Der Pfad am Rand der Klippe, die durch Abbruch überhängender Felsen entstand, war nichts für ängstliche Menschen. Schwindelfrei sollte man schon sein. Das Meer fraß sich seit undenklichen Zeiten in die Sockelmasse der Insel. Immer wieder riss dann der Überhang ab, stürzte mit Getöse in die Tiefe und hinterließ, schweigend, eine neue Kontur in jenem fast halbkreisförmigen Verlauf der Klippe, die auf diese Weise irgendwann zu einer großen Bucht werden würde, mit einem Sandstrand und dem Bett eines steinigen Baches, der sich von den Höhen des felsigen Hügels hier ins Meer ergießen konnte.

Der Trampelpfad, der jetzt noch an der gefährlichen Klippe entlang führte, würde ebenfalls eines Tages verschwinden. Er war eine Herausforderung, denn wer ihn benutzte, konnte auf keinen Fall sicher sein, dass der Boden nicht gerade in diesem Augenblick in die Tiefe stürzte.

Franz Brix blickte, als er diesen Pfad betrat, in die Tiefe und dachte an Hölderlins Gedicht Hyperions Schicksalslied, dessen Versanordnung an eine überhängende Klippe erinnerte und vom Sturz der Menschheit in die Schicksalstiefen handelte. Gewaltige Wassermassen schäumten zwischen den aufgetürmten Felsbrocken auf und vereinigten sich, von magischer Kraft gezogen, wieder mit der türkisfarbenen, ultramarinblauen Weite des Meeres.

Brix befand sich auf einer Küstenwanderung, die ihn häufig von einer der bekannteren Badebuchten im Nordosten der Insel zu jenem ehemaligen Wehrturm führte, auf dessen nur über einen schmalen dunklen Gang und einige felsenartige Treppenstufen erreichbare Terrasse eine alte, wie von einem Piratenfilm übrig gebliebene Kanone lag. Immer wieder fragte er sich, wem die letzte Kugel aus diesem rostigen Rohr gegolten hatte und wann sie abgefeuert worden war. Brix mochte diesen Weg, weil das Meer bei jedem Schritt an seiner Seite war, und er spüren konnte, wie es atmete.

Sein eigener Atem war ihm dagegen eine Last.

Er dachte an die Anfänge der europäischen Theatergeschichte, die antike griechische Tragödie, in der die Helden durch Sühne einer Schuld, die sie nicht selten für andere, Vater, Mutter, Schwester oder Bruder leisten, erneut Schuld auf sich laden. Die Zuschauer erlebten diese Verkettung als Katharsis, eine Art Zusammenbruch oder Fassungslosigkeit, den Moment, in welchem die Einsicht in die Unausweichlichkeit der widersprüchlichen Schicksalsbestimmungen sich reinigend in ihrem eigenen Bewusstsein ausbreiten konnte.

Gnade kennt die Welt der Tragödie, der Verstrickung in immer neues Unheil, nicht. Ödipus zum Beispiel erschlägt ahnungslos seinen Vater und heiratet als König von Theben, ebenfalls ahnungslos und weiteres Unheil vorbereitend, seine Mutter Jokaste.

In diesen Tragödien kannte sich Brix als plötzlich aus der Bahn geworfener Deutschlehrer und Theaterpädagoge gut aus. Jetzt hatte er viel Zeit, sich daran zu erinnern.

Er hatte sich für seinen unbestimmt langen Aufenthalt auf der Insel ein abgelegenes Anwesen gemietet, vor dem an diesem Morgen mit wolkenlosem Himmel zwei schwarze Limousinen halt machten. Brix hatte sie vom Patio aus schon eine Weile im Blick gehabt, wie sie sich in der Ferne lautlos durch die verkarstete Hügellandschaft schlängelten. Einige dunkel gekleidete Männer mit Sonnenbrillen stiegen aus und bewegten sich rasch auf den Eingang des Wohnhauses zu. Unter ihren schwarzen Schuhen knirschte verhalten der Belag aus kleinen Stücken gelblich-rötlichen Marésgesteins.

Brix öffnete die Tür und grüßte in katalanischer Sprache „Bon dia.“

Die Männer sahen sich im glatt gefliesten Flur mit der schweren Truhe und den darauf angeordneten Familienfotos um. Einer folgte Brix ins Schlafzimmer, wo dieser ohne Nervosität seine wenigen Kleidungsstücke in die Reisetasche packte. Aus dem Bad, wo die Sonne, widergespiegelt von der Wasseroberfläche eines kleinen Pools hinter dem Haus infolge der Schlitze im Persiana-Fensterladen Streifen an die Balkendecke zeichnete, holte er seine dortigen Utensilien.

Dann nahm er von Regal und Schreibtisch zwei, drei Bücher und Manuskripte, die er seitlich in die Tasche steckte. Die Herren in Sonnenbrillen schienen nervös zu werden und beobachteten argwöhnisch, dass er noch einmal zurück ging, um einen Brief, den er auf der Tischfläche übersehen hatte, zu zerreißen und in den Papierkorb zu werfen.

Die Männer begleiteten Brix, nachdem sie die Schnipsel sorgfältig wieder zusammengesammelt und mit einem missbilligenden Blick und Kopfschütteln lose in eine Mappe gelegt hatten, nach draußen. Sie hielten sich vor und hinter ihm, bis sie die Autos erreichten. Die samtenen Klapp– und Sauggeräusche der Autotüren erfüllten für wenige Sekunden die Luft, deren schnelle Erwärmung im Laufe des Vormittags schon spürbar wurde. An Palmen, Pinien und Steineichen vorbei befand Franz Brix sich auf dem Weg in den spanischen Polizeigewahrsam, von wo er nach dem Fahndungserfolg von Interpol nach Deutschland überstellt werden sollte.

„Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden.“

Und was einmal getan wurde, erst recht nicht, dachte Franz Brix bitter, während seine Augen aus ihren Faltennestern jede Bewegung und das Minenspiel des jungen Schauspielers verfolgten.

„Der linke Scheinwerfer muss etwas ´runter gefahren werden“, rief er dem Beleuchter auf der Galerie zu, „es darf nicht so grell sein, das Licht, das Johannes´ Gesicht hervorhebt – ja, so ist es besser! Und nun musst du in dieselbe Richtung blicken, in die du sprichst, also leicht nach unten. Man soll deine Augenlider fast so sehen, als hättest du die Augen geschlossen. Du darfst nicht ganz so resigniert wirken wie eben, die Schultern nicht so weit nach vorne fallen lassen, wie du es eben gemacht hast. Das ist dein wichtigster Satz, Johannes. Da muss alles stimmen. Aber es war schon viel besser jetzt. Wir machen die ganze Szene noch mal, bitte. Vom Abgang des Fräulein Dr. von Zahnd und ihrer Bodyguards an.“

Dann fügte er hinzu: „Und Ihr beiden, ihr müsst euch am Anfang der Szene so aufstellen, dass ihr mit Johannes eine schräge Linie bildet, das ist dynamischer und man kann euch alle noch gut von jedem Platz aus sehen!“

Thomas und Sven, in den Rollen des Sir Isaak Newton und Albert Einsteins, nickten.

„Dann auf ein Neues!“

Thomas blickte auf seine Mitspieler und drehte den Kopf langsam zum Publikum. Dann schlurfte er zu dem waagerechten Balken, der ein Sofa darstellte, lehnte sich mit dem Gesäß dagegen und sagte wie zu sich selbst:

“Es ist aus.“

Sven war als Albert Einstein nun an der Reihe und sagte:

„Die Welt ist in die Hände einer verrückten Irrenärztin gefallen.“

Sven und Thomas standen nebeneinander und stierten mit leicht gesenktem Kopf nach vorn. Nun war Johannes an der Reihe und bemühte sich, alles richtig zu machen.

Mit klarer Stimme, aber aus einer resignierten Grundhaltung heraus, stellte er fest, dass es zwecklos ist, Gedachtes vor der Welt geheim halten zu wollen.

Johannes spielte den Physiker Möbius, dessen Versuch, das einmal Gedachte durch Verstecken der Manuskripte hinter der Fassade eines Geistesgestörten von der Menschheit fern zu halten, gescheitert ist. Die vorgespielte Geistererscheinung des König Salomon, der ihm, dem Physiker, angeblich die Naturgesetze, den Zusammenhang aller Dinge, das System aller möglichen Erfindungen, kurz: die berühmte Weltformel diktiere, ist aufgeflogen. Die Anstaltsleiterin, einzig Überlebende eines degenerierten Adelsgeschlechts, ist entschlossen, mit Hilfe der heimlich kopierten Manuskripte, als einzige und echte Verrückte in diesem Sanatorium, die Weltherrschaft anzutreten.

„Es ist jetzt noch viel besser gewesen, Johannes! Bevor du heute Nacht einschläfst, mach Dir noch mal bewusst, wie du es gemacht hast. Die Koordination von Körperhaltung und Mimik, die Rolle des Bühnenscheinwerfers, der dein Gesicht in dieser Szene sehr stark zeichnet und so weiter. Du wirst sehen, bei der nächsten Probe wird es noch besser!“

An alle gerichtet, sagte Brix:

„Danke schön, danke euch! Ach, Sven, wenn du ´rüber gehst zu dem Balken, dann bitte nicht Thomas ansehen, sondern ohne Kontakt zu ihm dich rumdrehen, anlehnen und nach vorn gucken, parallel zu seiner Blickrichtung. So – habt ihr noch was, sonst machen wir für heute Schluss. Wir müssen auch aufhören wegen der Dienstpläne von Frau Nicolai, oder besser, denen von Herrn Nicolai. Außerdem ist jetzt Abendessen.“

„Ja, ich würde gern mit Ihnen noch etwas klären“, sagte Johannes.

„So, um was geht es?“

„Ist was Persönliches!“

„Also gut, wir treffen uns nach dem Essen beim Umschluss im Aufenthaltsraum C!“

Dann verließen alle den Theaterraum, eigentlich eine kleine, renovierungsbedürftige Turnhalle, die für dieses Theaterprojekt jetzt eine kulturelle Funktion erhielt. Er knipste das Licht aus und als Orhan, der Beleuchter, an ihm vorbei kam, gab er ihm einen anerkennenden Klaps auf die Schulter,

„Bin froh, dass du bei uns mitmachst.“

„Ist schon gut, Doc, hab‚ ja auch was davon, ist eben nicht alles voll Scheiße hier.“

Dann machte Brix die Tür zu und drehte den Sicherheitsschlüssel, der mit zwei Bärten seitlich am Schaft ausgestattet war, in dem dafür vorgesehenen Schlitz um. Danach ließ er ihn in die Tasche gleiten, von wo eine Kette bis an seinen Gürtel führte. Dort war auch eine kleine Plastikhülle angebracht, in der sich eine rote Karte befand.

Inhaber einer roten Karte konnten sich im Haus und Gelände frei bewegen, um besondere Aufgaben wahrzunehmen. Insassen mit diesem Privileg galten als vertrauenswürdig, zuverlässig, und waren mit dem Prädikat „ gute Führung“ in den Akten ausgestattet.

Der Weg zur Kantine führte Brix am Freigelände der Untersuchungshäftlinge vorbei, das mit Nato-Stacheldraht auf dem Gitterzaun innerhalb der Haftanstalt gesichert war, und nun in einem schmutzigen Dämmerlicht dalag. Entlang an der grau verschossenen Außenmauer zu dem kleinen Tor, hinter dem der Weg in die Freiheit lag, falls man am Ende einen Entlassungsschein vorweisen konnte.

Brix dachte in diesem Augenblick, als er beim verantwortlichen Schließen der Tür zum Kantinengebäude sich selbst einschloss, an Johannes. Was wollte er mit ihm Persönliches besprechen? Im Gefängnis sind fast alle Angelegenheiten, die auch alle anderen betreffen, nur allzu schnell persönlich, denn das Persönliche, ging ihm durch den Kopf, ist verstümmelt und auf das Allgemeine reduziert, wie in diesem Augenblick, wenn er sich wie jeder andere anstellen musste für die Essensausgabe aus einem allgemeinen Topf, bei dem es keine Rolle spielt, ob es dir schmeckt oder nicht.

Hoffentlich ist bei Johannes nicht etwas im Gang, was seine Mitwirkung an dem Theaterprojekt gefährden könnte, grübelte Brix. Er ist kein einfacher Mensch, liebenswert zwar mit seinen klein wirkenden braunen Augen, mit denen er einen ansieht und die häufig ein wenig belustigt auf seinem Gegenüber ruhen. In seinem Innern spielt sich mehr ab, als sein anpassungsfähiges Auftreten vermuten lässt, dachte Brix.

Er kannte Johannes schon seit dessen Einlieferung vor knapp einem Jahr, als er mitbekam, wie Johannes sich zunächst gegen gar nichts auflehnte, alles mit sich geschehen ließ, wogegen junge Insassen sich häufig so lange zur Wehr setzten, bis sie genug Härte von Seiten des Bewachungspersonals zu spüren bekamen. Dann aber tobte Johannes sich völlig überraschend in einem Wutanfall an dem schweren Eisengestell des Bettes in seiner Zelle so heftig aus, dass die Längsholme verbogen und die Beine teilweise aus der Senkrechten geknickt waren. Diese Attacke galt als eine der schlimmsten Sachbeschädigungen in der letzten Zeit, wobei niemand Johannes diesen überaus massiven Krafteinsatz zugetraut hätte. Das „Accessment“ genannte, gefängnisinterne Verfahren für die Eingangsbeurteilung eines Insassen scheiterte bei Johannes erst einmal daran, dass die Bereitwilligkeit, Kreuzchen auf einen Fragebogen zu machen, mit der Kompliziertheit seiner mündlichen Aussagen kollidierte. Es war für die Gefängnisleitung nicht zu erkennen, ob er geeigneter für das berufsqualifizierende Programm in einer der Werkstätten war oder besser in die beruflich indifferente Künstlerwerkstatt passte oder aber sogar einem reinen Beschäftigungsprogramm zugeführt werden sollte, das zum Beispiel aus dem Verpacken von Jutetaschen für den Transport zu den Abnehmerfirmen bestand, wo diese in der Anstalt hergestellten Produkte vermarktet wurden. Wenn Johannes direkt gefragt wurde, was er, im jungen Leben erst einmal gescheitert, jetzt aus sich machen wolle, sagte er: „Das ist mir egal“.

„Was war das denn?“, mit dieser Frage stellte der Vater Johannes zur Rede, nachdem eine Lehrerin des Lessing-Gymnasiums sich die Mühe eines persönlichen Hausbesuchs gemacht und den Vater zu besserer Kontrolle seines schulschwänzenden Sohnes ermahnt hatte.

“Ich hatte keine Lust, bin ja viel älter als die anderen in der Klasse. Weil ich ja erst mit sieben in die Schule kam“, erklärte Johannes bündig.

„Noch lange kein Grund, sich auf der Straße herum zu treiben, ja!“

Die Lautstärke des Satzes schwoll an, beim Ja!“ brüllte der Vater und versetzte Johannes einen Schlag mit dem massigen Handrücken ins Gesicht. Aus der getroffenen Nase tropfte Blut. „Warum hast du mich nicht bei Mama gelassen damals“, schrie Johannes zurück, während er sich das Blut mit einem Stück Toilettenpapier abtupfte und die Nase hochzog.

“Wirf es in den Abfalleimer!“ befahl der Vater.

„Kannst von Glück reden, dass ich nicht zurück gehauen habe“, raunzte Johannes und blickte am Vater vorbei auf die verschossene Tapete, die mit grünen und braunen Hufeisenformen auf gelblichem Untergrund gemustert war. Um den Lichtschalter an der Tür gingen diese Farben in ein schmutziges Dunkelgrau über. Am Türrahmen klebte ein gelber Zettel, auf dem eine Geldsumme, ein Datum und eine Telefonnummer vermerkt waren. Vom Fenster aus konnte man auf die Seitenfläche eines Nachbarbalkons sehen, über der einige sparsam beblätterte Stängel einer Pflanze hingen, deren Vorfahren einst zur Flora eines Regenwaldes gehört haben mochten. „Das war noch gar nichts!“ brüllte der Vater wieder. „Wenn ich dich beim Schwänzen erwische, bekommst du es mit mir zu tun, du wirst mich kennen lernen, Früchtchen! Was glaubst du wohl, warum ich mir den Arsch aufreiße, für wen wohl, he?“

Der Vater arbeitete bei einer Baustoffhandlung als Fahrer eines Gabelstaplers, wofür er durch eine Umschulungsmaßnahme des Arbeitsamtes qualifiziert worden war. Gelernt hatte er Fliesenleger, konnte aber wegen eines Bandscheibenvorfalls nicht mehr in diesem Beruf arbeiten. Aber auch jetzt, in diesem Beruf, kam er meistens mit Rückenschmerzen nach Hause und war schon deswegen fast immer übel gelaunt, was seine Neigung zur Argumentation mit den Fäusten noch unterstützte.

Johannes schob beim Aufstehen den Stuhl zurück, auf den er sich kurz gesetzt hatte, um sich besser um seine Nase kümmern zu können, griff seine Jacke, die Mütze hatte er bereits auf dem Kopf und verließ schlurfend die Wohnung. Die Treppengeräusche prallten wie in einer Squash-Anlage von einer Wand zur anderen, als er die beiden Absätze heruntersprang.

Die Haustüre war noch nicht wieder in ihren Rahmen zurückgeschnappt, da war Johannes bereits vorne an der Straße angekommen, steckte die Hände in die Jackentasche und bewegte sich jetzt schlurfend in Richtung Katharinenplatz. Dort wartete Mehmet. Sie hatten sich per SMS verabredet.

„Was ist los, du machst Scheißgesicht“.

„Mein Vater hat Stress gemacht wegen Schule schwänzen“.

„Alter, hau doch ab!“

„Nee, geht nicht wegen Kohle und so.“

„Kannst selbst genug haben. Weiß was?“

„Was?“

„Da is so´n neuer Handyladen, Kumpel von mir. Eigentlich von mein Bruder, aber der is ok, kann ihn ablenken mit Fußballthema oder so. Cutter hab ich mit, ok?“

Johannes ließ sich, wie schon so oft, wieder darauf ein. Es lief alles ohne Probleme. Er schaffte drei in Verpackung. Brauchte nur die Kabelbinder am Regal durchzuschneiden und schnell die Nachbarschachteln ein wenig zu verschieben, dass keine große Lücke entstand. Mehmet hatte sich über die Sportseite einer türkischen Zeitung gebeugt und den Verkäufer, ein Mann von vielleicht dreißig Jahren, mit türkischen Kommentaren zu dem, was in dem Artikel zu lesen war, angelockt. Gemeinsam vertieften sie sich, auf die Ellenbogen gestützt, in die Zeitung.

„Was ist mit dein Fußball, hast mal wieder kein Tor geschossen?“ lachte Ali und kraulte freundschaftlich Mehmets Locken. Johannes hatte keine Lust, darüber nachzudenken, was an Ali hängen bleiben wird, wenn der Diebstahl herauskommt. Sie unterhielten sich nicht über Folgen oder Ursachen.

„Mittwoch bring ich dir Geld mit, jetzt lass uns allein gehen, abhauen“, lachte Mehmet versteckt.

Nachdem sie sich getrennt hatten, lief Johannes ohne bestimmtes Ziel in der Stadt herum.

Es waren keine großen Entfernungen zwischen den Kaufhäusern, die er durchstreifte, und der Steinbank, wo er schließlich landete, am Rande des Flusses.

Er setzte sich und zog die Beine an, um die Fersen auch noch auf der Betonbank unter zu bringen. Er umschlang seine Knie und schaukelte leicht vor und zurück. Ohne besonderes Interesse blickte er den Passanten, die an ihm vorbeiliefen, hinterher. Ein kleines Ausflugsboot, auf dem ein Fest gefeiert zu werden schien, tuckerte an ihm vorüber.

Auf der anderen Seite des Flusses quoll aus einem Schlot eine gelblichweiße Dampfwolke. Am Ufer harrten einige Angler aus, denen er gelangweilt zusah

Seine Nase schmerzte noch immer.

Da er bereits schon einmal sitzen geblieben war, musste er das Gymnasium schließlich verlassen. Er hatte es nur noch selten von innen gesehen und schon gar nicht pünktlich zu Beginn des Unterrichts. Die Polizei war seinetwegen mehrere Male sowohl in der Schule als auch zu Hause aufgetaucht und der Vater wurde immer gewalttätiger.

Johannes versuchte es auf der Hauptschule und nahm sich vor, dort wenigstens den erweiterten Abschluss zu machen. Da aber auch das nach einigen Monaten scheiterte, weil er das große Unbehagen in sich nicht bändigen konnte und wieder dem Unterricht fernblieb, war auf diese Weise weder an eine Lehrstelle, noch an irgendeine andere Fortsetzung der traurigen Schulzeit zu denken.

Auf einer Geburtstagsfete in der Clique, zu der auch Mehmet gehörte, betrank sich Johannes, kiffte und lachte.

