und ihn mit ihr verbunden hatte. Ausatmend sprach er: »Ich gebe dir deine Energie zurück.« Mit jedem Atemzug durchtrennte er die Fäden zwischen ihr und sich mit einer Feder. Die ganze Nacht wehte ein starker Wind, von dem sich Ulrich sehr unterstützt fühlte.
Genau genommen vergeht kein Tag in unserem Leben ohne Verlust. Die schamanische Sicht, dass »heute ein guter Tag zum Sterben ist«, erinnert uns daran, dass jeder kleine Abschied eine Übung für den großen Abschied ist. Verluste und Abschiede sind wohl die bedeutsamsten Übergänge und gehören unweigerlich zu unserem Leben dazu. Sie führen uns unmittelbar vor Augen, dass wir alle sterblich und vergänglich sind. Geliebte Menschen sterben. Freundschaften, Beziehungen, Lebensphasen und Materielles enden. Was erblühte, verwelkt.
Der Tod ist eine universale Erfahrung des menschlichen Seins. »Am Tod führt kein Leben vorbei«, heißt es bei Tristan und Isolde. Sterben ist einer der wenigen Lebensbereiche, wo eindeutig spürbar wird, dass wir die Natur nicht kontrollieren können. Obwohl medizinisch so viel dazu beigetragen wird, das Leben zum Teil künstlich und ohne viel Lebensqualität zu verlängern, bleibt der Tod doch ein tiefes Geheimnis. Es gibt niemanden, der uns erzählen kann, wie es ist zu sterben. Mit dem Tod kehrt unser Körper zurück in den Schoß von Mutter Erde und in den großen Kreislauf der Natur.
Bilder, Riten und Erklärungen rund um das Sterben, den Tod und das Danach finden sich in Mythologie, Märchen, Kunst, Religion und Philosophie aller Kulturen. In den Mysterienschulen der Welt wurde das Sterben bereits während des Lebens geübt, im Wissen um den tiefen Einblick in die Mysterien des Lebens angesichts des Todes. Auf diese Weise verlor sich die Angst vor dem Tod und der Geist konnte unterscheiden, was wirklich wesentlich im Leben war.
Das Sterben ist unser letzter Übergang. Nehmen wir die Sterblichkeit ins Leben hinein, ändert sich unser Blick auf das Leben. Abschiedlich zu leben könnte uns lehren, den Tod als Gewissheit von Anfang an in unsere Beziehungen, in unser Bewusstsein, unser Handeln und Wirken mit hineinzunehmen. Diese neue Beziehung zum Tod könnte die Qualität unseres Lebens auf sehr tiefe Weise beeinflussen. Menschen mit einer Nahtoderfahrung erzählen, wie tief sie danach ihre Geborgenheit im Sein erleben.
Zum Tod gehört die Energie der Trauer – die Energie, die Abschied nehmen lässt von dem, was aus dem Leben gegangen ist. Die Trauerfähigkeit ist in diesem Sinne lebensnotwendig. Oft ermöglicht das Trauern, mit dem Verlorenen innerseelisch verbunden zu bleiben – sei der Verlust nun ein geliebter Mensch, eine Körperfähigkeit, eine Arbeitsstelle oder ein Lebensplan.
Jedes Verlusterlebnis hinterlässt Spuren im Leben von Trauernden. Trauern ist eine in die Tiefe oder nach innen gerichtete Energie, in der mit dem Herzen gesehen und mit der Seele gehört wird. Trauernde werden oft zu Grenzgängern zwischen den Welten. Ihre Verbindung zur Anderswelt erlebt eine neue, oft spirituelle Dimension.
Zwischen dem trauernden Menschen und dem Verlorenen besteht eine Beziehung, die auch nach dem Verlust weiterbesteht. Deren seelische Energie sucht ihren Ausdruck – die Beziehung möchte schöpferisch gestaltet werden und mit ihrer essenziellen Botschaft dem Leben eine neue Farbe und Tiefe geben. Gerade für die Bewältigung von Verlusten gibt es kein objektives Zeitmaß. Es braucht Zeit und einen geschützten Raum, um damit umzugehen. So kann Bewegung in die Trauer und Lebendigkeit in die Wut kommen, die immer auch mit Trauerprozessen verbunden ist.
Trauer, Trauerzeiten, Abschieds- und Todesriten sowie Reinkarnationsmythen sind in den Kulturen und Traditionen sehr unterschiedlich. Während wir uns zum Beispiel als Zeichen der Trauer schwarz kleiden, wird in asiatischen Kulturen die Farbe Weiß getragen. In Mexiko wird an Allerheiligen auf den Gräbern der Ahninnen und Ahnen getanzt und gemeinsam gegessen. Die rituelle Kontaktaufnahme zu den Verstorbenen und ihrer Präsenz ist dort sehr viel selbstverständlicher als bei uns.