Am frühen Morgen torkelte er mit einigen anderen grölenden jungen Leuten auf die Straße. Mehmet prahlte:

„War blöd, aber hab ich gemacht – hier!“, und zeigte Johannes zwei Handys.

„Wo hast du die her?“ herrschte Johannes ihn an.

„Von dem Geburtstagskind, der braucht doch nicht drei!“

„Hast ihm die geklaut, Mann?“

„Hab ich mitgehn lassen, ist besser.“

„Du Schwein, - so was - gehört sich nicht, Freunde beklauen“, lallte Johannes. „Du bringst die wieder hin, morgen, Alter, sonst - sind wir - auseinander, du Arsch, und ich klau- nix mehr mit Dir!“

„Fick dich!“

Eine andere Gruppe Jugendlicher, die sich auf der anderen Straßenseite bewegte und im fahlen Morgenlicht wie ein zottiger, müder Hund wirkte, wurde von Johannes lautem Geschimpfe und dem gebrüllten „Fick dich!“ von Mehmet wieder wach, und einer äffte Johannes nach: „… sonst sind wir - auseinander und ich klau- nix mehr mit dir, du Arsch.“

Da wurde Johannes ganz ruhig und sagte zu einem aus seiner Clique:

„Gib mir mal deinen Schläger“.

Gleichzeitig griff er ihm in die offene Bomberjacke und zog ein Metallrohr heraus, an das eine kräftige Zugfeder geschweißt war. Vorne war diese mit einem angespitzten Flacheisen bestückt. Damit lief er über die Straße, griff ohne zu überlegen den Nächstbesten an, schlug ihm mit dem Todschläger auf die Nase und die Augen.

Der Junge stürzte sofort zu Boden und es bildete sich eine Blutlache, in der sich schemenhaft einige fantasielose Hausfassaden spiegelten.

Johannes saß bereits mit angezogenen Beinen auf einem Tisch an der Wand und wartete. Er blickte vor sich auf den Boden, wo einige Schalen von Sonnenblumenkernen verstreut waren. Er wippte kaum merklich vor und zurück.

Einige andere Insassen kamen und gingen, setzten sich hierhin und dahin, spielten Karten oder schwiegen sich an und drehten ihre Kugelschreiber zwischen den Fingern.

Lieber wären ihnen Feuerzeuge gewesen, argwöhnte Brix, als er Johannes mit einem freundschaftlichen Klaps auf die Schulter begrüßte und sich setzte.

„Was ist los?“

Johannes sagte nichts, wippte weiter vor und zurück und blickte auf den Älteren schräg unter ihm. Er wusste nicht, wie er anfangen sollte.

„Na, komm schon, raus mit der Sprache!“

„Es – geht um - Vanessa.“ Pause. „Ich meine, es geht eigentlich nicht um sie, sondern es geht um sie und mich.“ Er rutschte vom Tisch und nahm sich einen Stuhl.

„Vanessa ist –“

„Ich weiß, - du magst sie.“

Johannes blickte ihn starr an.

„Ich bin - “

„Ich hoffe, du machst keine Dummheiten, Johannes!“

„Nein, mach ich nicht -, aber könnten wir-,“

„Was?“

„- die Rolle umbesetzen? – Ich will den Möbius nicht mehr spielen, ist sowieso nichts für mich, so ein Weltverbesserer.“

Brix spürte den inneren Kampf, die Hartnäckigkeit des Jungen, seine Anstrengung, sich richtig zu äußern, die seinem eher sanften Blick jetzt etwas Hartes verlieh. Er bemühte sich, diesem unbeweglichen Blick nicht auszuweichen. Zugleich merkte er eine Unruhe in sich aufsteigen, ein Gefühl des Versagens, Angst, dass sich die letzte Chance, ein trostloses Gefängnisleben wenigstens zeitweise wie in ein Leben jenseits dieser Mauern, jenseits des Verbrechens zu verwandeln, in Hoffnungslosigkeit auflösen könnte. Er dachte einen kurzen Moment an Falk, seinen Sohn, der in manchem Johannes sehr ähnlich war. Wenn er, Johannes, vom Scheinwerferlicht aus der Dunkelheit der verfallenden Turnhalle herausgehoben wurde, sah er eine Ähnlichkeit mit Falk mit seiner Sanftheit, einer gewissen Kühnheit, die sich mit den heiteren braunen Augen und den geschwungenen vollen Lippen zu einer idolhaft jugendlichen Erscheinung vereinigten. Ein tiefer Schmerz meldete sich. Er atmete durch und sagte zu Johannes:

„Bitte gib dir und uns eine Chance. Vanessa spielt die Schwester Monika so eindrucksvoll und du den passenden Möbius dazu. Es ist toll, euch so zu erleben.“

Johannes antwortete einsilbig: „So.“

Brix war sich bewusst, dass er Johannes keine Vorhaltungen machen konnte, wenn er jetzt wegen einer Verliebtheit alles hin schmeißen würde. Es wäre das Aus für ein Theaterprojekt, das nicht nur das größte Vertrauen beiderseits der Gittertüren mit den ewigen Schlössern voraussetzte, sondern dass es wegen der weiblichen Rollen, die auch nur mit Ihresgleichen besetzt werden konnten, ein besonders großes Entgegenkommen der Gefängnisleitung bedeutete, diese Rollen von Bediensteten der Haftanstalt spielen zu lassen.

Wahrscheinlich war Johannes sich dieses seltenen unbürokratischen Entgegenkommens, des Überspringens der üblichen Denkbarrieren und Verwaltungsvorschriften seitens des Direktors gar nicht bewusst, sagte sich Brix. Nur diesem Entgegenkommen war ja die Arbeit an einem Theaterstück im Knast, eine oder mehrere Aufführungen, anstaltsöffentlich aber auch außerhalb der Gefängnismauern, zu verdanken. Erworbene Privilegien stünden für die ganze Truppe möglicherweise auf dem Spiel. Wegen eines prekären Liebesverhältnisses, vor dessen möglichem, ja sogar wahrscheinlichem Auftreten die Anstaltspsychologen ihn, Brix, gewarnt hatten. Dies war auch der entscheidende, nahe liegende Einwand der Gefängnisleitung gegen das Mitwirken von Insassen aus dem streng abgeschotteten Frauentrakt der Haftanstalt. Die Furcht vor unkalkulierbaren Komplikationen führte schließlich dazu, für diese Rollen weibliche Bedienstete zu gewinnen.

Vanessa, eine jugendlich wirkende Sozialpsychologin, die stets in Bluejeans und T-Shirt anzutreffen war und sich unbefangen vor allem auch während der Umschlusszeiten zwischen ihrem Büro, den verschiedenen Werkstätten und Zellen hin- und her bewegte und sich wegen ihrer Vorurteilslosigkeit und Schlagfertigkeit großer Beliebtheit bei den Insassen erfreute. Eine hervorragende Schwester Monika, der man die Liebe zu Möbius, dem angeblich verrückten Physiker, zutraute. Tina, die Marta Boll spielte und dafür eine gewisse Stämmigkeit mitbrachte, was dem knappen Dialog im ersten Akt der „Physiker“ entgegenkam, in welchem der Inspektor den bereits zweiten Mordfall in ´Les Cerisiers´ zu untersuchen hatte, und auf den Hinweis, dass die bisherigen Opfer, ebenfalls Krankenschwestern, beide trainierte Karate- und Judomeisterinnen waren, die Frage an Marta Boll stellte: „Und was treiben sie für einen Sport?“ „Ich stemme!“, antwortete die einzige Krankenschwester, die nicht ermordet wurde, in diesem Trakt der psychiatrischen Anstalt, den nur die drei Physiker Newton, Einstein und Möbius belegten. Tina war in der Haftanstalt als medizinischtechnische Assistentin im Gesundheitszentrum tätig, jeder kannte sie.

Was Frl. Dr. Mathilde von Zahnd betraf, die Rolle mit dem meisten Text und dem Anspruch, angebliche Fürsorglichkeit, kalte Berechnung und echten Wahnsinn überzeugend auf der Bühne zu verkörpern, und dies auf eine Weise, die gerade auch bei den Insassen als Zuschauer keine unfreiwillige Komik bewirken durfte, trotz der allzu leicht falsch gedeuteten Einordnung des Stückes als „Komödie“, wie sie Friedrich Dürrenmatt, im Untertitel – eine Komödie - vorgenommen hat, was also diese Rolle betraf, fand sich nach schwieriger, schließlich zermürbender Suche die theaterbegeisterte Ehefrau eines prominenten Mitglieds der Gefängnisleitung, das für Öffentlichkeitsarbeit und Ausbildung zuständig war und jeden Häftling genau kannte. Frau Nicolai, oder Renate, wie sie bei den Theaterleuten genannt werden durfte, verfügte, wie Tina Jansen für die Rolle der Schwester Marta Boll, über eine natürliche Voraussetzung, das Fräulein Dr. Mathilde von Zahnd zu verkörpern. Sie hatte zwar keinen Buckel, wie Dürrenmatt für diese Figur vorschreibt. Den musste sie sich jetzt, in der letzten Probenphase, in der schon mit Kostümierung gespielt werden sollte, stets zusammen mit dem weißen Kittel überziehen. Aber sie besaß eine kräftige, leicht gebogene Nase, an der bei passender Beleuchtung der Ansatz eines Höckers sichtbar wurde. Mit streng nach hinten gekämmtem Haar, das zu einem Nackenknoten zusammengebunden wurde, war dieses im wirklichen Leben als nicht störendes, sondern charakteristisches Detail ihrer hübschen Physiognomie zu einem dämonisch wirkenden Merkmal einer Erscheinung geworden, welche sie auch wegen ihres schwarzen Handstocks in die Nähe einer Hexe rückte.

Diese Frauen nahmen es auf sich, an den schwierigen Proben und dann später an mehreren Aufführungen teilzunehmen. Dabei ging es in der Bereitschaft, von jenseits des Gefängnisgitters an Aktivitäten der Häftlinge mitzuwirken, nicht allein um die Zeit, die zusätzlich zu investieren war. Vielmehr war es der Blick der Häftlinge, der sich veränderte, auf sie, die externen Frauen mit ihren Funktionen im Gefängnisalltag, wodurch im problematischen Fall der Umgang mit dem ihnen anvertrauten Klientel leiden mochte oder aber im Gegenteil, gemäß der heimlichen Hoffnung des Anstaltsleiters Dr. König, auch dazu beitragen konnte, die alltäglichen Aufgaben zu erleichtern.

Brix war beunruhigt. Er musste sich neben allen anderen Aufgaben um Johannes besonders kümmern, damit das gesamte ehrgeizige Projekt nicht auseinander flog.

Sein Blick ging durch die vergitterten Fenster, in denen sich die Neonbeleuchtung spiegelte, nach draußen, wo die Konturen der Gebäudekörper und der spärliche Baumbestand sich im Abenddunkel aufzulösen begannen.

„Wen sollten wir diese Rolle spielen lassen – du weißt, wie lange es gedauert hat, bis der Text saß und du wusstest, was du aus dem gequälten Möbius machen kannst!“

„Dann muss eine andere die Schwester Monika spielen!“

Johannes sagte das mit großer Entschiedenheit, der eine unterschwellige Angst anhaftete, denn auch er wusste, wie viel für ihn auf dem Spiel stand. Das wichtigste, der Glaube an sich selbst, dass er etwas aus sich machen konnte.

Einen anderen, sehr komplizierten Charakter, der nie richtig zu greifen war, mit seiner eigenen Person darzustellen, die selbst aus abgebrochenen Versuchen, erfolgloser Suche nach Halt und Verständnis, aus Wut und Aussichtslosigkeit bestand, jedoch jetzt auch aus der Erfahrung der Anerkennung seiner Leistung und seiner offensichtlichen Begabung in diesem Theaterprojekt, mit dem eine kleine Hoffnung zu wachsen begonnen hatte.

Johann Wilhelm Möbius war eine Kunstfigur, die ihm die Möglichkeit eröffnete, sich in der Wirklichkeit seines bis dahin unglücklich verpfuschten Lebens zu entwickeln.

Dass er einen Jugendlichen fast tot geschlagen hatte, war bitter genug. Er hatte aber mit Hilfe der psychologischen Betreuung inzwischen auch begriffen, dass er in nicht gänzlich zurechnungsfähigem Zustand im Affekt gehandelt und deswegen als nur bedingt schuldfähig diese zwei Jahre aufgebrummt bekommen hatte. Im Hinblick auf die dauernde Beeinträchtigung, mit der sein Opfer leben musste, vielleicht wenig, aber eine lange Zeit im Leben eines jungen Mannes, aus der er jetzt wenigstens etwas machen wollte.

„Schade.“ Brix überlegte, wobei er mit Daumen und Zeigefinger die senkrechten Falten zwischen den Augenbrauen massierte. Vanessa die Rolle der Marta Boll spielen lassen, das wäre möglich, aber nie würde Tina in die Rolle der Monika schlüpfen können, einer Frau, die ahnungslos gemäß dem Intrigenplan einer verrückten, aber berechnenden Irrenärztin die verlockende Zukunftschance sieht, dem angehimmelten verkannten Genie zu Ruhm und Ehre verhelfen und sich zu seiner treu sorgenden neuen Gattin zu machen.

Auch eine Umbesetzung durch einen Tausch der Rollen zwischen Vanessa und der ehemaligen Gattin, Lina Möbius, jetzige Lina Rose, respektive ihrer Schauspielerin Karin Kremer, wäre nur schwer vorstellbar. Aber er könnte es versuchen, Karin dafür zu gewinnen.

Karin, die im wirklichen Gefängnisleben als Bildhauerin im Rahmen einer Beschäftigungsmaßnahme des Arbeitsamtes in der Bildhauerwerkstatt der Haftanstalt ausgewählten Insassen, meist jugendlichen Tätern, Unterricht gab und mit ihnen skulpturale Projekte durchführte, wie etwa das jüngste, bei dem die Häftlings-Bildhauer versuchen sollten, ein Paar darzustellen .

Beide Frauen, Vanessa und Karin, müssten in kürzester Zeit die neuen Texte lernen und sich neu in das Stück hineinfinden. Das wäre für alle eine riesige Herausforderung, wenige Wochen vor der Premiere, die man möglicherweise verschieben müsste, grübelte Brix.

Abrupt wurde die kurze Krisenbesprechung unterbrochen, denn das durchdringende Klingelsignal für das Ende des Umschlusses und zugleich das Ende des heutigen Tages, ertönte und alle Häftlinge hatten unverzüglich ihre Zellen aufzusuchen, wo sie von den Wächtern mit eingeübter Unerbittlichkeit eingeschlossen wurden. Das schmerzliche und erniedrigende Geräusch der Schlüsselumdrehung pflanzte sich von Zellentür zu Zellentür fort, dazu der stumpfe, aber hallige Aufschlag der energischen Schritte von einer Tür zur anderen und die starre Wiederholung des Kommandos „So – Einschluss, gute Nacht!“

Johannes ließ sich auf die Pritsche fallen, die sie Bett nannten. Er grub seinen Kopf zwischen die Fäuste, und wühlte sich in den Haaren, die sie ihm zum Glück nicht abgeschnitten hatten, als er eingeliefert wurde. Eingesperrt zu sein in dem Loch, das sie Zelle nannten! Sogar der Begriff „Einzelwohnzelle“ machte die Runde, besonders, wenn sich Besucher die Haftanstalt zeigen ließen, meistens an so genannten Tagen der offenen Tür. Die Türen waren aber gar nicht offen, dachte Johannes gequält, wie sollten sie auch.

Besuchern, vor allem Journalisten, Lehrern und ähnlichen Multiplikatoren wurden stets zunächst Beispiele nicht renovierter Zellen gezeigt, kleine Behältnisse aus schlecht verputzten, eklig graugelblich gestrichenen Wänden, aus denen spakige Rohre herausragten, um zu einem Waschbecken aus emailliertem Blech mit verdrecktem Ausguss und zur Toilettenschüssel führten mit einem niedrigen Blechparavent mit dem gleichen Sauerbieranstrich wie die eiserne Pritsche vom restlichen Raum abgeteilt, jedoch von fast jedem Punkt in ihm sichtbar war. Einen Klodeckel gab es in diesen Musterzellen für die unappetitliche Vergangenheit nicht.

In der Stirnwand gegenüber der massigen Zellentür, die mit mehreren Schlössern ausgestattet war und einer kleine Pforte für die in früheren Zeiten dem Häftling gereichte Suppenschüssel, war das kleine vergitterte Fenster, dessen tiefe Leibung in Kopfhöhe mit einer schräg ansteigenden Fläche ansetzte, damit der Häftling sie nicht erklimmen konnte. Von einer Möblierung zu sprechen wäre angesichts des wackeligen, zweibrettrigen Holzregals und einem kleinen nackten Holztisch nebst Stuhl unangemessen und weit übers Ziel hinaus gewesen.

Die renovierten, im Gebrauch befindlichen Zellen hoffte der geschmeidig beredsame Herr Nicolai, Frau Renate Nicolais Gatte, nun dem Besucher überzeugend als Fortschritt im Sinn einer neuen Auffassung vom Strafvollzug vorführen zu können, der nicht die Bestrafung der Delinquenten, sondern ihre Förderung und Resozialisierung in das Zentrum der Anstaltspraxis zu stellen vorgab. Ja, vorgab. Denn die neuen Zellen unterschieden sich von den alten nur durch einen neuen, jedoch ähnlich wirkenden Anstrich, ein etwas kräftigeres Regal, das im Übrigen als Dachfläche ebenfalls, wie die Fensterleibung, eine Schräge besaß, damit keine Habseligkeiten, insbesondere keine Drogen und Bestecke dort unter anderen Dingen versteckt werden konnten. Sicher handelte es sich bei diesen Schrägen nicht um Design nach dem Prinzip der Formentsprechungen im Raum, hier eine Schräge und dort eine. Johannes widerte das Klo an, das wie früher offen im Raum mit dem gleichen graugelblichen Paravent aus Blech neben dem Holztisch aufgestellt und an die selben Rohre wie vordem angeschlossen war, bei deren zeitgemäßer Übermalung noch nicht einmal die alte Farbe entfernt worden zu sein schien.

Johannes kannte diese Prahlerei der Gefängnisleitung nur vom Hörensagen, er hatte genug damit zu schaffen, das Leben in diesem Loch, wie er es nach allem, was hier festgestellt wurde, zu Recht bezeichnete, tagtäglich zu ertragen.

Dies wurde ihm, wie er sich selbst immer wieder sagte, aber durch die Möglichkeiten erleichtert, Beschäftigungen nachzugehen, die seiner Förderung und Resozialisierung wirklich dienen konnten, wie das Theaterspielen, und vor allem auch die Arbeit in der Bildhauerwerkstatt. Er war für diese Arbeit dann doch schließlich ausgewählt worden, als er sich nach dem heftigen Anfall zerstörerischer Wut wieder in das Anstaltsleben eingefügt hatte.

Nun geriet dieses sich verbessernde Leben in Gefahr. Die Klarheit, die er darüber in den ersten Minuten nach dem Einschluss gerade gewann, kam so heftig, dass er aufsprang und mit der Faust gegen die Mauer unterhalb des Fenstergitters schlug. Vanessa, Vanessa, Vanessa. Er drehte sich um, lehnte sich mit dem Rücken an die Wand, gegen die er die Hände hinter sich drückte. Und dann schob er sich durch ihre Anspannung etwas nach vorn, wippte auf diese Weise vor und zurück und wusste keinen Rat – unmöglich konnte er weiter mit Vanessa diese Szene spielen, in der Monika Stettler ihm, Möbius, ihre Liebe gestand und seine Hände an ihren weichen Busen zog.

Dies konnte er kaum aushalten und ihr seine, Johann Wilhelm Möbius Liebe, gestehen, von der er, nach zermürbender Diskussion mit Brix und Vanessa, die ihn dabei mit ihren tiefblauen Augen anschaute, wusste, dass sie nur gespielt war, diese Liebe, wie alle anderen Zutaten seines, Möbius, vorgetäuschten Irreseins, nur gespielt, um Schwester Monika in höchsten Alarm zu versetzen und ihr Angst davor zu machen, wie ihre bereits erwürgten Kolleginnen auch von dem geliebten Physiker ermordet zu werden. Denn die anderen beiden vorgeblichen Physiker Newton und Einstein hatten ihre Krankenschwestern erwürgt, weil diese sich in die Personen hinter der Verrückten-Physikermaske verliebt und damit die Mission der Geheimdienstler, die sie in Wirklichkeit waren, gefährdet hatten.

Johannes dachte über mögliche Rollenumbesetzungen nach, und es wurde ihm bewusst, dass er sich in jedem Fall auf einen Kompromiss einlassen musste, der ihm die größte Selbstbeherrschung abverlangen würde.