Gestalten wir für Abschiede eigene Naturrituale, können wir uns an Elementen aus den bei uns praktizierten gesellschaftlichen und christlichen Abschiedsritualen orientieren, wenn diese uns stimmig erscheinen. So können wir unsere Naturrituale zum Beispiel an Jahrestage oder Totengedenktage koppeln. Gerade das Entwerfen und Gestalten des ganz eigenen Ausdrucks der Trauer ist ein tröstender und heilsamer Prozess in der Auseinandersetzung mit dem oder der »unverlierbaren Toten«44. Im selbstgestalteten Ritual kann die seelische Beziehung zum Verlust oder zum verstorbenen Menschen geklärt werden. Gelebte Rituale bringen uns mit unserer Seelentiefe in der Trauer in Berührung.
Jeder Mensch trauert anders, jeder Abschied ist unterschiedlich. Daher braucht jede/r Trauernde auch ein anderes Ritual. Die Gestaltung eigener Abschieds- und Trauerrituale hängt wesentlich davon ab, in welcher Trauerphase wir uns befinden. Sind wir noch vollkommen fassungslos, schockiert oder von heftigen Gefühlen überflutet, braucht es ein anderes Ritual, als wenn wir den Verlust bereits weitgehend verarbeitet haben. Trauer und Abschiednehmen verlaufen wie Ebbe und Flut. Wir können uns vergegenwärtigen, dass Trauer letztlich weder umfassend abgearbeitet noch das Verlorene endgültig losgelassen werden kann. Trauer verläuft zirkulär, wir können mal mehr, mal weniger loslassen. Im Ritual geht es mehr um das »Sich-neu-Öffnen« und das »Ins-Herz-Nehmen«.
Das Würdigen der Vergangenheit ist meist ebenso ein zentraler Bestandteil dieser Rituale wie die Transformation durch eines der vier Elemente Luft, Wasser, Erde und Feuer. So kann ein Symbol vergraben, dem Fluss übergeben oder etwas verbrannt werden, um den Abschied zu bezeugen. Im Unterschied zu den Trennungsritualen steht bei Abschieds- und Trauerritualen mehr das Gedenken, Andenken an das Verlorene und der Ausdruck der Gefühle im Vordergrund. Wenn wir uns verabschiedet haben, können wir je nach Trauerphase gegen Ende des Rituals symbolisch auf das Neue zugehen, das uns im Leben erwartet. Wir rufen das Neue in unser Leben und in unsere Beziehungen hinein, das sich nun entfalten darf.
Die Natur ist eine heilsame Begleiterin für Trauer- und Abschiedsrituale. Sie lehrt uns mit ihrem Zyklus von Sterben und Werden, uns dem Wechsel der Zeiten anzuvertrauen.
Die nachfolgend geschilderten Rituale können für sich alleine oder noch besser mit weiteren Personen durchgeführt werden. Andere Menschen können den Prozess durch ihre Gegenwart noch einmal anders unterstützen und starke Gefühle wie heftige Trauer mit halten und aushalten. Trauer ist auch ein soziales Geschehen; im Ritual ist der soziale Kontext ganz wesentlich.
Einen »heilen« Ort des Erinnerns in der Natur schaffen
Für viele Menschen ist es sehr hilfreich, wenn sie ihrer Trauer einen konkreten Ort geben, an dem sie immer wieder Verbindung zu dem Verlorenen aufnehmen und diese lebendig halten können. Das kann das Grab der verstorbenen Person sein, aber auch ein anderer Platz in der Natur. An diesem Ort kann man leise oder laut beten, etwas aufschreiben, verbrennen und die Asche in die Erde geben.
Gerade um sich in der Trauer auch immer wieder mit den Erinnerungen zu verbinden, kann es sinnvoll sein, gemeinsame oder eigene Lieblingsplätze aufzusuchen.
Eine ganz andere Art, einen heiligen Ort des Erinnerns zu schaffen, ist, die gemeinsamen Freunde einer verstorbenen Person zu deren Lieblingsort in der Natur einzuladen. Rituell erzählen alle Anwesenden Geschichten über das Leben des verstorbenen Menschen, über gemeinsame Erlebnisse und drücken Ihre Dankbarkeit aus, was dadurch in ihr Leben gekommen ist.