Karin Kremer als Monika, dann würde Vanessa Lina spielen, die ehemalige Gattin seiner Figur Möbius. Die Naivität dieser Person, Lina, wäre vielleicht ein Dämpfer und am Schluss dieser Szene, nach seinem grandiosen Monolog „Ein Psalm Salomos – den Weltraumfahrern zu singen“ könnte er seine ganze Wut in der Ekstase des „Packt euch fort! Schleunigst! Nach den Marianen! “ Hineinlegen, laut brüllen und sich auf diese Weise, wenigstens während der Proben, eine gewisse Distanz zu Vanessa schaffen.

Es gab wohl keinen anderen Ausweg, wenn er nicht der Killer des ganzen Projekts werden wollte.

Wenigstens musste er dann Vanessa als Monica nicht auch noch erwürgen, wenn sie die Lina spielen würde, wo er sie doch beim Würgen so nahe an ihrem Körper am liebsten küssen würde.

Gleich morgen, vielleicht am Rand des Frühstücks, würde er Brix diese Möglichkeit vorschlagen: Karin Kremer als Monika.

Nun lag er auf seiner Pritsche, die Hände unter dem Kopf, ein vergitterter Nachthimmel, aber immerhin ein Blick nach draußen. Zwei oder drei winzige helle Punkte entzogen ihn für eine Träumerei den Gefängnismauern. Er wünschte sich in Vanessa hinein, spürte dem Duft ihres Parfums nach, ein leichter, eher sportlicher Duft, der die Schwelle eines Deodorants kaum überschritt, ihn aber erregte, jetzt in der Vorstellung und jedes Mal, wenn er ihn direkt an ihr wahrnahm. Wenn er an Vanessa dachte, verschwanden die widerstreitenden Empfindungen und Regungen in ihm, die ihn sonst in Unruhe versetzten und ein wirres Denken herauf beschworen. Er wurde zu einem Mensch aus einem Guss, der ganz und gar in Liebesempfindungen und Sehnsucht aufging. Das Uneingelöste, die Sehnsucht empfand er nicht als Mangel sondern wie eine schmerzliche, physische Begrenzung, nicht dort sein zu können, wo sie war, gleichsam eingesperrt in die Natur. Der Wunsch, deren Grenzen zu durchbrechen, das Eingesperrtsein zu verlassen, verband sich in Johannes Sehnsucht mit einem Würgegefühl, machtlos in diesen Mauern, in diesem Loch mit Klo zu ersticken. Er sprang auf, rang nach Luft, das Fenster hinter dem Gitter konnte er nicht öffnen und dieses staubverklebte Gitter einschlagen, was ihm gelingen könnte, da es sich dabei nur um eine Art Fensterschutz handelte, die mit dem eigentlichen Gefängnisgitter nichts zu tun hatte, durfte er nicht, wenn er nicht alles gefährden wollte.

Entgegen einer Gewohnheit, die ihn sich sicherer fühlen ließ, entkleidete er sich dieses Mal, um sich für die Nacht unter die Decke zu legen, Schlaf zu finden. Mit dem Gesicht zur Wand lag er und wartete auf ihn, während ihm Tränen die Wange hinunter liefen.

Viel länger lag Brix noch wach in seiner Zelle. Auch er sah die Sterne und ihn trugen die Gedanken weiter fort in die Vergangenheit. Er dachte an seinen Sohn Falk, der weiter entfernt war als selbst die weitesten Sterne.

Von Anfang an schien Falk, das kleine Fälkchen, mit kosmischen Dingen in einer Art Zwiegespräch. Sein Lächeln erschien immer hintergründiger als das seines Zwillingsbruders, erinnerte sich Brix. Vielleicht lag es daran, dass dieser, als der Erstgeborene zehn Minuten früher auf der Welt, für ihn von Anfang an gleichsam verantwortlich, ihn ungewollt die Erfahrung machen ließ, auf dieser Welt zu spät gekommen zu sein. Zu spät zu sein bei allem, wo es darauf ankam, schnell zuzupacken. Falk gewöhnte sich daran, ab zu warten, bis sein Bruder seine Hand auf das Spielzeugauto, den Ball, den Legobaustein, das Bonbon, das Stück Schokolade, das begehrenswerte Aststück als Stock zum Herumfuchteln gelegt hatte. Da auf diese Weise das sorgenlose, vom Bruder bereits für ihn aufgeräumte Leben in der zweiten Linie zu seiner Natur zu werden schien, blieb Falk genug Zeit, sich zu einer Art Träumer zu entwickeln.

Brix sah ihn vor sich auf einem Bänkchen sitzend, den Blick schräg auf ein Spielzeug in seiner Hand gerichtet, das er lange betrachtete, bevor er damit etwas unternahm.

Später, als er etwa fünf Jahre alt war, stellte Falk seltsam präzise Fragen, die ganz naheliegende, aber schwer zu vermittelnde Dinge betrafen, wie zum Beispiel, was das Wetter sei. Brix war mit ihm im Park unterwegs gewesen und versuchte so einfach wie möglich zu erklären, mit vielen kindgerechten Bildern, versteht sich, wie Regen, Wärme, Eis und Schnee entstehen, Wind und Sturm zustande kommen.

Als sie an diesem späten Nachmittag, der nur noch hauchdünn durchsonnt war, an dem repräsentativen Parkhotel vorbei kamen, über dessen Kuppeldach auf dem Mitteltrakt sich ein fahlblauer Himmel spannte, wollte Falk wissen, ob ein Sturm so stark sein könne, dass er dieses Dach wegbläst. Brix hatte beschwichtigend darauf geantwortet, ja, solche Stürme gebe es, aber hier bei uns im Norden Deutschlands komme es nie vor.

Am frühen Morgen danach, so erinnerte sich Brix, als er ausgestreckt auf seiner Pritsche lag, die Hände wie Johannes unter seinen Kopf verschränkt, war die Luft erfüllt von einer Mischung aus Martinshörnern, die mal näher, mal ferner die Stadt durchkreuzten, Brausen und Rauschen von Baumwipfeln, in denen es bedenklich ächzte und krachte, Klappern und Knirschen von Metallzäunen, lautem Rufen und Schreien. Ein Blick aus dem Fenster ließ Brix sofort das ganze Ausmaß dieses in der Nacht aufgekommenen Sturmes erkennen. Eine mächtige Pappel war entwurzelt quer über die Straße gestützt, und ihre lang gestreckte Krone in die Fenster der gegenüber liegenden hohen Mietshäuser geschlagen.

Am späten Vormittag, als die Heftigkeit des Sturms etwas nachgelassen hatte, führte ein beruflicher Weg Brix zufällig an jenem Hotel vorbei, quer durch den Park, dessen Bestand majestätisch alter Bäume schwersten Schaden erlitten hatte.

Erschreckt und tief beunruhigt stellte er fest, dass die erwähnte Kuppel des Mitteltraktes des ehrwürdigen Hotelgebäudes weggeblasen worden war. Soweit man weiß, war dies bei Stürmen niemals zuvor geschehen.

Nachdenken über Falk führte früher oder später stets zu diesem Ereignis und jener rätselhaften Vorahnung, die es kaum erlaubte, in Anbetracht der Zartheit seines Auftretens und der gleichzeitigen Beharrlichkeit seines Wissensdurstes diese von ihm tags zuvor erwogene Möglichkeit als zufällig erwähnte abzutun. Zu dicht liegen hier kindliche Fragen und ihre höchst unwahrscheinlichen katastrophalen Antworten beieinander, dachte Brix immer wieder. Falk schien zu den Menschen zu gehören, die auf bisher nicht geklärte Weise ihr Werden aus kosmischem Staub als Fünkchen punktueller Bewusstheit mit dem namenlosen Weiten ihrer Herkunft in Verbindung bringen können, dachte Brix und schlief, halb benommen schon, „Träumer“ murmelnd, endlich ein.

Brix hatte sofort mit den Gesprächen begonnen, die ausloten sollten, ob die Bereitschaft vorhanden war, sich jetzt, wie erwähnt, kurzfristig in eine neue Person dieses Theaterstücks zu verwandeln mit allem, was dazu gehörte. Dabei kam Brix, indem er diesen Rollentausch propagierte, nicht um Andeutungen zu dem Anlass herum, der von den Beteiligten „jenseits des Gitters“ so viel neues Engagement verlangte.

Und es konnte nicht bei Andeutungen bleiben, jedenfalls nicht gegenüber Vanessa, mit der aufgrund einer Bitte des Regisseurs Franz Brix ein Gespräch auf höchster Leitungsebene geführt werden sollte. Er selbst, der zwar den Anlass aller notwendigen Veränderungen als einziger direkt von Johannes erfahren hatte, empfand es nicht als seine, aus seiner Stellung zu Johannes auch unzumutbare Aufgabe, die Diskretion zu brechen, die das Gespräch gestern Abend im Aufenthaltsraum C ihm auferlegte.

Denn Johannes hatte seine Gefühle nur soweit angedeutet, dass Brix verstehen konnte, warum er nicht mit Vanessa als Monika zusammenspielen konnte.

So erfuhr Vanessa also von Herrn Dr. König, dem Brix natürlich davon Mitteilung machen musste, dass Johannes nicht weiter in die fast größte aller Versuchungen geführt werden durfte, ihren Busen zu berühren und sich als Möbius Monikas Wunsch vortragen zu lassen, „Ich will mit Ihnen schlafen, ich will Kinder von Ihnen haben“.

Vanessa, der diese, Johannes´ Gefühle zwar nicht gänzlich entgangen waren - sie hatte ihnen bisher keine dramatisch große Bedeutung beigemessen, da sie selbst bei aller warmherzigen Sympathie Gefühle auf der gleichen Ebene nicht in sich aufkommen ließ - erfuhr von der Gefängnisleitung dabei einmal mehr, wie sehr ihr das Theaterprojekt wegen der beispielhaften Anwendung des neuen Konzepts im Strafvollzug am Herzen lag. Schon seit Wochen war Dr. König bereits darum bemüht, die maßgeblichen politischen Kreise auf diese überaus positive Entwicklung in der von ihm geleiteten Haftanstalt aufmerksam zu machen und die forensisch-psychologische Fachwelt für die experimentellen Ansätze hier in dieser Strafanstalt zu interessieren.

Vanessa hatte kaum eine andere Wahl, als der Umbesetzung zuzustimmen, wollte sie nicht riskieren, angesichts all dieser positiven Aspekte als unkooperativ zu gelten und vielleicht sogar die Verlängerung ihres Arbeitsvertrags als Sozialpsychologin zu riskieren.

Sie fand sich schließlich bereit, die Rolle der Lina Möbius, jetzige Frau Rose, zu übernehmen. Sie wusste, dass sie eine bessere Monika gewesen wäre, denn ihrem Naturell war diese sich selbst bemitleidende, sentimentale Person Lina Rose zuwider, die der Leiterin der Anstalt, Frl. Dr. Mathilde von Zahnd, unter ständigem Heulen versuchte, ihren Schritt begreiflich zu machen, Möbius, mit dem sie mehrere Kinder hatte, zugunsten eines Missionars zu verlassen, der in die neue Ehe sechs weitere Kinder einbrachte und im Begriff war, zusammen mit ihr und neun Kindern die Leitung einer Missionsstation auf den Marianen im Stillen Ozean anzutreten.

Karin Kremer bat sich für die neue Situation ein paar Tage Freistellung von der Arbeit in der Bildhauerwerkstatt aus, um sich mit der neuen Rolle als Monika vertraut zu machen, was wegen der Textmenge und der knappen Zeit bis zur Premiere bewilligt wurde.

Brix atmete erleichtert auf.

Er musste drei oder vier weitere Proben planen und genehmigen lassen. Im Diskutieren mancher Dienstpläne und dem Durchsetzen seiner Terminvorstellungen besaß er inzwischen Routine. Obwohl er als Gefängnisinsasse denselben Regeln unterworfen war wie alle anderen Häftlinge, was den Rhythmus von Umschluss und Einschluss betraf, hatte er über die Beweglichkeit, die ihm die rote Karte an seinem Gürtel verlieh, hinaus auch einen beachtlichen Einfluss auf die Art und Weise, wie seiner Theateraktivität, seiner Rolle als Regisseur und Initiator des Projekts Rechnung getragen wurde. Dies betraf nicht nur die Organisation der Proben, sondern galt auch für bestimmte Sondertermine, die Brix für notwendig hielt, wie etwa ein Rollengespräch oder eine intensive Einzelprobe am Rand der gemeinsamen Regelzeiten.

Dadurch gelang es ihm, beide Frauen, deren Lerneifer durch die Begeisterung für dieses ehrgeizige Projekt belebt wurde, sehr schnell für die neuen Rollen zu präparieren.

Johannes hielt sich bei den gemeinsamen Proben nun sehr zurück. Weder suchte er das Gespräch in den Pausen, noch erreichte er die frühere Intensität seines Spiels. Die herausfordernde Annäherung Monikas an Möbius prallte in einer fast unbeteiligten Routine bei Johannes ab. Brix ging darauf nicht ein, da ihm die neuen Rollen der Frauen im szenischen Gesamtbild vorerst wichtiger waren.

Nur wenn er das Ende des irrsinnigen Psalms an die Weltraumfahrer erreichte, brach es aus Johannes heraus und der Schrecken, mit dem Lina und ihr „kreuzbraver Missionar Rose“ die Flucht ergriffen und seitlich von der Bühne verschwanden, schien nicht nur gespielt.

Wie es Johannes mit der neuen Partnerin ging, die er am Ende des ersten Aktes der „Physiker“ zu erdrosseln hatte, ob Karin Kremer, die Bildhauerin, als Monika ihn zu der gleichen Behutsamkeit herausforderte, ihr als Mordopfer das Aufschlagen auf den Bühnenboden zu erleichtern, indem er sie so lange es ging, zu stützen versuchte, verdeckt vor dem Publikum, wie er es bei Vanessa als Monika getan hatte, darüber ließ sich in dieser ersten Zeit nach dem Rollenwechsel nur spekulieren. Wenigstens fiel Brix auf, dass Johannes nicht mehr zitterte, wie es der Fall gewesen war, als er Vanessa als sterbende Monika in den Armen hielt und vergaß, dass es Monika war, die sterben musste, weil sie Möbius daran zu hindern suchte, das Geheimnis seiner für die Menschheit verhängnisvollen physikalischen Erkenntnisse hinter der Fassade der Irrenanstalt zu verbergen. Johannes hatte das Töten seiner eigenen Geliebten geprobt und nun konnte er wieder nur Möbius sein, der dem Überleben der Menschheit das Opfer brachte, selbst zum Mörder zu werden.

Als Brix Johannes das erste Mal demonstrierte, wie er mit dem Rücken zum Publikum den Hals Vanessas so in den Griff nehmen sollte, dass er mit dem Daumen ihre Kehle hätte zur Mitte hin zudrücken können, zitterte er und Schweißperlen traten auf seine Stirn. Selbst in dieser theatralisch gestellten Form, die ja von der Wirklichkeit weit entfernt war, machte ihm diese Szene, die Dürrenmatt als Teil einer Komödie verstand, so zu schaffen, als müsse er persönlich die Verantwortung für Monikas Sterben übernehmen. Verwirrt über diese Regung, die Brix an diesem Ort überfiel, wo die entzogene Freiheit der Reue über derlei Taten den Weg bereiten sollte, sagte er wie abwesend zu Johannes:

„Zum Mörder wird man schnell, wenn alle anderen Register versagen – aber Möbius hatte keine Wahl.“

Johannes durchfuhr wieder der Gedanke, dass er sein eigenes inzwischen auf einem Auge erblindetes Opfer auch hätte töten können, wenn ihm in jenem Augenblick, als alle Register versagten, nicht der „glückliche Zufall“ zu Hilfe gekommen wäre, dessen Glücklichkeit nicht darin bestanden hatte, dass einer in seiner Clique in jener frühen Morgenstunde einen Totschläger in der Jacke hatte, sondern dass dieser nicht noch unglücklicher den Kopf des Opfers einer sinnlosen Aggression unter dem Einfluss von Frust und Alkohol getroffen hatte. Panik kam in Johannes auf und er spürte, dass Theater nichts erfindet, was die Wirklichkeit nicht ohnehin schon als unglückliche Option bereithält.

Brix hatte in diesem Augenblick etwas von einem Lehrer, der kein Bücherwissen an den Mann bringt.

Die Art, wie Vanessa als Missionarsfrau Rose ihn als Physiker Möbius anlächelte, hatte nichts mit dem Blick zu tun, mit dem Johannes hinter dem Vorhang seiner Rolle verstohlen ihre Bewegungen verfolgte. Sie hatte von Anfang an längst auch eine Mutterrolle für Möbius gespielt und die verniedlichende Anrede, in der Mitleid und Hilflosigkeit sowie ein schlechtes Gewissen wegen der Scheidung, die sie, Lina, ohne seine Zustimmung eingereicht hatte , zum Ausdruck kamen, dieses „mein liebes Johann-Wilhelmlein“, trieb Vanessa ein amüsiertes Glucksen in die Kehle. Sie konnte es am Anfang nur schwer unterdrücken und alle im Probenset mussten mit grinsen, wenn sie ihm sanft den Oberarm streichelte. Johannes machte dabei ein Gesicht der Peinlichkeit, das Brix begeisterte, wohl wissend, dass dieses Minenspiel seines Hauptdarstellers nicht allein der jungen Schauspielkunst zu verdanken war. Aber da Johannes Vanessa selbst nicht berühren musste, pochte sein Herz nur heftig, ohne dass er den Boden unter den Füßen verlor.

Zwei Wochen vor der Premiere, als alle Rollen gelernt und in der neuen Verteilung geprobt waren, beantragte Brix bei der Gefängnisleitung einen weiteren Termin für die Versammlung aller Mitwirkenden einschließlich aller Techniker nach dem Abendessen, wenn es für alle Insassen noch eine Stunde Umschluss bis zum nächtlichen Einschluss gab.

„Läuft jetzt alles, wie es soll?“ fragte der Direktor.

„Ja, ist alles auf dem richtigen Weg, denke ich, die Begeisterung ist groß und Lampenfieber kommt auf“, sagte Brix.

„Was macht unser Werther? Ich habe mit Frau Schrammberg, mit Vanessa, gesprochen. Sie versichert mir, dass Johannes mit seinen Gefühlen klar kommt und jetzt nicht austickt. Er hat halt Pech, sich gerade in die zu verlieben, die ihn unterstützen soll. Das ist ja unter anderem ihr Job. Wobei sich mir natürlich die Nackenhaare etwas kräuseln, das sage ich Ihnen ganz offen, Brix, wenn ich an das alles denke. Ich riskiere viel, sehen Sie zu, dass Sie alles im Griff behalten. Ich traue Ihnen das ja zu, wie Sie wissen, sonst hätte ich nicht ja gesagt und mich für Sie und Ihr tolles Projekt eingesetzt. Und dann ausgerechnet auch noch die „Physiker“, in jeder, besonders Ihrer Hinsicht, Brix, ein heikles Stück Theater. Aber eben auch ideal für Heranwachsende! Na, ja , äh - übrigens Vanessa, Frau Schrammberg, hat mir da allerdings berichtet, dass Sie Johannes gegenüber eine, wie mir scheint, unglückliche Bemerkung über Morddelikte gemacht hätten, in dem Sinn, dass das jedem passieren kann, zum Mörder werden, meine ich. Da ich Ihre Geschichte kenne und deshalb einordnen kann, wie Sie das meinen, sollten Sie mit solchen Erörterungen sehr vorsichtig sein, wie Sie sich ja auch selbst eigentlich denken können. Hat mir überhaupt nicht gefallen, Brix.“

Dieser hatte während Dr. Königs Ausführungen bis zuletzt auf seine Hände geblickt, die er zwischen seinen Beinen gefaltet hatte. Er antwortete langsam, jedes Wort abwägend:

„Dass Sie gerade auf der einen und ich hier auf der anderen Seite sitze, Herr Dr. König, ist keine Frage der Moral. Das muss ich Ihnen nicht erläutern. Was geschehen ist, kann nicht wieder zurückgenommen werden – das ist das Furchtbare. Aber es ist die Logik des Lebens, dadurch werden wir, was wir sind, auch das wissen Sie ebenso gut wie ich, der ich in Sachen Philosophie und Kultur vielleicht sogar über etwas mehr Material im Kopf verfüge, eine Folge unserer unterschiedlichen Studieninhalte und fachlichen Bewährungssituationen. Sie sind Jurist und beurteilen das Leben aus der Sicht bestehender Gesetze und ihrer moralischen Implikationen. Sie wissen viel über Abgründe, in die Menschen stürzen können, aber weniger über deren psychologische Architektur. Die griechische Tragödie lehrt sie, Dürrenmatt kennt sie, und lässt ihre Unerbittlichkeit in diesem Stück aufscheinen. Johannes gegenüber habe ich eine Bemerkung gemacht in dem Sinn, dass Morddelikte nicht zu rechtfertigen sind, aber Mörder, wie zum Beispiel Möbius, nicht als Monster anzusehen sind, Möbius hatte keine andere Wahl. Moral braucht man mir nicht zu erklären. Ich bin mir meiner Tat bewusst und würde sie gerne ungeschehen machen. Aber auch dessen, was letztlich zu ihr geführt hat, Krankheit, Liebe, rasender Schmerz und Respekt. Das Unrecht bleibt und ihr Juristen sollt das interpretieren und pflegen, das Recht pflegen, in Ordnung. Ich bin, wie Sie wissen, Lehrer und beschäftige mich mit Sprache und Philosophie. Ich kenne die Abgründe aus den Texten der Dichter – und aus meinem eigenen Leben, über das ich jetzt, wie es so schön heißt, nachdenken kann. Und ich bin Ihnen, Herr Dr. König, zu großem Dank und aufrichtigem Respekt verpflichtet, dass sie mir diese einzigartige Möglichkeit einräumen und dafür beruflich einiges riskieren, dass ich dieses Stück, bei allen Verstrickungen, mit denen wir es dabei zu tun haben, hier inszenieren darf.“

Dr. König räusperte sich und betrachtete Brixens Kopf.

Er erinnerte ihn an eine Mischung aus Maximilian Schell und Dustin Hoffmann. Die grauen leicht gelockten Haare reichten bis an die Grübelfalten zwischen den buschigen Augenbrauen.

Der lebhafte Ausdruck seiner Augen rührte aber nicht von der Dunkelheit der Augen her wie bei Schell, sondern aus der durchdringenden Schärfe grüngrauer Pupillen. Seine Nase fand ihr Vorbild in der Hoffmann, dessen schmallippiger Mund dem von Brix entsprach, der jetzt wieder das Wort ergriff.

„Johannes hat im Anschluss an meine Bemerkung übrigens neu über seine Tat nachgedacht und ist über sich erschrocken – das habe ich bemerkt.“

„Nun gut, lassen wir es dabei. Obwohl ich darüber nachdenken muss, warum sie als Motiv für Ihre Tat Respekt erwähnen. Wir sprechen später einmal darüber. Jetzt flehe ich Sie nur an, sich gegenüber den Menschen, mit denen sie hier als Privileg arbeiten, äußerst zurück zu halten, was die informelle Ebene betrifft. Spielen Sie nicht den Lehrmeister, sie dürfen es nicht! Aber machen sie um Gottes Willen so weiter, dass wir das Stück hinkriegen. Es muss ein Erfolg werden, das wissen Sie – natürlich kriegen Sie die Stunde“.

Damit entließ der Direktor Brix aus seinem Büro, das am Ende des Mittelganges in dem modern gestalteten Verwaltungstrakt lag, und nicht auf die durch mehrere doppelschlössige Türen abgetrennte trostlose Haftanstalt in der Hausnachbarschaft schließen ließ.

Auf dem Weg zu seiner Zelle kam Brix die Unterredung mit Dr. König wie eine schlecht verdauliche Mahlzeit mit Zutaten aus Konserven und Naturidentstoffen hoch. Er nahm sich vor, genauer zu denken und disziplinierter zu sprechen. Bilder, wie psychologische Architektur von Abgründen sollte er vermeiden, dachte er, als hinter ihm die Zellentür verschlossen wurde.

Mit Vanessa, die also zugehört und darüber andernorts berichtet hatte, was zufällig an ihr Ohr gedrungen war, wollte er morgen reden. Er fand es noch beim Einschlafen in dieser allnächtlichen Einsamkeit, in der jeder seine eigenen Schlösser baut oder nur noch die Schafe zählt, beruhigend, dass dieser Knast kein völlig verdorbenes Spitzelnest war. Wäre er das, hätte Dr. König seine informelle Mitarbeiterin nicht gleich beim Namen genannt.

Franz verlor sich dann in seinen höchst persönlichen Schauder über jene Abgründe, an deren Rändern er täglich entlang lief mit allem, was er tat, getan hatte und die er in sich verschließen musste, um in der täglichen Wirklichkeit bestehen zu können.

Eines Tages, so sagte er sich, wenn er still und allein mit sich selbst war, würde sich ihm die Gelegenheit bieten, die Überlagerung der einzelnen Gesteinsschichten, welche die ungesicherte Basis für sein augenblickliches Überleben bildeten, abzutragen und Licht hinein in die verborgenen Motive seines Handelns zu lassen.

Auch Vanessa Schrammberg machte sich Gedanken. Sie war nach der letzten Probe, in der sie das Glucksen über die naive Lina schon beherrscht, aber nicht übersehen hatte, wie sehr Johannes mit sich selbst kämpfen musste, ihr gegenüber die Distanz zu wahren, auf dem Weg nach Hause an einer Videothek vorbei gefahren, um sich irgendetwas für eine entspannte Abendunterhaltung auszuleihen. Sie fand einen Film über das Verhältnis zwischen einem älteren Mann und einer sehr jungen Frau.

Als sie schließlich im Bett lag, dachte sie an Franz Brix. Sie hatte ihn bald nach ihrem Eintritt in das Team der Insassenbetreuer kennen gelernt. Brix war in die Sprechstunde gekommen, sicherlich auch, weil er ihre Unterstützung in seinem Anliegen erhoffte, den Bestand der Anstaltsbibliothek, einer kleinen Sonderabteilung der städtischen Bibliothek, um Titel zu ergänzen, die für ihn von besonderem Interesse waren, wie etwa „Die Physiker“ von Friedrich Dürrenmatt. Aber nachdem Brix sie, Vanessa, während des Gesprächs mit prüfendem Blick eine Weile hatte auf sich wirken lassen, spürte sie, dass ihm noch ein anderes Anliegen unter den Nägeln brannte. Worum es sich handelte, ahnte sie nicht, dachte aber, dass sie es durch die Unterredung mit Dr. König erfahren würde, zu der sie für den folgenden Tag zu ihm beordert worden war.

„Frau Schrammberg, haben Sie einen Moment Zeit, es dauert ja noch etwas bis zum Mittagessen – ach, Sie haben heute ja sowieso nur vormittags Dienst, schön, dann kommen sie doch bitte mal in mein Büro.“

Vanessa fühlte sich gar nicht wohl bei einer unbekannten Angelegenheit, die offensichtlich Chefsache war. Wollte er sie womöglich belehren?

„Haben Sie schon unseren Sonderhäftling Franz Brix kennen gelernt?“

„Ja, er kam vor ein paar Tagen wegen einiger Bücherwünsche zu mir. Darauf würde ich bei dieser Gelegenheit gleich gern auch noch kurz zu sprechen kommen.“

„Ja, vielleicht gehört das aber auch zu dem, weswegen ich sie sprechen wollte. Lassen Sie mich bitte kurz erklären, wieso ich von Sonderhäftling spreche. So jemanden wie Herrn Brix hat man nicht oft hier. Er ist, wie sie vielleicht schon in seiner Akte gelesen haben, wegen eines Tötungsdelikts straffällig geworden, eine tragische Angelegenheit, die ihn jetzt fast 10 Jahre kostet - wird er aber sicher nicht vollständig absitzen müssen. Ich habe ihm wegen der Angelegenheit, um die es gleich geht, versprechen müssen und auch können, dass die näheren Umstände seiner Straftat in seiner nicht allen ohne weiteres zugänglichen Akte bleiben und nicht Gegenstand von Getratsche unter den Mithäftlingen werden. Deshalb möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, mehr noch: ich formuliere es als eine Dienstanweisung, dass, falls Sie mit dieser Akte in Berührung kommen sollten oder schon gekommen sind, klar ist, dass ich hundertprozentige Diskretion erwarte!“ Vanessa blickte ihn kurz an, um sich des mimischen Gehalts dieser Äußerung zu versichern. Es gab also ein Geheimnis um Franz Brix und es erschien ihr, als sei die daraus entstehende Geheimniskrämerei eine Angelegenheit, welche die forensische Dimension überschritt und deshalb eine unberechenbare Dynamik in sich barg. Es war vor allem auch die Frage, wie es gelingen könnte, Spekulationen bei den Häftlingen einzudämmen und im Fall des Häftlings Franz Brix Respekt vor der Diskretion einzufordern, wo doch jeder vom anderen wissen will, wie lange er einsitzt und wegen welchen Delikts. Die Persönlichkeit von Brix allerdings, seine Korrektheit im Umgang mit den anderen und nicht zuletzt der Respekt gegenüber jedem Mithäftling könnten ihn vor der üblichen Neugierde schützen, überlegte sie.

Ihr Blick fiel durch die Bürofenster, vor denen Pflanzen als Wahrzeichen des Privaten, nicht Inhaftierten, ein bewässertes, aber dennoch staubiges Dasein fristeten, nach draußen, wo von unten ins Blickfeld ragender Nato-Draht in Kreissegmenten auf die nahen Mauern schließen ließ. Erst das zarte Grün eines fröstelnd anfänglichen Frühlings dahinter im nachbarlichen Park begrenzte die Aussicht.

Es war zwölf Uhr und der Alarm zum Essenfassen schrillte durch die Haftanstalt. Wieder ein Vormittag ´rum für die Insassen, dachte Vanessa, einer weniger auf dem Weg in die Freiheit.

“Äh, warten Sie noch einen Moment bitte, Frau Schrammberg. Es gibt noch ein anderes Thema, das habe ich Ihnen ja noch gar nicht gesagt. Er will ein Theaterstück aufführen, hier in der Anstalt, ja, hier. Und mit Insassen als Schauspielern, vor allem Jüngere. Kommt unseren Reformbestrebungen ja entgegen und kann sehr nützlich in der Öffentlichkeitsarbeit sein. Die Akquirierung der Fünfzehnmillionen für alle unsere Pläne, Umbauten, Modernisierungen etcetera, bessere Haftbedingungen und so weiter, steckt erst in den Anfängen, na ja. Worauf es jetzt ankommt, dass es auch machbar wird. Und das hängt, abgesehen von den komplizierten Dienstfragen etcetera, etcetera, hinsichtlich des Theaterprojekts vor allem davon ab, ob es uns gelingt, weibliche Rollen in dem Stück, es heißt „Die Physiker“, kennt ja jeder, der Abitur hat, aus dem Deutschunterricht, also die weiblichen Rollen in dem Stück zu besetzen. Einsitzende Frauen kommen nicht in Frage - das ist zu riskant, könnten wir gar nicht händeln, bekämen wir auch nicht durch.“

Vanessa erschrak und ahnte, worauf es hinaus lief.

“Wir haben überlegt, ob nicht vielleicht Sie und Frau Kremer etcetera bereit wären, da mitzumachen. Würde natürlich dienstlich irgendwie abgegolten, das müssen wir mal sehen, vielleicht nicht eins zu eins, aber- also, Lust müssten Sie schon ein bisschen haben, Theater zu spielen! Was meinen Sie?“

Sie war trotz ihrer Ahnung überrascht. Sie fühlte, wie ihr Puls sich ein wenig beschleunigte. Wie kam es, dass ein so gewagtes Experiment gerade hier in einer Anstalt möglich sein sollte, deren Beharrungsvermögen im Althergebrachten trotz ständigen Reformeifers bekannt war und auf diese und jene politischen Rücksichtnahmen geschoben wurde. Wer war dieser Franz Brix, mit dessen Person dieses Wagnis offenbar eng zusammen hing - noch hatte sie seine Akte nicht in der Hand gehabt? Könnte sie ihre Jahre zurückliegende Begeisterung für Schauspielerei in der Theater AG ihrer Schule aktivieren, wo sie mal die Titania im Sommernachtstraum gespielt hatte und später auch noch das Kätchen „gegeben“ hatte, wie Gil, ihr damaliger Freund, etwas spöttisch bemerkte. Wie ließ sich diese Rolle als Schauspielerin in einem Knasttheaterprojekt mit der Distanz vereinbaren, die sie aus dienstlicher Sicht peinlich genau zu beachten hatte?

„Ich weiß, Sie machen sich sicher Gedanken über das Problem, dass sie den Insassen zu nahe kommen könnten. Normalerweise würde ich bestätigen, dass wir, Sie, dies vermeiden müssen, aber manchmal kommen Chancen, die solche Bedenken ein bisschen aus der vorderen Reihe verdrängen, was nicht heißt, sie gegenstandslos zu machen, nein, nein. Na, nun wissen Sie Bescheid, denken sie darüber nach. Brix möchte so bald wie möglich damit anfangen und ich glaube, der enttäuscht uns nicht. Weiß, was er will, und ist kompetent, ehemaliger Deutschlehrer mit gehobener Theater AG-Praxis. Hat auch wohl mal volontiert an irgendeiner namhaften Bühne, aber dann konnte er diese Theaterlaufbahn nicht fortsetzen – wegen eines unerwarteten Familienzuwachses. Zwillinge. Ist natürlich was anderes, als nur ein Kind, um das sich ja die Frau kümmern kann – oh je, fünf Mark in die Chauvi-Dose, hab‚ ich gerade nicht, Pech, aber ist doch so: mit zweien auf einmal hat man es da doch erheblich schwerer und so wurde aus der Theaterkarriere nichts und es begann -klein, klein – der Schulalltag, Referendariat, Assessor und so weiter. Unser Häftling ist Oberstudienrat, aber das spielt hier ja keine Rolle. Also, was meinen Sie, Vanessa, äh, Frau Schrammberg, ich höre doch bald von Ihnen, oder?“

Beschwörend sah er ihr in die Augen, vorn über gebeugt, als er sich von seinem Schreibtischstuhl erhob.

„Und lassen Sie die Akte von Brix in ihrem Büro um Gotteswillen aus den Fingern, es ist für Sie dann leichter, wenn sie unbefangen sind. Er wird ja nicht ihr Klient werden wollen, überlassen Sie das in diesem Fall mir. Vertrauen sie mir, er ist ein nobler Mensch, der Brix, glauben Sie mir.“

„Orhan, fahr bitte das Licht etwas runter, ist mir zu grell jetzt“, begann Brix, der sich, einen kleinen Tisch vor sich, auf dem das mit Bleistiftnotizen übersäte Textbuch lag, weit zurücklehnte, bevor er jetzt eine kleine Ansprache begann:

„Wir haben die letzte Probenstaffel vor uns.

Alles, was wir jetzt proben, ist praktisch schon Aufführung. Ihr werdet erleben“, bei diesem Satz richtete er sich auf dem schlichten Holzstuhl auf, „wie ihr euch jetzt enorm steigert. Ab jetzt spielt ihr, als wärt ihr die Figur wirklich – alles andere ist Nebensache. Wenn ihr mal hakt im Text, spielt weiter. Irene oder Sebastian sind immer da, Hilfezeichen von euch kennen sie – und ihr beide achtet bitte darauf, nicht zu früh zu soufflieren!

Manche Pausen – gerade bei Möbius – sind sehr wichtig. Nicht, dass ihr dann da reinplatzt, weil ihr fürchtet, Johannes – oder wer auch immer - bleibt gerade stecken. Jetzt erst werdet ihr das Stück richtig fühlen, seinen Rhythmus, seine Logik, seinen Wahnsinn, der fast mit dem der Frl. Dr. von Zahnd zusammenfällt“. Er machte eine Pause und blätterte im Textbuch, „Die Welt beherrschen, eine groteske Vision, furchtbar, wie sie in den kranken Köpfen einzelner Verrückter und politischer Machthaber immer wieder Wirklichkeit zu werden droht. Die Klugheit Dürrenmatts besteht darin, diese schreckliche Bedrohung, die sich immer wieder aus der moralischen Verantwortung von Wissenschaft losreißt, als Komödie zu verkleiden. Gerade dadurch, dass ihr eine Rolle so spielt, als fände das alles wirklich statt, in der Gegenwart, jetzt, erlebt der Zuschauer zugleich das Absurde, Lächerliche und die Furchtbarkeit.“

Er holte noch einmal aus:

„Ich danke euch allen sehr herzlich für eure Geduld und eure Anstrengung und - für eure Leistung! Den Externen, die die weiblichen Rollen spielen, ein besonders herzlicher Dank. Ich möchte es hier mal sagen: ich finde es wahnsinnig toll und großartig, dass Sie mit dabei sind, sich dafür bereitgefunden haben, als Außenseiterinnen in der Innenseite der Anstalt zu agieren. So – erst mal Schluss damit, und ich wünsch‚ uns allen gutes Gelingen.“

Die hinter diesen Worten lauernde Wortkargheit und Scheu, seine Gefühle zum Ausdruck zu bringen nach allem, was ihn, den theaterbegeisterten Lehrer aus der Bahn geworfen hatte, ließ einen Moment der Stille entstehen. Die Peinlichkeit, mit dieser Art Rede umzugehen, legte sich aber schnell und es folgten Applaus und Klopfen mit den Fingerknöcheln auf die Stuhllehnen der jungen Insassen und der gerade hervorgehobenen Außenseiterinnen, bei denen Brixens Wortspiel offenbar gut angekommen war.

Danach wurden die wichtigen organisatorischen Fragen erörtert, die beim Herannahen einer Premiere die reine Probenzeit belasten. Dazu gehörten vor allem Details der Kostümierung, die Perücken Newtons und Einsteins waren noch nicht da – sie waren vom Stadttheater zugesagt worden, aber mit dem Abholen und Ins-Gefängnis-Bringen hatte es dann nicht so richtig geklappt wegen eines Versäumnisses auf Seiten der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit, also Herrn Nicolais, zu dessen Aufgaben diese Kontakte zu der zivilen Welt gehörten.

„Die müssen ausprobiert werden, sobald sie hier eintreffen, spätestens übermorgen, ihr kriegt kurzfristig Bescheid und Erlaubnis, hierher zu kommen, auch die Maske soll sich darauf einstellen!“

„Mastix und die anderen Utensilien sind da“.

Darauf wies Tina Jansen hin, alias Oberschwester Marta Boll, die es übernommen hatte, zwischen und nach ihren kurzen Auftritten im ersten Akt sich um die Requisite zu kümmern.

Dazu gehörte auch ein besonders delikater Punkt der Ausstattung, nämlich Gefängnisgitter, die im zweiten Akt eine Rolle spielten. Es ging um die unechten Theatergitter innerhalb des echten Gefängnisses. Auch der Theatersaal, die ehemalige kleine Turnhalle, war selbstverständlich vergittert, ja sogar die Fenster im Verwaltungstrakt, in dem sich auch das Büro von Dr. König befand, waren, unsichtbar, quasi vergittert in Form von ausbruchsicheren Glasscheiben. Sollte man also die echten Gitter der Turnhalle von innen anleuchten, um sie so zum Teil des Bühnenbildes zu machen? Dies war die von Brix favorisierte Lösung. Oder aber lieber Theatergitter in Bühnenbildfenster klemmen, vielleicht mit Klettverschluss befestigen, wie es Herr Dr. König vorschlug, weil der im Stillen fürchtete, durch die theatralische Akzentuierung der echten Gitter diesen ihre funktionale Würde zu nehmen und damit die ganze Haftanstalt in eine Art Operettenknast zu verwandeln? Schließlich setzte sich Brix durch, der seine Linie, mit möglichst wenigen Requisiten auszukommen, gleichsam auf einer Shakespeare-Bühne zu spielen, erfolgreich ins Feld führte. Diese Linie zeigte sich ja bereits im Verzicht auf eine Couch, in der bei so mancher Inszenierung der „Physiker“ Schauspielkunst im Muff einer naturalistischen Ausstattungsbühne versinkt. Brix hätte gern statt des Tisches, auf dem das Abendessen serviert wird, einen Stehtisch gehabt, an dem der wichtige Disput der beiden Geheimagenten über den Kopf des still, aber sehr aufmerksam zuhörenden Möbius hinweg stattfindet. Weil es da um so prinzipielle Fragen wie Verantwortung physikalischer Forschung und politischer Macht geht, käme die zentrale Bedeutung dieser Passage vielleicht besser zum Ausdruck, wenn die Physiker-Agenten stehend, wie bei einem kurzen Business-Imbiss ihre Positionen sich und dem Publikum zuwerfen könnten.

Aber in der darauf folgenden langen Rede des Möbius war das Vorhandensein einer Stuhllehne zum Aufstützen fast unabdingbar. Wo hätte Johannes während dieses langen Textes seine Hände lassen sollen. Der Wechsel von fragendem oder überredendem Heben der Unterarme, wenn er an die Vernunft seiner Kollegen appelliert, zum Fallenlassen der Arme, so dass die Hände gegen die Oberschenkel klatschen, wenn er den Verzicht auf sein Familienleben anspricht, als Opfer für die Geheimhaltung seiner Entdeckungen? Oder das demonstrative Zeigen mit dem ausgestreckten Finger, wenn er seine Kollegen auf die Tragik hinweist, zur Rettung der Menschheit morden zu müssen, eingeschlossen das verschiedenartige Verschränken der Arme: all diese Gesten, das Repertoire von redebegleitenden Haltungen und Bewegungen, sind bei einem jungen Laienschauspieler schnell erschöpft. Da ist man dankbar, sich auf eine Stuhllehne stützen zu können und so beispielsweise eine Körperdrehung zu motivieren, oder eine unausweichliche Schlussfolgerung zu akzentuieren, indem man beide Hände, hinter dem Stuhl stehend, auf die Lehne drückt.