Unbewältigte Abschiede wie zum Beispiel von einem verstorbenen Kind oder nach einer Abtreibung, vor allem wenn die Trauergefühle eingefroren wurden, können oft viele Jahre später zu Trennungen oder Brüchen in der Beziehung führen. Gerade hier könnte es hilfreich sein, sich rituell einen Trauerort oder ein Grab für das Verlorene in der Natur zu schaffen.
Einen Altar mit Symbolen für das Verlorene gestalten
Einen Ort des Erinnerns können Sie auch mit Symbolen aus der Natur zu Hause gestalten. Gehen Sie über eine Schwelle hinaus in die Natur. Erinnern Sie sich an den verlorenen Menschen oder das, was sie verabschieden. Sammeln Sie Symbole, die für das Verlorene bedeutsam sind.
Zu Hause können Sie liebevoll einen Altar gestalten, vor dem Sie beten oder meditieren können im Andenken an die Person. Sie können Fotos, Kerzen und Rosenblätter dazu legen. Ein selbstgestalteter Altar kann für eine trauernde Person zum Ort der inneren Ruhe, des Friedens und der Stille werden.
Die gemeinsame rituelle Naturwanderung oder Prozession
Ein starkes Ritual ist die gemeinsame Prozession. Gemeinsam gehen Sie über eine Schwelle hinaus in die Natur und tragen ein Symbol für das Verlorene, wie eine Kerze oder Blüte, an einen »heilen« Ort, an eine Kapelle, einen Fluss oder an ein Feuer. Das kann befreiend, berührend und verbindend wirken. Symbolisch wird ein gemeinsamer Weg gegangen, auch wenn der Trauerweg selbst individuell ist. Es ist, als ob die Dinge an den »richtigen Ort« getragen werden, da, wo sie gut aufgehoben sind. Dieser Ort kann Ausgangspunkt eines weiteren Rituals werden.
Ein Paar, das ein Kind durch eine Totgeburt verloren hatte, geht jede Woche zu einer bestimmten Uhrzeit zum Waldfriedhof. Während ihrer Prozession und am Grab verbinden sie sich mit ihrem Schmerz, ihrer Trauer sowie mit allen Hoffnungen und Wünschen, die mit diesem Kind verbunden waren. Sie fühlen erneut ihre Liebe zu dem verstorbenen Kind. Sie danken einander, dass sie bei diesem schmerzhaften und einschneidenden Erlebnis so gut füreinander da sein konnten, und dafür, wie viel Liebe das Kind trotz alledem in ihr Leben gebracht hat. Dabei zünden sie eine Kerze an mit den Worten: »Du hast in unseren Herzen immer einen Platz.« In ihrem Garten haben sie einen Baum für das Kind gepflanzt, der für sie ein Symbol ist, dass etwas anderes und Neues in ihrem Leben wachsen darf.
Gerade nach Abtreibungen, Fehl- und Totgeburten, wenn eine Beerdigung meist fehlt, braucht es sinnstiftende und tragende Rituale.
Das Verlorene der Mutter Erde schenken
Da alles, was lebt, mit dem Sterben in den Schoß von Mutter Erde zurückkehrt, ist es ein sehr kraftvolles Ritual, das Verlorene – den verlorenen Menschen, das verlorene Kind – ganz bewusst an die Mutter Erde wieder zurückzugeben.
Gehen Sie mit einem Symbol für das Verlorene über eine Schwelle in die Natur. Danken Sie, dass diesem Menschen von Mutter Erde das Leben geschenkt wurde und aus ihr heraus entstanden ist. Schenken Sie dann das Verlorene ganz bewusst der Mutter Erde und geben Sie es in ihren Schoß zurück. Legen Sie das Symbol dabei auf die Erde. Spüren Sie, wie das Verlorene vom Schoß der Mutter Erde aufgenommen wird und dort Geborgenheit und Frieden findet.
Einen Abschiedsbaum gestalten45
Gehen Sie über die Schwelle hinaus in die Natur. Finden Sie einen Baum, der zu Ihrem Abschiedsbaum wird. Erzählen Sie dem Baum Ihre persönliche Auseinandersetzung mit Ihrem Schmerz. Schreiben Sie das Wichtigste auf einen Zettel und hängen Sie diesen mit Hilfe eines Bindfadens in den Baum. Der Wind, der Regen und die Sonne werden gebeten, das Papier langsam zu zersetzen. Die Erde wird gebeten, die Papierreste in sich aufzunehmen. Die Kräfte der Natur werden gebeten, die Trauer und den Schmerz aufzunehmen und sie in Fruchtbarkeit und Wachstum zu verwandeln. Sie können dieses Ritual auch mit Freunden und Freundinnen eines verstorbenen Menschen gemeinsam durchführen.