Wo aber ein Stuhl gefordert ist, macht ein Stehtisch keinen Sinn. Brix musste auf ihn verzichten, aber hatte Erfolg mit der Vermeidung von Kulissen-Fenstergittern, um zu zeigen, dass sich das Speisezimmer, ja der ganze ausschließlich den drei Physikern vorbehaltene Trakt des Sanatoriums tatsächlich in ein Gefängnis verwandelt hatte.

Nach dieser Stunde letzter Sammlung für die Schlussphase des Projekts für die mentale Vorbereitung auf die Premiere in zwei Wochen hatte Brix eine plötzlich auftretende Krise. Sie traf ihn fast wie ein Anschlag nach dem abendlichen Umschluss dieses Tages, als er am Türrahmen zum Duschraum lehnte und die Stimmen der duschenden Männer aus den Dampfwolken drangen. Brix mochte nie diese Umkleideräume am Rande von Turnhallen, in denen Großmäuligkeit und Schweißgeruch sich in der Nähe von Zoten bewegten und schnell gemobbt wurde, wer sich dem durch Schweigen und allzu schnelles Verlassen dieser Bühne der Maulhelden zu entziehen suchte.

Das Auf– und Zudrehen der Wasserhähne führte zum An- und Abschwellen der Dampfwolken und der Geräusche des spritzenden Wassers, das aus den Duschköpfen gepresst wurde. Brix verlor sich einen Augenblick in dieses hallige Rauschen, als ihm der Gedanke an neurophysiologische Erkenntnisse durch den Kopf ging, welche die Verantwortung des Individuums für sein Verhalten und seine Taten so weit relativierten, dass von Schuld im herkömmlichen Sinn kein Platz mehr blieb, ja, der freie Wille des Menschen radikal infrage gestellt wurde. Im limbischen System oder anderen Regionen des Gehirns würde es bereits zu messbaren Impulsen und elektrochemischen Reaktionen kommen, bevor der handelnde Mensch sich gemäß diesen Konstellationen verhielt. Im Nachhinein würde diese unbewusst erfolgte Weichenstellung als persönlich gewollte und bewusst getroffene Entscheidung rekonstruiert und dem Ich-Bewusstsein zugeordnet. Dafür stehe ein erstaunlich langer Zeitraum von mehreren Sekunden oder sogar mehr zur Verfügung.

Brix fiel Hölderlins Gedicht „Hyperions Schicksalslied“ ein, in dem es heißt:

Doch uns ist es gegeben

auf keiner Stätte zu ruhen,

es schwinden, es fallen

die leidenden Menschen,

blindlings von einer

Stunde zur anderen,

wie Wasser von Klippe

zu Klippe geworfen,

jahrlang ins Ungewisse hinab.

Was hatte ihn dazu getrieben, jetzt, wo er sich für vielleicht zehn Jahre in dem denkbar unerwarteten Rahmen eines Gefängnisses befand, gerade dieses Theaterstück aufzuführen, das ihm selbst zum Verhängnis wurde.

Oder bildete er sich dies nur ein?

Und dies auch noch mit den Insassen einer Haftanstalt, die mit Themen wie Mord und heimtückischem Einfädeln desselben in Ruhe gelassen werden sollten. Hatten sie doch, wie er selbst, genug damit zu tun, sich böse Erinnerungen, die dunkelsten Szenen von der Seele zu wälzen und sich langsam als besserungsfähige Menschen zu begreifen, soweit sich ihre Taten als Folgen charakterlicher Fehler verstehen ließen oder als Ausdruck von Schwäche und Unfähigkeit beim Einhalten von Recht und Gesetz, was ja manchmal, wie im Falle von Franz Brix den konkreten Umständen seiner Tat nicht angemessen war, wie er grüblerisch in Erwägung zog. Häftlinge jedenfalls, auf die irgendwann, vielleicht in absehbarer Zeit, außerhalb des Gefängnisses eine Zukunft in Freiheit wartete. Eine Zukunft in Freiheit, wiederholte Brix in Gedanken. Welche Art Zukunft würde das für die meisten sein? Auf kaum einen dürfte schließlich vor der Mauer ein Empfangskomitee mit Arbeitsplatzangebot, rotem Teppich und großzügiger Überbrückungshilfe warten. Es war im Gegenteil abzusehen, dass viele auf dem kleinen Umweg über eine neue Straffälligkeit, eines neuen Autodiebstahls, Raubüberfalls, Betrugs, und vielleicht auch Mordes wieder im Gefängnis landen würden. Weil die Resozialisierung, gelegentlich ambitiös wie hier, wo es sogar ermöglicht wurde, ein provozierendes Theaterstück aufzuführen, nicht an dem Punkt ansetzt, der im Licht jener neurophysiologischen Erkenntnis unumgänglich erscheint. An diesem Punkt, an dem zwischen Menschen, die straffällig werden und solchen, die das Glück haben, davon verschont zu bleiben, nicht unterschieden wird, was ihre persönliche Integrität angeht. Resozialisierung würde dann Krisenintervention ohne Gerichtsverfahren bedeuten, ohne Schuldspruch und ohne entwürdigendes Wegschließen der – so genannten - Straffälligen.

Im Augenblick war Brix zu erschöpft, um darüber weiter nachzudenken, wie denn der Schutz der Gesellschaft vor – so genannten - Verbrechen erfolgen solle. Seine Müdigkeit ließ ihn nach einer kurzen Dusche an der gelblich gekachelten Wand frösteln. Er dachte an diesen Film, in dem ein nackter jugendlicher Häftling einen anderen in der Dusche niederschlug, weil dieser ihn Schwuchtel genannt hatte, während er sich abtrocknete. Dann schlurfte Brix, das Handtuch über der Schulter, in Trainingshose über den öden Flur zu seiner Zelle. Nach dem geräuschvollen Einschluss überließ er sich noch eine Weile diesen Gedanken über Strafvollzug im Allgemeinen und der Aggression von Jugendlichen im besonderen, ehe er wieder zu den „Physikern“ zurückkehrte.

War es nicht ein zu sehr gleichsam abzählbares Stück? Die gedanklichen und dramatischen Grundfiguren erschienen ihm wie aufgereiht, neben einander stehend. Vielleicht machte das den großen Erfolg des Stückes aus, dass dieser Stoff eben mit solchen Figuren ausgestattet war, die keinen echten Lebenshintergrund besaßen, Modellfiguren, paradigmenhaft und geeignet, sie in jedem spielerischen Muster mit einander zu verknüpfen. Ausdrücklich zahlenbetont schien Dürrenmatt bei diesem Stück andererseits die Faszination für Geometrie und Muster gepackt zu haben, eine Qualität, die man hier, unter diesen Aufführungsbedingungen im Gefängnis, nur unzureichend inszenieren konnte, dachte Brix. Drei Physiker stehen drei Entdeckungen der Weltphysik gegenüber, der Gravitationslehre, der allgemeinen Feldtheorie sowie dem System aller möglichen Erfindungen, dann drei Krankenschwestern, drei Morde, drei Muskelmänner der Wachmannschaft und schließlich die drei Söhne des Möbius. Der Einwand, es könne sich bei dieser Betonung der Drei um einen Zufall handeln, wird abgeschwächt durch ein anderes Spiel, überlegte Brix weiter, bei dem Varianten der sprachlichen Motivwiederholung wiederum auch die Drei berücksichtigen. Dreimal zum Beispiel antwortet Möbius mit derselben Formel auf die Erklärung der beiden Agenten, sie hätten kaum eine andere Wahl gehabt, als ihre Krankenschwester zu töten, um ihre Mission nicht zu gefährden: „Natürlich nicht, selbstverständlich.“

Dann wiederum huldigt Dürrenmatt durch die Vertauschung der Personen, denen er dieselben Texte in den Mund legt, der Zahl Zwei. Zunächst spricht der Inspektor Voss von Tätern, wird verbessert, es handele sich um Patienten, später korrigiert er mit denselben Worten die Anstaltsleiterin, als sie selbst versehentlich von Tätern spricht. Mal findet jener Inspektor, dass es heiß im Raum sei, um von Marta Boll korrigiert zu werden, dann korrigiert, im gleichen Zusammenhang, der Inspektor wiederum die Anstaltsleiterin. Man könnte von Anklängen an Musikkompositionen sprechen, dachte Brix und wälzte sich schlaflos auf seiner Pritsche. Ähnlich wie Thomas Mann gerühmt wurde, im „Zauberberg“, dem Schicksalsroman eines Bürgersöhnchens in einem Lungensanatorium, Strukturen Wagnerscher Musik adaptiert zu haben, in welcher die Protagonisten auf der Opernbühne mit wieder erkennbaren Leitmotiven ausgestattet waren, überlegte Brix, auf dem Rücken liegend und Lichtpunkte an der Decke betrachtend, die durch Reflektion von trüben Lampen auf dem Hof vorübergehend dort auftauchten. Schicksalsroman und Schicksalstheaterstück, an diese Beziehung zwischen „Zauberberg“ und den „Physikern“ dachte vielleicht als einziger nur er, in der ihm bisher bekannten Literaturwissenschaft gab es seines Wissens dazu nichts. Beim Einschlafen, diesem allerletzten Stadium des Wachseins, in dem das Hier und Jetzt in eine sanfte Welle des schon Geträumten übergeht, sah er seinen Sohn Falk zwischen drei hohen dunklen Bäumen eines Parks winkend verschwinden.

Johannes war in diesen letzten Tagen vor der Premiere seltsam gleichgültig. Die Alltäglichkeiten der Haft schienen ihn nicht zu berühren. Schiefe Bemerkungen von Mithäftlingen wegen seiner Schauspielerei „Was ist mit Autogrammen, komm schreib mal auf mein‚ Arsch“ oder „ Krieg ich auch mal eine ab, wenn du ihr an die Titten greifst?“ gingen an ihm vorbei und provozierten keine Schlägerei, wie sie bei dergleichen Mobbing fast unausweichlich war. Er schlurfte ungewöhnlich schlaksig, wohin ihn die stumpfsinnigen Abläufe führten. Bei den Proben wirkte er fahrig und hatte Mühe sich zu konzentrieren. Brix beobachtete ihn mit Sorge. Er versuchte mit ihm vor und nach den Mahlzeiten zu sprechen. Doch Falk, - hatte er Falk gesagt? – Johannes entzog sich ihm und verschwand schnell in seiner Zelle, wo er sich hinter einem Buch verbarg. Er hatte es in der Bibliothek gefunden. Die Bibliothekarin, die einmal in der Woche kam, hatte es ihm empfohlen, „Hotel New Hampshire“ von John Irving, jener ironisch- romantischen und grotesk–realistischen Familiengeschichte, in deren Zentrum unter anderem die Liebesgeschichte der Erzählfigur John, einer der Geschwister, stand.

Dass so ein junger Häftling wie Johannes mit der schauspielerischen Aufgabe betraut war, eine Krankenschwester auf offener Bühne zu erwürgen, passte ganz gut zu diesem Roman, in dem die Wiedereröffnung eines verfallenen Hotels durch die Mitwirkung einer Reihe von skurrilen Individualisten von einer makabren Überraschung in die andere taumelt.

Die Vorbereitung für den Sonntagabend, auf den die Premiere der „Physiker“ festgelegt und mit kleineren Plakaten innerhalb des Gefängnisses sowie mit größeren in Behördenfluren und städtischen Nutzgebäuden angekündigt war, liefen auf Hochtouren und verursachten im gleichgeschalteten schleppenden Rhythmus des Tagein-Tagaus der Haftanstalt einige knirschende Reibungen, die von Personal und Insassen verkraftet werden mussten. Damit unerwartete Freistellungen von Einschlusszeiten für Mitwirkende am Theaterprojekt nicht von anderen Häftlingen ausgenutzt werden konnten, hatten die Aufseher und sonstigen Schlüsselgewaltigen Anweisung erhalten, schärfer zu kontrollieren, wenn nötig unerbittlicher zu reagieren als sonst, wenn alle Energie sich ausschließlich in der Routine erschöpfen darf.

Und wenn von Routine hier die Rede war, reflektierte Brix bei den eigenen Vorbereitungen auf die Premiere nebenbei, dann in dem Sinn, dass sie sich im Gefängnisalltag nie erschöpfen darf , damit nicht Ereignisse die Oberhand gewinnen, die alle Reglements außer Kraft setzen und im Ernstfall die Insassen zu Herren des Aufsichtspersonals werden lassen, wie es in verschiedenen Häftlingsrevolten geschehen ist. Revolten allerdings, die dem humanitären Blick besorgter Frühstückszeitungsleser bisweilen nur allzu berechtigt vorkommen mögen. Aber vor allen Dingen durfte eine schwächelnde Routine nicht zu den furchtbaren Fällen führen, bei denen mangelnde Bereitschaft des Personals zur Intervention aus Angst, selbst Teil der Repression durch die Machthierarchie unter den Häftlingen zu werden - also lieber mal wegschauen - dazu führte, dass Häftlinge mit bestialischen Quälereien Mithäftlinge zu Tode foltern, was zu den furchtbaren Skandalgeschichten aus besonders berüchtigten Haftanstalten gehört wie die, nach denen der Spielfilm „Pico“ entstanden war. Pico, so werden im Häftlingsjargon die neu Eingelieferten genannt, die als willkommene Mobbingobjekte in der Regel einiges durchzumachen haben. „Pico“ wurde wegen seiner Grausamkeit nur in wenigen Programmkinos gezeigt, erinnerte sich Franz und fragte sich, warum er sich diesem Kinobesuch lange vor den eigenen dramatischen Ereignissen in seinem Leben ausgesetzt hatte, ohne zu ahnen, dass er selbst eines Tage im Gefängnis landen würde.

Johannes wurde mehr als einmal in dieser letzten Woche völlig überraschend aus seiner Zelle geholt wegen einer Kleideranprobe oder wegen eines Fototermins oder wegen der Einrichtung des Lichts, insbesondere für das Ende des ersten Aktes, wenn der immer düstereren Stimmung des Möbius gemäß, der unausweichlich den Augenblick heran nahen sieht, in dem Schwester Monika sterben muss, das Licht Schritt für Schritt gedimmt werden und schließlich gänzlich erlöschen soll, wenn Monica Stettler erdrosselt am Boden liegt. Auch eine hochdramatische und menschlich tief bestürzende Szene besaß im Theater aus der Sicht des Regisseurs und der Schauspieler vor allem eine technische Dimension, die beherrscht werden musste.

Bei einer Kleiderprobe sollte Johannes kurz vor der Hauptprobe ein etwas abgetragenes Sakko mit Lederstücken auf den Ellenbogen anziehen, damit Brix sich ein Bild machen konnte, wie das schlichte, geblümte Kleid mit ockerfarbener Strickjacke bei Vanessa als Frau Rose, ehemalige Frau Möbius, wirkte in dieser gemeinsamen Szene mit Johannes als etwas verwirrter Möbius angesichts des Besuchs seiner Frau. Denn der wusste ja noch nichts von der Scheidung, die sie, Lina, inzwischen eingereicht hatte, um den Missionar Rose mit seinen vielen Kindern heiraten und zu den Marianen begleiten zu können. Sahen die beiden in ihren Verkleidungen nicht doch etwas zu verstaubt aus? Wie wirkte das Herumfingern von Johannes an seiner Brille, Möbius Brille, die an einer Schnurschlaufe herabhing?

Bei dieser Kleiderprobe jedenfalls, in der Maske, die in einem Nebenraum der Turnhalle eingerichtet war, sah Johannes Vanessa in Unterwäsche. Ein dezent geblümter Slip und ein dazu passender Büstenhalter kamen kurzfristig zum Vorschein, weil Vanessa in der Hektik dieser Zwischen- und Zusatztermine die notwendige Sorgfalt in der Garderobe vernachlässigte, sich niemals vor einem Insassen umzukleiden. Johannes schien kaum Notiz von diesem Fehler zu nehmen. Als er aber wieder in seiner Zelle war, konnte er an nichts anderes denken und spürte, wie sein Herz heftiger schlug und das Bild von Vanessa mit ihren sanften, noch jugendlich ausgeprägten Körperformen in den hautengen Wäschestücken, deren Farbe gut zu dem Blond ihrer lockigen, schulterlangen Haare passte, verschwand nicht aus seinem Kopf, während er auf seiner Pritsche ausgestreckt versuchte an nichts oder an nichts anderes zu denken.

In die tristen Höfe der verschiedenen Gefängnishäuser fuhr ein böiger Wind, ließ kleine Pflänzchen, Löwenzahn vielleicht und Gänseblümchen, in den Fugen der Pflasterungen zittern und fegte, wo er konnte, Sand und ein bisschen Erde gegen die Mauern. Irgendwo befand sich ein kleines Gehege, wo von einem jugendlichen Häftling als besondere Resozialisierungsmaßnahme eine Ziege und einige Hühner betreut wurden. Aus dieser landwirtschaftlichen Zelle sollte im Rahmen des ehrgeizigen Reformprojekts in naher Zukunft eine kleine Farm werden, die die Küche mit Produkten aus eigenem Anbau beliefern konnte. Bei diesem Gehege verbrachte Johannes gern seine Zeit, wenn er konnte. Mit Gregori, einem Jungen aus Weißrussland, hatte er sich angefreundet. Gregori hatte einem unbekannten Mann in einer Eckkneipe ein Messer in den Bauch gestoßen.

„Sagte, du alte Russensau lass mich mal hier sitzen, weil ich auf einem Barhocker saß, wo man sich an die Holzwand anlehnen konnte!“, erzählte er, “hab ich gesagt, es gibt genug Platz in Kneipe. Dann hat er mir eine reingehauen und geschrien: hau ab, russisches Dreckschwein, Kanacke! Dann hab ich rot gesehn!“

Johannes sprach lange nicht, sondern saß zusammen gekauert auf dem Bretterzaun, die Fersen in den Zwischenraum zwischen unterem und oberem Brett gedrückt.

„Ich hab jemandem versucht, den Schädel ein zu schlagen, wegen Anmache“, sagte er eines Tages, und Gregori nahm es wortlos zur Kenntnis.

„Hab heute Abend Hauptprobe bei dem Theaterstück, keine Lust mehr.“

„Wird schon, du hast doch gesagt, das ist geil, dass du mitmachst.“

„Ja, war es auch, hab´ aber jetzt die Schnauze voll.“

„Warum?“

„Red´ ich nicht drüber.“

„Is ok“, antwortete Gregori.

Johannes fühlte, wie das alte Problem wieder an ihm nagte. Einfach alles, was nicht behagte, ignorieren, einfach abhauen. Dazu hätte er jetzt große Lust. Wie sollte er mit Vanessa klar kommen, in diesem Gemäuer mit Stacheldraht. Eine Liebe glühen lassen, die im Käfig sitzt. Er spürte jetzt schon, wie er dabei selbst immer mehr verglühte, in diesen Nachtstunden in der Zelle. Es gab auch keinen Ausweg in ein Zuhause, in das er sich, wenigstens in Gedanken, flüchten konnte. Sein Vater war ihm zuwider, er hasste ihn, seine Gewalttätigkeit, die seine Mutter dazu gebracht hatte, ihre Sachen zu packen. Dass er nicht mit ihr gehen konnte, sondern bei seinem ungeliebten Vater bleiben musste, war das Schlimmste. Er bettelte und heulte, aber die Mutter wollte ihre Befreiung aus dem Gewaltverhältnis zu ihrem Mann und den Aufbruch in eine neue Selbständigkeit nicht mit beiden Kindern belasten. Und der Vater wollte ein Kind bei sich behalten. So wurde entschieden, dass seine Schwester, zwei Jahre jünger als er, zur Mutter kam und er beim Vater blieb.

Er hatte nicht damit gerechnet, dass ihn ausgerechnet im Knast die erste große Verliebtheit erwischte, die sich ganz anders anfühlte, als das, was er bereits mit Freundinnen aus den Schulen, der Nachbarschaft und den Jugendtreffs kannte. Es überwältigte ihn und zwang ihn, an fast nichts anderes zu denken.

Johannes musste nach dem Abendessen noch mal in die Zelle, das Textbuch holen. Alles andere, seine Jacke, die verbeulte Bügelfaltenhose und die Brille waren bereits fester Bestandteil der aufgeräumten Garderobe, wo die Mitwirkenden je ein oder zwei Bügel zur Verfügung hatten. Die Frauen verschwanden mit den Bügeln zum Umkleiden in einer provisorisch eingerichteten Kabine.

Johannes ärgerte sich, dass er an diese Kabine mehr denken musste als an seinen Auftritt in wenigen Minuten.

Auf dem Weg von der Zelle zur Theaterhalle traf er Franz Brix.

„Alles klar, mein Lieber?“ fragte Brix.

So hatte er ihn noch nie begrüßt: mein Lieber. Johannes war überrascht, aber nur einen kurzen Moment brauchte er, um damit einverstanden zu sein. Zu diesem Mann hatte er ein großes Vertrauen, obwohl er ihm manchmal unheimlich vorkam, auch, weil er fast nichts über Brix wusste. Aber er hätte nichts dagegen gehabt, wenn er, statt seines eigenen, sein Vater wäre.

Er antwortete nicht, versuchte nur, mit Brix Schritt zu halten, der es jetzt eilig hatte, in die Halle zu kommen und die Schließereien auf dem Weg zusammen mit Johannes als äußerst lästig empfand.

Es gab schon ein paar Zuschauer, die auf verschiedenen Stühlen in den Sitzreihen Platz genommen hatten. Brix blickte wiederholt von hier nach da, ohne genau zu wissen, was er wollte. Er brauchte einige Minuten zur Orientierung, musste sich erst an das Hin und Her der vielen Personen gewöhnen, die einerseits auf seine Anweisungen warteten, andererseits selbst nervös, voller Lampenfieber, sich auf ihre Auftritte vorbereiten mussten. Aber zugleich genoss Brix auch diese Unruhe der letzten Augenblicke vor einer Probe, die wie eine richtige Aufführung ohne Unterbrechung ablaufen sollte und die jede Panne so zu meistern hatte, als ob es sich um den Ernstfall mit richtigem Publikum in einem voll besetzten Saal handelte. Im normalen Theaterbetrieb wäre es eine Hauptprobe gewesen.

Für heute waren bereits Pressevertreter geladen worden, welche die besonderen Sicherheitsvorkehrungen und persönlichen Kontrollen bereitwillig und freundlich über sich ergehen ließen, belohnt mit der Exklusivität eines bemerkenswerten, in den Augen der Öffentlichkeit vielleicht etwas fragwürdigen, darum aber auch medienträchtigen Kulturereignisses. Es wurden Fotos geschossen, deren Verwertung der besonderen Aufsicht seitens der Gefängnisleitung bedurfte, immer neu zuckten die Lichtsalven der Blitze durch die im Grunde trostlose Räumlichkeit der alten Turnhalle. Ausgewählte Szenen wurden für diese Aufnahmen vor Beginn der Aufführung für Bilder zusammen gestellt, bei denen es darauf ankam, die Gesichter der Schauspieler und Schauspielerinnen nur soweit zu zeigen, dass sie durch Perücken und Schminke für den Außenstehenden kaum identifizierbar waren. Johannes gehörte natürlich zu den am häufigsten abgelichteten Personen, da er als Physiker Möbius in nahezu jeder Szene vorkam, auch mit Vanessa als Lina Rose, ehemalige Frau Möbius, deren Schreck bei Möbius‚ verbalem Ausbruch “packt euch nach den Marianen fort!“ ein reizvolles Motiv für die Reporter war. Vorher sollte Vanessa Johannes am Arm berühren zur Beschwichtigung der Entgeisterung, mit der Möbius die Nachricht über Scheidung und Neuvermählung seiner Frau aufzunehmen hatte. Diese Berührung empfand Johannes wie einen Stromschlag, der ihn vom Kopf bis zu den Fußsohlen durchfuhr.

„Wir fangen an“, kam endlich die Ansage von Franz Brix, als er sich in die zweite Stuhlreihe auf einen Platz in der Mitte setzte, ein Schreibbrett auf die Lehne des Vordersitzes stützend, bereit, jederzeit zu notieren, was noch zu verbessern wäre.

„Orhan – dein Einsatz, seid ihr alle bereit?“ Das Licht hob die Bühne in eine angenehme Helligkeit, wie sie im Salon einer Heilanstalt aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert vorstellbar war, als Neonröhren noch unbekannt waren. Inspektor Voss befragte Schwester Marta Boll zu der Krankenschwester Irene, die gerade von Einstein erdrosselt worden war. Dr. König, der Anstaltsleiter, der sich mit Herrn Nicolai in die dritte Reihe gesetzt hatte, warf verstohlene Blicke auf die völlig erstarrten Vertreter der Presse, die zwar in großzügiger Auslegung des Begriffs mit zeitgenössischem Theater vertraut gewesen sein mochten, aber nicht mit Mordereignissen gerechnet hatten, die Zweifel an der stofflichen Angemessenheit eines Theaterprojekts in einer Haftanstalt provozieren konnten. Zumal ja drei junge Straftäter mitwirkten, die in den Rollen als Einstein und Newton die Taten im Vorfeld des Zeitablaufs, den Dürrenmatt in Anlehnung an Lessings Theaterdoktrin als Einheit von Zeit und Ort konzipiert hatte, bereits ausgeführt oder im Fall von Möbius am Ende des ersten Aktes auszuführen hatten.

Als Johannes erneut, dieses Mal nicht gestellt für die Fotografen, von Vanessa am Oberarm berührt wurde, fühlte er nicht nur wieder eine Art Stromschlag, sondern der Boden der aus Podesten zusammengestellten Bühne schien sich zu weiten und aus seinen Beinen, auf denen er sich kaum halten konnte, schien seine Kraft heraus ins Unendliche zu fließen.

Erstaunlich, wie authentisch diese Szene wirkt, wie überzeugend der Möbius ist, ein Häuflein introvertierter Unsicherheit, dachte Dr. König, der in diesem Augenblick mehr die Öffentlichkeit im Sinn hatte, als sich daran zu erinnern, dass Johannes in Vanessa verliebt war. Das Ausmaß dieser Verliebtheit konnte er nicht kennen. Und so konnte er nicht wahrnehmen, was Brix nicht entging, wie unsterblich dieses Gefühl Johannes ausgerechnet in der vorletzten großen Probe beherrschte und wie unberechenbar sein Verhalten deswegen werden konnte.

Als Johannes jetzt in der Rolle des Möbius nach einem unerbittlichen Liebesgeständnis als letztem Versuch, sie zur Flucht aus der Anstalt zu bewegen, seine Krankenschwester Monika Stettler erdrosselte, fühlte er, wie der scheinbar leblose Körper der Schauspielerin kaum von ihm gehalten werden konnte und Gefahr lief, unsanft auf dem Bühnenboden auf zu schlagen. Die Vorstellung, dass dieser Körper der von Vanessa hätte sein können, wenn er nicht die Initiative für eine Umbesetzung ergriffen hätte, betörte ihn, und beim Verlassen der Bühne fühlte Johannes sich stark genug, um bei nächster Gelegenheit auf Vanessa zuzugehen und ihr seine Liebe zu gestehen. Für ihn gab es keinen anderen Ausweg mehr.

Beeindruckt von der Dichte des tragischen Ablaufs im ersten Akt der „Physiker“, dessen wesentlicher Inhalt die Verzweiflungstat Möbius‚ als Folge seiner Entscheidung war, seine, die Welt gefährdende Entdeckung unter allen bitteren Umständen der Menschheit vorzuenthalten, verließen die Reporter die Aufführung, verabschiedeten sich an der Hallentür von Dr. König mit seiner Bitte, die Berichte im Interesse einer sinnvollen Beziehung zwischen Haftanstalt und Öffentlichkeit unspektakulär und sachlich zu halten und ließen sich von Herrn Nicolai, der schelmisch einen guten Heimweg durch die Finsternis dieses Stadtteils wünschte, bis an das Haupttor bringen, wo sie mit diskretem Schlüsselrasseln in die Freiheit entlassen wurden.

Dr. König war wieder zu seinem Platz zurück gegangen und hatte auf dem Weg dorthin Franz Brix einen anerkennenden und aufmunternden Blick zugeworfen. Dabei war ihm aufgefallen, dass dieser dasaß, als würde er in sich hinein schauen und was er dort sah, lieber für sich behalten, in einer Mischung aus Entsetzen und Trauer. Dr. König ahnte, worum es ging, er kannte als einziger Brixens Geschichte, und bewies in diesem Moment wieder einmal, dass er als reformbegeisterter Gefängnisdirektor eine gute Wahl des Justizministers war. Er erhob sich nämlich wieder von seinem Stuhl, schob sich in seiner Reihe seitlich bis auf die Höhe von Brix und beugte sich vor, um ihm beruhigend auf die Schulter klopfen zu können, wie einem weidwunden Pferd, dem man den Hals tätschelt, damit es durchhielt, weil man es brauchte.

Für die Textfehler und Aussetzer, die Johannes im zweiten Akt passierten, hatte Brix einiges Verständnis. Er wusste ja, wie es um ihn bestellt war. Deswegen unterbrach er auch nur ein einziges Mal, als Johannes in der großen Rede an seine beiden, inzwischen als Agenten der beiden Supermächte enttarnten Physikerkollegen ihre allen gemeinsame Verantwortung beschwor, ihr Wissen zurück zu nehmen, wenn es keinen Zweifel an dessen Gefährlichkeit für die Existenz der Menschheit gäbe.

„Du darfst dich nicht verbessern, Johannes. Wenn du etwas vergisst, wie gerade die Passage: “ wir dürfen uns keinen Denkfehler leisten, weil ein Fehlschluss in die Katastrophe führen würde“, geh‚ einfach – na ja, einfach ist das nicht - geh‚ einfach weiter im Text und im Spiel, sonst hakst du dich fest und es geht dann gar nichts mehr. Vor allem auch nicht bei deinen Mitspielern Sven und Tomas. Die haben es in dieser Szene nicht leicht - Zuhören ist auf der Bühne meistens schwerer als Reden. Also, weiter da, wo wir jetzt sind: - Brix las ein Stück, um den Anschluss zu finden: „Wir haben alle drei das gleiche Ziel vor Augen, nur unsere Taktik ist verschieden. das Ziel ist der Fortgang der Physik.“ so jetzt, von da an weiter.“

Johannes konnte sich noch immer kaum konzentrieren. Ihm lief, nicht nur wegen der Scheinwerferhitze, der Schweiß von der Stirn und als er nach der Offenbarung der erschreckenden Tatsachen durch das Frl. Dr. Mathilde von Zahnd, nämlich, dass sie die Krankenschwestern zu Liebesverhältnissen mit den Physikern heimtückisch angestiftet sowie deren Ermordung vorhergesehen und gewollt hatte, von Zorn gepackt sich auf die Anstaltsleiterin stürzen wollte, mussten Tomas und Sven als Newton und Einstein sich ernsthaft einmischen, um Johannes zurück zu halten, damit er in seiner Verfassung nicht versehentlich wirklich auf Renate Nicolai als irre Anstaltsleiterin einschlug.

Keuchend sprach Johannes dann seinen Schlussmonolog und zog mit dieser Stimme alle in seinen Bann:

„Ich bin Salomo, der arme König Salomo. Einst war ich unermesslich reich, weise und gottesfürchtig. Ob meiner Macht erzitterten die Gewaltigen. Ich war der Fürst des Friedens und der Gerechtigkeit. Aber meine Weisheit zerstörte meine Gottesfurcht. Und als ich Gott nicht mehr fürchtete, zerstörte meine Weisheit meinen Reichtum, die Städte waren tot, über die ich herrschte, und die Reiche leer, die mir anvertraut worden waren, eine blauschimmernde Wüste. Und irgendwo, um einen kleinen namenlosen Stern kreiste, nutzlos, immerzu die radioaktive Erde. Ich bin Salomo, ich bin Salomo, der arme König Salomo.“

Das Licht erlosch und die Anwesenden im Publikum sowie die Mitspieler, die schon nicht mehr auf der Bühne waren, spendeten heftigen Beifall, der diese Probe als schwere Geburt auf dem Weg zur Premiere abschloss.

Erschöpft wurde sich abgeschminkt und umgekleidet, als bereits die Wächter in der Hallentür erschienen, um die Insassen schlüsselscheppernd auf ihrem Weg in die Zellen zu begleiten.

Johannes aber hatte sich, einer plötzlichen Eingebung folgend, versteckt. Bis es auffallen würde, hatte er drei, vielleicht fünf Minuten Zeit. Er passte den Augenblick ab, als Vanessa, deren Gesicht von der Anstrengung im ersten Akt immer noch ein wenig gerötet war, aus der Umkleidekabine trat. „Vanessa“ rief Johannes leise, „Frau Schrammberg!“ Schon war er hinter ihr. Sie hatte kaum Zeit sich umzudrehen, als Johannes, von den Wächtern in diesem Augenblick unbeachtet, versuchte, sie an sich zu drücken. Vanessa wurde blass vor Entsetzen und zischte. „Untersteh dich, Idiot!“

Die Worte taten ihr sofort leid. Sie spürte eine spontane Regung, sich nicht zu widersetzen und auch ihn zu umarmen. Ihre Routine im Umgang mit anfälligen Häftlingen war jedoch groß genug, diesem leisen Verlangen auch nur ein winziges Stück nachzugeben – die Folgen wären katastrophal. Schon dieser Augenblick, in dem Johannes seine Fassung verloren und ihr aufgelauert hatte, würde für Johannes alles ändern, alles zerstören. Es hing jetzt von ihr ab, ob diese Wendung eintreten und sowohl das Schicksal dieses tief unglücklich verliebten Insassen besiegeln, als auch das ambitionierte Theaterexperiment in der öden Gefängnishalle sofort beenden würde. Denn wenn herauskäme, was sie in diesem Augenblick gerade noch hatte unterbinden können, ein wenn auch von Liebesgefühlen bewirkter, so doch in jedem Fall tätlicher Übergriff auf eine Betreuerin des Gefängnisses, wäre es unmöglich, die Dinge so weiterlaufen zu lassen. Generalprobe und Premiere müssten abgesagt werden. Johannes würde die Gnadenlosigkeit des Gefängnisaufenthalts, das Eingesperrtsein ohne Bildhauerei und Theaterspielen für unabsehbare Zeit zu spüren bekommen. Und was wäre mit Franz Brix? Er verband mit diesem Projekt mehr als eine kulturelle Selbstbefriedigung, es hatte, wenn Vanessa auch nicht genau wusste, warum, eine große existentielle Bedeutung für ihn. Wie auch für Dr. König, der mit einem wichtigen Baustein der ehrgeizigen Reform des Strafvollzugs gescheitert wäre. Und für Vanessa selbst begänne eine Zeit schwieriger Aufarbeitung dieser Katastrophe mit allen Insassen, deren psychische Verfassung durch dieses Scheitern nicht ohne Schaden davon kommen würde. Vielleicht würde sie sogar ihre Arbeit in dieser Haftanstalt verlieren, da sie als Angegriffene keine unbefangene Beziehung zu den Insassen mehr entwickeln könnte. Vielleicht hatte sie ja durch ihr Verhalten, durch vermeintlich unscheinbare Signale, Johannes zu diesem verwegenen und unbesonnenen Verhalten ermutigt.

„Sei still!“ zischte sie, und Johannes begriff, dass Vanessa ihn nicht strafen würde und er sich auf sie zu verlassen hatte. Er durfte jetzt keinerlei Fehler begehen. „Du bleibst hier hinter dieser Tür, bis ich weg bin, dann rollst du dich blitzschnell unter das hinterste Bühnenpodest und kommst nach einer Minute heraus. Du hast deine Brille, die Möbiusbrille verloren – verstanden?“ „Ja“, flüsterte Johannes und schwarze Flecken standen ihm vor den Augen. Vanessa lief mit ihrer Tasche, in der sich ihr Textbuch und Schminkutensilien befanden, während sie darin herumkramte, an den Wärtern vorbei aus der Halle. Johannes war es gelungen, genau in diesem Augenblick, als die Wächter Vanessa „anstrengend, was“, hinterher riefen, unter die Bühne zu rollen. Da hörte er auch schon, wie sein Name gerufen wurde, noch eher fragend als befehlend. Verstaubt tauchte er auf und bewegte sich zur Tür.

„Wo steckst du denn, he?“, wurde er gefragt.

„Ich habe was verloren und meinte, dass es unter die Bühne gekommen ist, irgendwie.“

„Wie geht das denn, irgendwie?“ Der Ton wurde herausfordernder.

“Die Brille, meine Brille als Möbius, also die ich bei meiner Rolle brauche, die fällt halt manchmal runter und manchmal schiebt sie dann jemand von der Bühne mit dem Fuß, aus Versehen. Aber sie war nicht da, muss morgen noch mal in der Garderobe gucken.“

„Ok, jetzt aber zack zack!“

Als die eiserne Tür der Halle zuschlug und der Sicherheitsschlüssel sich im Schloss gedreht hatte, begann Johannes zu zittern. Seine Handflächen wurden feucht von kaltem Schweiß. Er ließ eine Begegnung, von der nie jemand erfahren durfte, in der dunklen stillen Halle zurück. In seinem Innern aber war sie noch gegenwärtig. Er besaß nun eine Verbündete, die ihn nicht verriet und nicht preisgeben würde, dass er sie liebte.

Der Aufstieg auf den felsigen Berg einen Weg entlang, der sich bald in steinerne Unwegsamkeit verlor und bei jedem Schritt hohe Aufmerksamkeit erforderte, wollte nicht enden. Er versuchte sich an dem kleinwüchsigen Gesträuch festzuhalten, das, je höher sie kamen, in palmenblättrige Grasbüschel überging. Seine Begleiterin war bald ein Stück unter ihm, bald weit vor ihm, so dass ihm die losgetretenen Steine entgegen rollten. Wer sie war, wusste er nicht. Sie sprachen kaum, er hörte ihren keuchenden Atem. Der Berggipfel schien für ihn die endgültige Rettung vor einem Absturz in die Tiefe zu sein. Schon waren sie so hoch gestiegen, dass sich fast ungehindert der Blick auf das Meer öffnete, wie es sich, von den felsigen Küstenvorsprüngen und Buchten gesäumt, ins Unendliche auszudehnen schien. Wo die Wellenbänke herrührten, die weit unter ihnen an die Felsen schlugen und in weißer Gischt zerstäubten, diese metaphysisch angehauchte Frage schwebte unbeantwortet in dieser graublauen Grenzenlosigkeit, und er versuchte, wenigstens ein angemessenes Gefühl für die Tausende Jahre zu haben, in denen das Meer bereits an diese Felsen schlug. Er schien diesen Berg schon immer bestiegen zu haben und die Frau neben ihm schien sich auf der Flucht zu befinden.

Vor wem?

Dann war sie wieder über ihm und rutschte, da das Geröll plötzlich nachgab, zu ihm herunter und blieb vor seinen Füßen liegen, während seine Hände sich in das Gesträuch und in die Gräser krampften, bis sie bluteten. Plötzlich sah er seinen Sohn, der ihm unter Bäumen weiter unten zuwinkte. Und in diesem Augenblick wusste er, dass die Frau die Pflegerin seines Sohnes war, die ihn hatte hinausgehen lassen, ohne sich weiter um ihn zu kümmern. Er schluchzte. Sein Sohn war aus seinem Leben verschwunden, weil diese Person ihn aus Gleichgültigkeit und Pflichtvergessenheit in der letzten schwersten Stunde allein gelassen hatte. Voller Wut blickte er auf die vor ihm liegende Krankenschwester und rollte sie, nachdem er seinen Sohn endgültig zwischen diesen hohen dunklen Bäumen, die gar nicht in diese Landschaft passten, aus den Augen verloren hatte, den steinernen Abhang hinunter. Dann aber nahm die Frau, die sich plötzlich in eine andere Person verwandelte, die Züge von Hanna an, mit der ihn eine langjährige, innige Freundschaft verband. Zuletzt hatte er keine gute Nachricht von ihr erhalten. Sie war schwer erkrankt und nun lag sie ein Stück unterhalb seiner Position zwischen dem felsigen Geröll und den Stechpalmen und blickte ihn mit großen dunklen Augen an, die tief in ihren Höhlen lagen.

Verstört erwachte Brix. Sein Blick fiel durch das Gitter auf den fahlen Nachthimmel in jene Ferne, die aus Unerreichbarkeit und seiner Erinnerung bestand. Er hing Gedanken nach, die dem Sohn, der da zwischen den Bäumen verschwunden war, einen schwermütig-zähen Rahmen gaben.

Ein kleiner Verlierer, der sich aus der Welt der Wettkämpfe, der Konkurrenz, die ihm durch seinen lebenstüchtigen Zwillingsbruder schon im Säuglingsalter aufgezwungen war, gern in Traumwelten und Halbwirklichkeiten zurückzog. Es peinigten ihn Ängste vor großen Blättern exotischer Pflanzen, vor absonderlichem Getier und bedrohlich aussehenden Maschinen, wie etwa das Straßenreinigungsauto mit seinen Scheinwerfern, die man für Augen halten konnte. Er verfolgte Menschen, die violette Kleidung trugen sowie die Katze im Haus mit eigentümlichen Ritualen, die einen Anflug sadistischer Unterwerfungslust besaßen. Er war kein Fall schwieriger Erziehungsprozeduren, sondern passte sich schnell den Erwartungen derjenigen an, die sein Leben regelten. Symbole und Zwischenzeiliges waren ihm wichtiger als Tatsachen und Fakten, wenngleich er sich mit ungefähr zehn Jahren für den Kosmos zu interessieren anfing. Bald meldeten sich Anzeichen für eine nicht organische Krankheit, die in Falks Vorstellung Fehler in seinem Körper entstehen ließ. Um diese zu korrigieren, begann er mit den Fingern immer unerbittlicher an sich herumzudrücken, dass blaue Flecken und schließlich Wunden entstanden. Noch schien es eine Episode seiner Entwicklung zu sein, die er mit Sport und Musik zu überwinden suchte. Neben seiner Leidenschaft für das Wettkampf-Rudern war er Bassist in einer Heavy-Metal-Band. Seine lockigen dunklen Haare trug er lang und wild und seine Hosen mit dem unverzichtbaren Metallnoppengürtel schnürte er knapper. Von da aus, als Folge der Freundschaft mit einem andern Bandmitglied, Eddi, der den Weg in eine christliche Gemeinschaft fand, suchte auch Falk Zuflucht in jener naiven Sekte, die ihn, der das Erforschen der Welt aufgegeben hatte, sich selbst mit seinen Einbildungen überließ, zu denen die neuen gespenstischen Sektenbrüder und -schwestern keinerlei Zugang hatten.