Der Lebensfaden reißt – Faden und Bänder
Ein starkes, archetypisches Symbol für Leben und Tod ist der Faden und das »Verbinden und Lösen«. Es begegnet uns im Faden der Ariadne im Labyrinth und bei den drei Nornen, welche die Schicksalsfäden in der Hand halten.
Gehen Sie über eine Schwelle hinaus in die Natur. Suchen Sie sich einen ruhigen Platz. Sammeln Sie vier Hölzer, aus denen Sie einen Rahmen bauen. Mit Gräsern oder Wollfäden können Wünsche, Erinnerungen und Gefühle in den selbst gebauten Rahmen eingeflochten werden. Es entsteht ein Wandteppich, der ermöglicht zu erzählen, zu befühlen, zu besprechen. Die Erinnerungen werden fließend, das Gewebte kann weiter gestaltet werden.
Ein Floß bauen
Elemente aus dem eben beschriebenen Ritual können folgendermaßen aufgegriffen werden: Bauen Sie in der Natur ein kleines Floß aus Hölzern. In die Verbindungsfäden wird symbolisch das eingesponnen, was uns mit dem Verlorenen verbunden hat. Auf das Floß können kleine Gegenstände aus der Natur gelegt werden, welche die Kraft für das gemeinsam Erlebte vergegenwärtigen. Sie symbolisieren das, was wir von diesem Erlebten auch hinaus in die Welt tragen wollen. Mit einem Segel versehen kann es auf einen Fluss gesetzt und damit ins Leben geschickt werden.
Ein Licht am Horizont
Licht spielt in Trauerritualen eine große Rolle. Das Anzünden einer Kerze für einen verstorbenen Menschen dürfte bei uns das am weitesten verbreitete Trauerritual sein. Wir können einen Stern am Horizont als Symbol für den Verstorbenen auswählen. In der Zeit der Trauer wird manchmal vergessen, auch ein Licht für die Lebenden zu entzünden, die so wichtig für uns sind und mit uns gemeinsam die Trauer tragen.
Den Schmerz in eine Muschel sprechen
Gehen Sie über eine Schwelle hinaus in die Natur an einen Platz, an dem es einen Fluss gibt. Nehmen Sie zwei kleine Muscheln oder Steine mit, von denen Sie eine in die Hand nehmen, die andere in Ihre Hosentasche stecken. Gehen Sie Ihren Weg und sprechen Sie all Ihren Verlustschmerz in die Muschel hinein. Wenn alles ausgesprochen wurde und Sie bereit sind, übergeben Sie die Muschel dem Wasser mit der Bitte um Transformation.
Dann nehmen Sie die andere Muschel oder den Stein in Ihre Hand und sprechen hinein, was an Neuem in Ihr Leben kommen könnte oder bereits gekommen ist, das Sie nährt. Sprechen Sie während Ihres Rückwegs laut aus, in welche Kraft das, was Sie losgelassen haben, verwandelt wurde.
Etwas einpflanzen
Sehr kraftvoll als Trauerritual oder Bestandteil eines solchen kann das Einpflanzen eines kleinen Baumes oder einfach von Samen in der Erde sein. Der Kontakt zur Erde, die den Verstorbenen zu sich genommen hat, kann an sich schon heilsam sein. Zu sehen, wie etwas Neues, Lebendiges wächst, kann Mut und Kraft geben.
Medizinbeutel herstellen
Gehen Sie über die Schwelle hinaus in die Natur. Sammeln Sie Naturgegenstände, die Sie an den verlorenen Menschen oder das Verlorene erinnern und die Ihnen Kraft im Leben geben können. Wenn Sie zurückgekommen sind, machen Sie aus den Gegenständen ein eigenes Medizinbündel. Sie können auch Ihre Dankbarkeit ausdrücken, einen imaginären Dankesbrief schreiben. Und Sie können dem Wind lauschen und aus der Dankbarkeit heraus ein Lied für das Verlorene finden.
Der Weg meiner Beziehung zum Verlorenen
Gehen Sie über eine Schwelle hinaus in die Natur. Lassen Sie sich ziehen und spüren Sie dem Verlorenen nach, während Sie Ihren Weg gehen. Ihre Wanderung wird zum Sinnbild Ihrer Beziehung zu dem Verlorenen. Wo waren mühsame Steigungen und leichte Strecken? Wo gab es schöne Ausblicke und wann dorniges Gestrüpp? Wo konnten Sie sich erfreuen und ausruhen, wo war es auch anstrengend?