Nun stellte sich ein riesiges Vakuum im Inneren seines Kopfes ein, das sich mehr und mehr auszudehnen schien und Falk, der sich nicht erklären konnte, warum alle organischen Untersuchungen, einschließlich der neurologischen, bei seinem Leidensdruck ohne Befund blieben, schwer zusetzte. Falk quälte sich durch die Etappen der schulischen und beruflichen Ausbildung. Ein hilflos begonnenes Studium wurde spät abgebrochen und mit dem Aufenthalt in jener Klinik eingetauscht, die ihn für längere Zeit behielt, um ihn schließlich, lächerlich absichtslos, aus Versehen, aus Faulheit, aus Ablenkungssucht der diensthabenden Krankenschwester in den unbeaufsichtigten abendlichen Weg durch den Park und hinaus in die Stadt zu entlassen, von dem er nicht mehr zurückkehren sollte.

Brix erinnerte sich nun, wie Falk während dieses Aufenthaltes in der Klinik die Wochenenden stets bei ihm und seiner neuen Familie verbrachte. Falks Mutter hatte sich schon in dessen Kindertagen von Brix getrennt, der schließlich, nach später Scheidung, wieder geheiratet hatte. Diese Wochenenden waren stets von Brixens tiefer Sorge um seinen Sohn, aber auch von einem gewissen Wohlbefinden Falks bestimmt. Eines Tages gelang es Brix, Falk, der für gute therapeutische Ratschläge von Amateuren im Allgemeinen nahezu unzugänglich war, zu einer Übung zu überreden, die tiefe Entspannung und eine von Vorurteilen und Einbildungen freie Körperwahrnehmung bewirken sollte. Und wie durch ein Wunder war Falk nach dieser Übung gänzlich verwandelt. Sein trockener Humor stellte sich wieder ein und es wurde ein unvergesslicher, schöner Sonntagnachmittag, an dem viel gelacht und heimliche Freudentränen vergossen wurden. Im Krankenhaus, wo Falk am Abend wieder erwartet und von Brix mit der größten Hoffnung, dass aufgrund der eingetretenen so erfreulichen Aufhellung von Falks Befinden dies das letzte Mal sei, hingebracht wurde, hatte man, nach der lieblosen Abfertigung seitens jener fatalen Krankenschwester am Abend der Ankunft Falks vor dem Dienstzimmer mit flimmernden Fernsehbildern im Hintergrund für den sensationellen häuslichen Therapieerfolg keinerlei Verständnis. Weiter ging es in den Tagen danach mit der üblichen Behandlung, in der verschiedene Psychopharmaka sich mit gängelnder Bevormundung verbanden. Die weiteren Nachrichten aus der Klinik wurden düsterer, der Lichtblick vom Sonntag wich schon bald einer schlimmeren Finsternis.

An Brixens tiefer Traurigkeit, in der auch das Bild jener todkranken Hanna eingenistet war und in welche eingesponnen er den Rest der Nacht bis in den frühen Morgen auf seiner Pritsche schlaflos verbrachte, rüttelten nun die schrillen Töne des Gefängnismorgens. Er richtete sich auf, stellte die Füße auf den Zellenboden und rieb sich intensiv Gesicht und Augen.

Vanessa wusste, dass sie vor der Generalprobe und erst recht vor der Premiere der „Physiker“ mit Johannes reden musste. Aber wie sollte sie ihm seine Verliebtheit ausreden, zumal sie seit dem gerade noch verhinderten Übergriff bei sich eine deutliche Sympathie nicht mehr leugnen konnte. Eine Sympathie, die aus dem Insassen Johannes, der ihrer sozialpädagogischen Betreuung bedurfte, einen jüngeren, aber auf gar nicht rätselhafte Weise doch einen Mann machte, ein interessantes, gut aussehendes, männliches Wesen, das eine heimliche Sehnsucht nach körperlicher Nähe bei ihr auslöste in einer Weise, wie sie diese bei ihren bisherigen Freunden noch nicht empfunden hatte. So sehr sie sich diese Empfindung ausreden wollte, sich die Unsinnigkeit und Unverständlichkeit beschwor, musste sie schließlich einsehen, dass sie am Kern dieses unpassenden Gefühls nichts zu ändern vermochte. Sie verfügte zwar über genügend professionelle Rezepte, dass sie kein Verhaltensopfer dieses Affekts werden würde, aber sie spürte, wie lästig und unangemessen diese Geschichte war.

Sie ging hinüber in die Bildhauerwerkstatt, wo Johannes gleich nach dem Frühstück zu sein hatte. Sie sah ihn, wie er von einer Gipsform, die gestern gegossen worden war, Tonreste abschabte. Er saß dabei halbwegs auf der großen Tischplatte, sein rechter Fuß berührte noch den Boden. Zu ihm ließ er den anderen Fuß hinunter und richtete sich auf, als er Vanessa eintreten sah. Er warf einen verstohlenen Blick auf sie, bevor er sich, scheinbar sehr beschäftigt, wieder seiner Tätigkeit zuwandte. Vanessa ging, ein verstecktes „Hallo“ murmelnd, an ihm vorbei in die so genannte Meisterbude, zwei mit großen Glasscheiben ausgestattete Wände, die in einer Ecke der Werkstatt einen kleinen Aufsichtsraum abteilten. Hier besprach sie sich kurz mit der Kollegin Karin Kremer, ihrer Nachfolgerin in der Rolle der Schwester Monika. Danach kam sie auf Johannes zu und sagte:

„Komm mit, wir haben was zu besprechen!“

Johannes Herz klopfte bis zum Hals, als er ihr nach draußen folgte. Wortlos schlug sie den Weg über den Hof mit der kleinen ovalen Laufbahn ein, die für Fünfzig-Meter-Läufe gerade reichte und von zwei einsamen, nicht besetzten Unterständen für eine Aufsichtsperson bewacht zu werden schien, vorbei an der großen Eisentür für die Anlieferung der Lebensmittel, die sich neben der Küche befand. Wenige Schritte davon entfernt ging es hier vom Hof aus in Vanessas Büro. Sie schloss, ohne Johannes anzusehen, die Tür auf und ließ ihn eintreten. Es dauerte vielleicht eine halbe Minute, in der sie schweigend vor ihrem Schreibtisch auf den Boden blickte, ehe sie das Gespräch begann.

„Hör mal, deinetwegen habe ich lang wach gelegen gestern Nacht. Der Vorfall bleibt unter uns. Du hast Glück, dass ich dich mag, hörst du. Das heißt aber noch lange nicht, dass ich mir so was wie gestern ein zweites Mal gefallen ließe, verstehst du? – Setz dich endlich. Also nimm dich zusammen und bring uns nicht in Verlegenheit, das wäre schlimm, das weißt du. Was meine Gefühle, ich meine, deine Gefühle für mich angeht-“ Vanessa drehte sich zum Fenster und blickte auf den Hof mit den Wachhäuschen, sie zögerte und setzte dann leiser fort „ - ich will davon gar nichts wissen. Wir müssen hier miteinander auskommen und haben dazu noch eine gemeinsame Aufgabe vor uns, die keine Nebenschauplätze duldet. Ich hoffe, du verstehst mich gut genug.“

Vanessa ahnte natürlich, dass Johannes kaum zuhören konnte, nur wollte, dass diese Unterredung, das Zusammensein mit Vanessa allein in einem Raum, nicht aufhören sollte. Er wagte nicht, sie anzusehen. Stattdessen suchte er irgendeinen Halt auf dem Boden und blieb an ihren Turnschuhen hängen. Vor einer weiteren Tür, die in einen Flurbereich im Innern des Gebäudes führte, hörte er das Klacken der Tischtennisbällchen, die auf der Alufläche des Spielfelds aufschlugen.

„Ja“, antwortete er irgendwann.

„Das war eine absolute Fehlleistung“, begann Vanessa wieder, „du musst einsehen, dass du dich auch bei deinen Gefühlen zurücknehmen musst – wie soll das denn gehen?!“ platzte es aus ihr heraus. Dabei warf Johannes ihr einen erschrockenen und eingeschüchterten Blick zu, der sie an dieses Reh erinnerte, welches längst nicht mehr ohne das Klischee vom ausweglos bis ans Ende gejagten Lebewesen mit großen dunklen Augen vorstellbar war.

Als Johannes Vanessas Büro verließ, hielt sie ihm die andere Tür nach draußen zum Flur auf, wo die Tischtennistische aufgebaut waren. Sie legte ihre Hand für eine Sekunde auf seinen Arm, so wie sie es als Frau Rose bei ihrem Johann Wilhelmlein tat, um ihm die Scheidung mitzuteilen.

Johannes war benommen von dem schwer zu verkraftenden Verlauf dieses Vormittags. Er lief zwischen den Pingpongspielern hindurch wieder zum Ausgang dieses Flurs, dessen Tür zum Hof hin von einem Schließer gesichert wurde. Der schloss ihm mit fragender Miene auf, als Johannes ihm mitteilte, er habe gerade einen Termin bei Frau Schrammberg gehabt und müsse sich jetzt wieder in der Werkstatt melden.

Einen Termin bei Frau Schrammberg gehabt. Es klang in seinem Inneren so, als würde man von einem Blumenstrauß sprechen, dessen Einsatz als Besen für die Zellensäuberung irgendeiner Amtsperson mitgeteilt würde.

Sein Verhalten nach der Probe gestern hätte furchtbaren Schaden angerichtet, wenn Vanessa ihm nicht wohlgesonnen gewesen wäre. Er hätte ihr große Unannehmlichkeiten bereiten können. Ihm wurde bewusst, dass seine Gefühle für Vanessa bis jetzt wenig mit Rücksicht oder Verantwortung ihr gegenüber zu tun hatten. Aber was hatten solche Gefühle für einen Wert, die nicht den Schutz und die Fürsorge mit einschlossen? Er empfand Scham bei dem Gedanken, dass er aus reinem Aneignungstrieb gehandelt hatte, aus egoistischem Liebeswahn und sexuellem Begehren. Ihn überkam das dringende Bedürfnis, das er vorhin in Vanessas Büro noch nicht gespürt hatte, sich bei ihr für den Vorfall zu entschuldigen. Er hatte Angst, sie könne das alles als für sie überaus unangenehm und schädigend, vor allem aber als überaus lächerlich empfinden. Als Johannes die Werkstatt erreicht hatte, war er so mit Scham erfüllt, dass er es kaum aushalten konnte, jetzt wieder an die Arbeit zu gehen. Eine Arbeit, die Grübeleien zwar zuließ, aber zugleich den Argwohn der verantwortlichen Ausbilderin hervorrufen konnte. Dasitzen und bloß das Werkstück anstarren, konnte ein Zeichen für mangelnde Leistungsbereitschaft sein.

Während er also seine Arbeit wieder aufnahm, das Entfernen der Tonreste, liefen ihm stille Tränen über die Wangen, deren feinen salzigen Geschmack auf den Lippen er als eine Art Botschaft Vanessas empfand, sie in seinen Gefühlen nicht nur zu begehren, sondern auch zu respektieren.

Die Generalprobe war am Samstagnachmittag. Frau Nicolai, oder Renate, die Ehefrau des Referenten für Öffentlichkeitsarbeit in der Gefängnisleitung und wunderbare Frau Dr. Mathilde von Zahnd, die dieser Verkörperung des arglistigen Machtwahnsinns überzeugend Gestalt geben konnte und im Team der Mitwirkenden besonders beliebt war, weil sie mütterliche Fürsorge und Einsatzfreude miteinander zu verbinden wusste, hatte für Kaffee, Säfte, Wasser und Kuchen gesorgt. So trafen die Spannungen, denen manche in den letzten Tagen besonders ausgesetzt waren, auf die mildernden Umstände einer versöhnlichen Kaffeetafel in der Pause oder in den Pausen der einzelnen Rollen. Der Inspektor Voss, dargestellt von Paul, einem begabten älteren Häftling mit maigrethaftem Äußeren, der wegen einer Serie von Einbruchsdiebstählen zu einem Jahr ohne Bewährung verurteilt war, hatte jeweils zu Beginn des ersten und des zweiten Aktes brillante Szenen, dann aber nichts mehr zu tun, so dass er sich mit hochrotem Kopf und dem vom Lampenschweiß herrührender, eifriger Nässe auf der Stirn dem Kuchen und den Getränken sowie dem flüsternden Schwätzchen am Rande der Aufführung widmen konnte. Oder die drei massigen Box- und Ringmeister, die nach den Morden an den Krankenschwestern die Bewachung der drei Physiker übernommen hatten. Sie waren stets zu gröberen Scherzen aufgelegte Häftlinge, die wegen allerlei Gaunereien einsaßen, aber im Grunde gutmütige Menschen mit gutem Appetit zu sein schienen.

Wieder war vor Beginn der Probe die Unruhe groß, das Umkleiden, Schminken, Niederkämpfen des Lampenfiebers, die Peinlichkeit, bei allem auch noch von einzelnen Wächtern argwöhnisch oder belustigt beobachtet zu werden, die bei den Türen und in der Halle verteilt, keineswegs alle zu den Befürwortern eines solchen Theaterprojekts gehörten und von Dr. König mit Unbehagen dazu verdonnert worden waren, hier Wache zu schieben, um Generalprobe und Premiere nicht ganz ins unbeschwerteste Theatermilieu abgleiten zu lassen, zu verhindern, dass die Haftanstalt, deren Ausstrahlung trotz dieses nur improvisierten Theaterzaubers ein wenig nachließ, als eigentlicher Ort und Anlass aber nicht ganz in Vergessenheit geraten sollte. Brix war über die Anwesenheit dieser Aufseher nicht glücklich, denn er musste befürchten, dass bei den Mitwirkenden die Motivation beeinträchtigt werden könnte. Auch bei denen, die in der Welt jenseits des Gitters ihre Freiheit genießen konnten. Deshalb hielt er vor Beginn der Probe wieder eine kleine Rede, in der er alle im Raum darum bat, an das endgültige Gelingen des Stückes zu denken und sich von keiner Unannehmlichkeit ablenken zu lassen, wie sie nun einmal mit der kleinen vergitterten Welt aus Backstein, Beton und Eisen verbunden war.

„Es ist schon ein riesiger Erfolg“, sagte er, „dass durch die positive Einstellung und die großartige Mitwirkung so vieler Menschen in dieser und am Rande dieser Welt diese Generalprobe und morgen die Premiere möglich geworden sind. Danke an alle!“

Orhan zog die Scheinwerfer hoch, Inspektor Voss stand mit Schwester Boll auf der Bühne. Nach dem Ermittlungsdialog, der sich auf die beiden Krankenschwestern und ihre bekannten Mörder bezog, trat Frl. Dr. Mathilde von Zahnd auf und erläuterte dem Inspektor ihre Theorie, dass die beiden Morde an Schwester Irene und Schwester Dorothea wahrscheinlich mit der Radioaktivität zusammen hängen würden, da die beiden Täter, verbessert: die beiden Patienten, die ihre Krankenschwestern ohne böse Absichten ins Jenseits befördert hätten, mit Atomphysik zu tun gehabt hätten und dies ungünstige, ja krankhafte Veränderungen in ihrem Kopf verursacht haben könnte. Eine Theorie, die aber nicht für den Fall Möbius in Betracht komme, der weder mit jener Physik beschäftigt gewesen, noch in irgendeiner Hinsicht gefährlich sei.

Alles lief bisher ohne Stolpern und nun war wieder Johannes auf der Bühne. Er wollte vor allem für Vanessa gut spielen, in der Hoffnung, dass sie ihm schnell verzeihen würde, sie um ein Haar in verteufelte Schwierigkeiten gebracht zu haben. Die Berührung seines Arms, die Vanessa dieses Mal ein wenig flüchtiger gestaltete, empfand Johannes als eine Ermahnung, sich in jeder Hinsicht zusammenzunehmen und alles gut zu machen. Seine Bemühung war jedoch so angestrengt, dass ihm jenes Missgeschick widerfuhr, gleichsam die Milch überkochen zu lassen während der vollen Konzentration darauf, dass eben dies nicht geschieht. Er versäumte es, den Berufswunsch seines Sohnes, den er mit der jetzigen Frau Rose besaß, nämlich, wie der Vater, Physiker zu werden, was Lina Rose, die Mutter, diesem anlässlich ihres Abschiedsbesuchs vor dem Aufbruch zu den Marianen, berichtete, entschieden zurückzuweisen mit den Worten, die er so oft und immer wieder geübt hatte: „Physiker? Das darfst du nicht! Keinesfalls! Das schlage dir aus dem Kopf. Ich verbiete es dir! Ich hätte es niemals werden dürfen, ich wäre jetzt nicht im Irrenhaus“. Weil Johannes diese Passage ausließ, konnte Vanessa als Lina Rose ihn nicht beschwichtigen, dass er, Möbius, ja nur in einem Sanatorium sei. Und damit fehlte der Anschluss für Johannes, sich als Opfer der Tatsache zu erklären, dass ihm der König Salomo erscheine, und er deshalb für verrückt gehalten würde, auch von ihr.

Kurz, der erste Akt kam gewaltig ins Schleudern, aber Brix unterbrach nicht, da dasselbe ja auch morgen, bei der Premiere, passieren konnte und dann kein Weg an der Fortsetzung des Spiels vorbeiführt. Johannes fühlte, wie siedend-heiß das Gefühl des Versagens in ihm aufstieg, es drehte sich alles in seinem Kopf. Was sollte Vanessa jetzt von ihm denken und wie konnte er jetzt wieder zum Textverlauf zurückfinden?

Da sagte Vanessa:

„Johann Wilhelmlein, du bist ein bisschen durcheinander jetzt, das ist nur zu verständlich, mach dir keine Sorgen! Hier stelle ich dir Oskar Rose vor, meinen Mann. Er ist Missionar.“

„Deinen Mann? Ich bin doch dein Mann!“, schoss es aus Johannes heraus, mit einer Überzeugtheit, als könne kein Zweifel daran bestehen, dass er und Vanessa für immer zusammen gehören.

„Nicht mehr, Johann Wilhelm. Wir sind doch geschieden.“

„Geschieden?“

„Das weißt du doch!“

„Nein.“

„Fräulein Dr. von Zahnd teilte es dir mit!“

„Möglich“, erwiderte Johannes richtig, aber wie im Nebel der undurchschaubaren Ereignisse, die nun in den Duft eingehüllt waren, den Vanessa verströmte.

„Und wir brechen morgen zu den Marianen auf, zum Stillen Ozean, wo mein neuer Mann eine Missionarsstelle antreten wird“, flötete Vanessa - nicht ganz textsicher - in einer Mischung aus fürsorglichem Mitleid mit ihrem Johann Wilhelmlein, den sie in Wahrheit noch zu lieben schien, aber wegen der ausbleibenden Aussicht auf Heilung seiner Geisteskrankheit wohl nie wieder an ihrer Seite wissen würde, was für das Aufziehen ihrer gemeinsamen drei Kinder eine unhaltbare Lage war, und andererseits dem Stolz, als Lösung für ihre existenziellen Probleme die Verheiratung mit dem Missionar gefunden zu haben. Johannes, alias Möbius, war wütend auf diesen Mann, der ihm wegen seiner Salomon-Erscheinung schmeicheln wollte, und schleuderte ihm die Worte entgegen:

„Herr Missionar, ich kenne Salomon von Angesicht zu Angesicht. Er ist nicht mehr der große, goldene König, der Sulamith besiegte und die Rehzwillinge, die unsere Rosen weiden. Er hat seinen Purpurmantel von sich geworfen“, - dabei riss Johannes sich die Jacke von den Schultern und warf sie auf den Boden – „nackt und stinkend kauert er in meiner Zelle –„

(Brix hielt den Atem an, denn es hätte „Zimmer“ heißen müssen)- „als der arme König der Wahrheit, und seine Psalmen sind schrecklich. Hören sie gut zu, Missionar, Sie lieben Psalmworte, kennen sie alle, lernen sie auch die auswendig!“

Heftig stürzte Möbius jetzt einen Tisch um, kauerte sich zwischen die Tischbeine und trug voller magischem Ingrimm den absurden Psalm Salomos, den Weltraumfahrern zu singen, vor. Wie diese im All durch Bleidämpfe, Radioaktivität und Ölpfützen verrecken oder als lebende Fratzen aus Unrat ohne Erinnerung an die atmende Erde verloren in orientierungslosen Raumschiffen herumirren. Danach folgte der irre und erschreckende Ausbruch, in dem Möbius Lina und ihren Missionar verflucht und davon jagt, ein Taumel, aus dem Schwester Monika, alias Karin Kremer, ihn erlöste.

„Wir sind allein, Ihre Familie hört Sie nicht mehr.“ Johannes hatte sich wieder gefangen und war offenbar wirklich erleichtert, Vanessa mit ihrem Missionar, der übrigens vom Gefängnispastor gespielt wurde, von der Bühne gejagt zu haben.

Es folgte die Szene, in der Orhan das Licht immer weiter herunter fahren muss, während Möbius in letzter Verzweiflung keinen Ausweg mehr findet, sein Lebenswerk geheim zu halten, als Schwester Monika, die auf Heirat hoffende Geliebte, die ihn aus der Anstalt heraus in die offene Welt physikalischer Veröffentlichungen führen will, zu erdrosseln.

Wieder wurde Brix, der voller Spannung die Rettung des ersten Aktes durch Vanessas kluge Textimprovisation verfolgt hatte, von dieser Szene erschüttert. Er verbarg sein Zittern, als das Hallenlicht wieder anging, hinter einigen Anweisungen für den zweiten Akt, der ohne größere Probleme gespielt wurde. Sogar die Schlussmonologe der drei Physiker gingen das erste Mal ohne Versprecher gespenstisch reibungslos über die Bühne.

Aber Johannes, dessen Monolog den Schluss der Aufführung bildete, beschlich, während er sprach, eine unbestimmte Furcht vor dem Ende der Generalprobe. Er beeilte sich beim Umkleiden, hängte Hose und Jacke des Möbius hastig auf seinen Kleiderbügel und verließ so schnell er konnte die Halle. Er wollte nicht mit Vanessa zusammen treffen.

Der angeschnittene Ball ging scharf über das Netz und sprang in flachem Winkel auf der Seite auf, die Johannes gewählt hatte, als Brix ihn nach dem Abendbrot bat, ihm ein Tischtennismatch zu liefern. Das brauchte Brix zur Entspannung und er dachte, dass es Johannes auch gut täte nach den Anspannungen dieses Nachmittags, einem Spätnachmittag, an dem Johannes, dieser junge Mann mit seiner Verliebtheit in all dem Dickicht, in dem sich für ihn so viel Licht wie neue Schatten und Dunkelheit ausbreiteten, die größten Herausforderungen hatte bewältigen müssen. Er musste einen anspruchsvollen Text in das Rollenspiel eines vielschichtigen Theaterstücks umsetzen und zugleich unterdrücken, dass er Vanessa am liebsten an sich gerissen hätte. Er musste verkraften, mit ihr gemeinsam auf der Bühne zu stehen und ihr so nah zu sein, wie es in seinem Gefängniselend sonst ganz und gar unmöglich wäre.

Brix wollte, dass Johannes sich jetzt auch hier, beim Tischtennis, richtig ins Zeug legen musste, um sich nicht besiegen zu lassen. Und so ging dieses Spiel sehr energisch mit schwierigsten Bällen auf beiden Seiten über die grün gestrichene Aluplatte. Brix geriet außer Atem und sah sich mehr und mehr unter Druck. Johannes hatte im Gegensatz zu Brix, der sich bereits jahrelang mit seinen Kindern gemessen hatte, vor seiner Einlieferung in die Haftanstalt kaum Tischtennis gespielt. In der Schule gab es zwar im Rahmen des Sportunterrichts und auch in den Pausen die Gelegenheit, aber er hielt sich von dieser schnell erhitzten Ping-Pong-Sieger-Verlierer-Welt fern und spielte selten. Im Gefängnis änderte sich dies. Tischtennis gehörte auch für ihn zu den begehrtesten Beschäftigungen während der Umschlusszeiten. Hier im Knast bot sie die Möglichkeit, sich mit ganzem Einsatz in der Sieger-Verlierer-Welt ohne katastrophale Folgen auszuleben.

Sie hatten bei ihrem Duell viele Zuschauer. Das Theaterspiel führte zu einer gewissen Absonderung der beiden von den vielen normalen Insassen, die sich jetzt dafür interessierten, ob Brix und Johannes noch zu ihnen gehörten, bereit bei den geringsten Anzeichen von Schwäche, die sie bei ihnen ausmachen würden, ihre Isolierung durch Mobbing zu verstärken. Brix, der im Grunde eine breite Anerkennung genoss, weil er Streitereien schlichten konnte, ohne sich selbst aufzuspielen, vermied es deshalb auch, während des Spiels, bei kleinen Pausen zum Ball-Aufheben, mit Johannes über die Generalprobe zu reden. Dies müsste aber bis morgen noch irgendwie geschehen. Brix spürte, wie sehr Johannes einer unterstützenden Aussprache bedurfte und seine Sorge, dies noch rechtzeitig und richtig in die Wege zu leiten, wurde begleitet von einem Schattenbild in seinem Inneren, das seinen Sohn Falk darstellte, als er ihn während jener Zeit, als es Falk noch verhältnismäßig gut ging, fotografierte.

Es war damals, als sie mit einander am Fluss waren mit den steinernen Uferbefestigungen in der Stadt, den alten, teils historischen Schiffen, die an den Anlegern festgemacht hatten und Fahrt nur scheinbar aufnahmen, wenn die Tide am Bug Wellen erzeugte, oder am Heck, je nachdem, ob das Flusswasser auf- oder ablief. Falk trug die dunklen Haare lang und lockig, wie es sich für einen Bassisten in einer Heavy-Metal-Band gehörte. Und er wirkte auf diesen Fotos stark und einnehmend in seiner jugendlichen Männlichkeit, wie er mit dem Blick in die Ferne einem klaren, aber unbekannten Ziel entgegen zu gehen schien, während seine Haare von leichter Brise nach hinten geweht wurden. Wären in seinen Augen nicht Verengungen und Grübeleien ablesbar gewesen, hätte dieses Foto durchaus in eine Werbung für ein Jugend-Aktiv-Konto einer Sparkasse gepasst, dachte Brix, und lächelte über seine Neigung zu einer leicht sentimentalen, zugleich aber auch ironischen Ästhetik, mit der er sich sein Leben lang abzuplagen hatte. War dies einer der Gründe, warum er auf der anderen Seite immer wieder zu radikalen Überzeugungen neigte, denen entsprechende Handlungen folgen konnten?

Man führte ihn in Handschellen in den Gerichtssaal. Dabei dachte er an die zwiespältige Aufgabe der Polizisten und Gerichtsdiener, die einerseits die öffentliche Sicherheit zu gewährleisten hatten, andererseits zu jeder üblen Handlungsweise bereit waren, wenn es um die tatsächliche oder nur arrangierte Überführung eines Täters ging. Oder um die öffentliche Sicherheit, wobei von der Antwort auf die Frage, um wessen Sicherheit, um welche öffentliche Ordnung zu wessen Gunsten es ging, das Bild der Polizei geprägt wurde. Mit diesen Gedanken schweifte Brix von dem schwerwiegenden Verfahren gegen ihn ab in Vergangenheiten, die hinter dem spielerischen Übermut jugendlich-revolutionärer Straßenaktionen im Studentenmilieu den bitteren Ernst verbargen, dass nach dem vordergründig aufgeräumten Schweigen über die Verbrechen des NS-Regimes die Väter und Mütter, die diese Verbrechen mitgetragen oder mit begangen hatten, unglaubwürdig waren und die Institutionen ihrer mit Hilfe und im Auftrag der westlichen Siegermächte, insbesondere der Amerikaner, zurecht gezimmerten neuen Republik keine echte Autorität besaßen. Bei aller Marihuana-Anarchie, die sich unter der Wirkung der Beatles, Stones, Doors, Janet Joplins oder Jimmy Hendrix bis in die Kreise junger Lehrer hinein ausbreitete, die bereits die Karriereleiter bestiegen hatten, ging es im Kern um die Orientierung an neuen, glaubwürdigen gesellschaftlichen Perspektiven.

Die Radikalität jedoch, in der die Alternativen diskutiert und als Experiment teilweise auch gelebt wurden, führte zu vielen unerträglichen Überspitzungen. Ein weinendes Kind in einem antiautoritären Kinderladen, Falk, durfte zum Beispiel nicht von Vater oder Mutter getröstet werden, wenn diese an diesem Tag keinen so genannten pädagogischen Dienst hatten und nur irgendeiner organisatorischen Angelegenheit wegen vormittags im „Kinderladen“ vorbei kamen. „Du musst dich an Jürgen wenden, der hat jetzt Dienst und ist für euch da.“

Das Übertreten dieser Regel konnte heftige Diskussionen in der Elternrunde auslösen, in denen mit voller Wucht ganze Gesellschaftskonzepte auf einander prallten. Später, viel zu spät, wie Brix fühlte, quälte ihn das Verlassen elterlicher Spontaneität zugunsten ideologischer Konstrukte, die über die Gefühle der Menschen, die an diesen Experimenten beteiligt waren, erbarmungslos hinweg gingen,

„Angeklagter, sind Sie bereit? Ich verlese nunmehr die Anklageschrift.“ Und der vorsitzende Richter fuhr fort: „Vor dem Schwurgericht ist aus der Untersuchungshaft der Angeklagte Franz Brix, geboren am, in, wohnhaft –und so weitererschienen. Ihm wird die folgende Straftat zur Last gelegt ...“

Brix, der sich schon vor der Verhandlung zu allen Punkten der Anklageschrift für schuldig erklärt hatte, dem ihre Inhalte also bis ins Detail vertraut waren, saß zwischen den beiden Polizeibeamten und überließ sich zufälligen Assoziationen. Sein Anwalt am Nebentisch, ein Mann mit auffallend stark ausgeprägten Schlupflidern, erinnerte ihn wegen eines dadurch mitfühlenden und besorgten Ausdrucks an den heuchlerischen Kondolenzberater in einem Bestattungsinstitut, als es um die Trauerfeier für Falk ging. Die Heuchelei des Trauerfunktionärs wurde aufgedeckt, als sich wegen einer Kontroverse um eine kleine Modalität eines zur Auswahl stehenden Bestattungs-Sets herausstellte, dass die berufsgenossenschaftliche Beschwerdeinstanz, die Brix wegen dieser Kontroverse angesprochen hatte, zugleich die Firma war, die auch dieses Bestattungsinstitut besaß, welches zur Beschwerde Anlass gegeben hatte und dessen Eigentümer eben jene mitfühlenden Augen gehörten.

Brix´ Verteidiger blieb erspart, in irgendeiner Weise heucheln zu müssen, die Unschuld des Mandanten zu beteuern, ihn persönlich aber für schuldig zu halten, da Brix als geständiger Angeklagter in dieser Hinsicht keinerlei Probleme mit sich brachte.

Die Wut über den Tod seines Sohnes hatte Brix nach dessen Beerdigung in eine lauernde Haltung voller Ingrimm versetzt, die Jahre anhielt. Eingesehen hatte er schnell und sich, vor Trauer ausgewrungen, in die Tatsache gefügt, dass alle Beschwerden, Dienstaufsichts- und Fachgutachten über die Erkrankung seines Sohnes und die unbeantworteten zähen Fragen seinen Sohn nicht wieder lebendig machen konnten: Ob dessen letzter freiwilliger Gang in den einzig verbleibenden Ausweg aus seinen Qualen zu verhindern gewesen wäre und ob nicht die Hauptschuld in der fahrlässigen und desinteressierten Betreuung Falks gesehen werden müsse. Oder ob Falk, wenn er dieses eine Mal noch gerettet worden wäre, sich nicht anderntags das Leben genommen hätte.

Der Gelegenheit, die ihm der Zufall in seine bohrenden und zähen Grübeleien hineinspielte, konnte er jedoch nicht ausweichen, selbst nach so vielen Jahren, die inzwischen vergangen waren, nicht.

Eine Gelegenheit, sich auf dämonische Weise zum Vollstrecker eines für ihn schon lange fest stehenden Urteils zu machen und die sich fast unbemerkt in Brixens Gedanken einschlich und ein Teil seines ihm unbekannten Ichs mit Beschlag belegte.

Bei einer Geburtstagsfeier eines Freundes hörte er, wie dessen Frau einen Namen erwähnte, der ihn elektrisierte, Sibylle Jenschke. Nie hatte er ihn je wieder gehört, nachdem er sich von ihm nach dem Tod seines Sohnes Falk bis in Alpträume verfolgt gefühlt hatte und sich von ihm nicht hatte befreien können.

„Was ist mit Sibylle Jenschke, kennst du sie?“

„Ja“, antwortete Odile fröhlich in ihrem französischen Akzent. „Die ist doch bei uns Mitglied und hat bereits bei zwei Stücken mitgespielt.“

Brix erblasste und setzte schnell mit der harmlos klingenden Frage nach:

„Und wie ist sie?“

„Spielt nicht schlecht. Am Anfang war sie ein bisschen zickig, wenn sie nicht gelobt wurde. Bei dem Stück, bei dem ich Regie geführt habe, ging´s aber schon, man muss halt ein bisschen mit ihr reden.“

„Ich meine, wie sie ist, so als Person.“

„Wieso, kennst du sie, warum willst du das wissen, Franz? Du hast dich doch noch nie sonderlich für meine Bekannten interessiert!“

„Ich will nur rausfinden, warum geht jemand zum Theater, spielt auf einer Amateurbühne, was sind das für Leute?“

„Aber du machst doch selbst bei den Schülern die Erfahrung bei deinen Schultheateraufführungen – da gibt es solche und solche.“

„Ja klar, aber in der Schule hat das einen anderen Stellenwert. Das ist ein wunderbares ergänzendes Angebot zur Selbstfindung, das ist es. Die Herausforderungen hier sind kontrapunktisch zum sonstigen Schulalltag, da es hier um Selbstverwirklichung und nicht um Unterwerfung unter irgendwelche beliebigen Bildungs- und Lernanforderungen geht. Sehr wenige bleiben aber dann dabei. Wer später im Berufsleben Theater als Hobby wählt, bei diesen Menschen spielt sich was anderes ab – und das beschäftigt mich.“

Brix gelang es, sich harmlos als theaterpsychologisch interessierten Gast der Geburtstagsfeier zu geben. In Wahrheit arbeitete es in ihm bereits an einem teuflischen Plan.

„Na ja, so als Person würde ich Sibylle nicht zu meinen liebsten Freundinnen zählen“, offenbarte Odile, „aber sie ist eigentlich ganz nett, wie gesagt, ein bisschen zickig manchmal. Aber das bin ich manchmal auch, sagt Ludwig. Oder, Ludwig?

„Ja, das stimmt, bist aber trotzdem mein Schatz“, ergänzte ihr Freund und lächelte ein wenig ironisch zu Brix herüber.

Das Gespräch über Sibylle Jenschke verlor sich im allgemeinen Geplauder, in welchem Brixens anschließendes Schweigen unbemerkt blieb. Er nahm sich noch ein Glas Wein, ging in den Garten, von wo es einen schönen Blick auf das Wiesenland gab, das von jenem kleinen mäandernden Flüsschen begrenzt wurde, an dessen Ufer Wälder von Schilf wuchsen und der Landschaft ihren eigenartigen, bei Wind, der hier fast immer wehte, silbrig rauschenden Reiz gaben.

Theater am Moor, wo Odile seit einigen Jahren mit immer größerer Freude als Schauspielerin und als Regisseurin mitwirkte, da also suchte auch Sibylle Jenschke ihren Ausgleich, ihre Zerstreuung oder ihre gesellige Selbstverwirklichung. Nachdem sie meinem Sohn die Chance, am Leben zu bleiben, genommen hatte, dachte Brix aufgewühlt und das Glas in seiner Hand geriet unter gefährlichen Druck. Immer, wenn ich Falk an den Sonntagabenden in die Klinik zurückbrachte und Sibylle Jenschke Dienst hatte, war sie in dem Pförtnerzimmer nicht vom Fernseher weg zu bringen. Ihre Grobheiten warf sie über die Schulter. Mehr als nur einmal geriet ich mit ihr in Streit. Sie dachte, sie könne sich mir gegenüber als Vormund aufspielen. Sie übertrug ihr herrschsüchtiges Verhalten gegenüber Falk auf mich. Sie machte mir zudem unberechtigte Vorhaltungen wegen diesem und jenem und hat sogar versucht, sich mit Falk gegen mich zu verbünden. „Ihr Sohn weiß das besser als Sie, nicht wahr, Falk? Sie kennen ja die Hausordnung und die ärztlichen Anordnungen, aber Ihr Vater hält sich weder an die Uhrzeit noch daran, dass...“ Ach, es war einfach zu blöde, sich mit ihr auseinanderzusetzen, während Falk völlig unsicher und gequält daneben stand in diesem gnadenlosen Anstalts-Neonlicht in den Fluren und sogar in den Zimmern. Und diese Sibylle Jenschke, die selbst nichts auf die Hausordnung gab und zu Falks und meinem großen Unglück absolut gegen die ärztlichen Anweisungen verstoßen hat, spielt jetzt, als hätte es diese ganzen entsetzlichen Ereignisse nicht gegeben, Theater, waren Brixens Gedanken, denen er immer noch voller Bitterkeit nachhing, während die Anklageschrift gegen ihn verlesen wurde.

Brix hatte sich mit Johannes nach dem Match, das dieser schließlich gewann, für eine Stunde am heutigen Sonntagvormittag verabredet, wo die Alternative zur Teilnahme an einem Gottesdienst zum Beispiel der Aufenthalt im Fernsehraum oder einem verhältnismäßig locker beaufsichtigten Rundgang auf dem Platz mit der ovalen Laufbahn bestand. Wegen der Premiere am frühen Abend waren die üblichen Aufenthalts- und Umschlussregeln für die Mitwirkenden ohnehin mehr oder weniger außer Kraft gesetzt. Das in die besonderen Umstände dieses Tages eingeweihte Personal ließ die Leinen sehr locker und so konnte Brix sich fast ohne Einschränkung mit Johannes treffen und mit ihm ungestört reden. Sie wählten den Rundgang, da die Bewegung manchem schwierigen Gespräche zugutekommt.

„Du hast phantastisch gespielt gestern.“

„Ja, ging, antwortete Johannes, „was ist los, warum wollen Sie mit mir speziell reden?“ Johannes hatte Hemmungen, Brix zu duzen, obwohl Häftlinge untereinander dies eigentlich uneingeschränkt taten. Er fühlte, dass er draußen mit Brix kein Duzverhältnis hätte haben können.

„Dir macht Vanessa zu schaffen.“ Natürlich ahnte Johannes, dass Brix ihn darauf ansprechen würde. Sie liefen nebeneinander die Bahn entlang. Keine Bewachung war zu sehen.

„Ich frage mich, wie du das aushältst.“

Johannes schwieg noch eine Weile, dann brach es aus ihm heraus:

„Die Rollenveränderung war echt gut, aber das Ding ist, wenn sie da neben mir auf der Bühne steht und ich rieche ihr Parfum, und sie fasst mich dann auch noch an, verstehn Sie , dann...ist....“

„Ich will nur nicht, dass du den ganzen Text durcheinander bringst heute Abend.“

„Ich glaube nicht, dass es so schlimm wird wie gestern.“

„Wieso nicht?“

„Weil ich abstumpfe.“

„Aha“, Brix schwieg, „ ja, das ist eine Möglichkeit“, sagte er schließlich mit einem versteckten Schmunzeln.

Das mit dem Umkleideraum weiß er nicht, dachte Johannes, besser, ich erzähl es ihm auch nicht.

„Hast du sie denn schon mal allein getroffen und ihr gesagt, wie es dir geht“, fragte Brix plötzlich. Unsicher antwortete Johannes:

„Ja, nein, eigentlich nicht, es war mehr ein Zufall, und dann hat sie mich in ihr Büro mitgenommen.“

„Und?“ Brix war überrascht.

„Nichts und – sie hat mir geraten, die Sache für mich zu behalten,... sie wusste also...“

„Ohne, dass du was versucht hast?“

„Versucht? Na ja, versucht, ja schon, war aber ein blöder Versuch. Ich war danach so was von sauer auf mich, einfach unerfahren. Ich wollte sie küssen.“

„Oh, ja, dann brauchst du ihr auch nichts vorzumachen, dann seid ihr auf einer Linie, oder?“

„Nur dass sie auf der einen steht und ich auf der anderen Seite, verstehst du, ich meine Sie, verstehn Sie?“ Johannes schien etwas verlegen.

„Ich kriege sie nie!“ kam es aus ihm heraus.

„Weiß man alles nicht so genau“, sagte Brix, „war zum Beispiel mehr als unwahrscheinlich, dass ich jetzt hier bin. Wenn mir das einer meiner früheren Bekannten oder Freunde prophezeit hätte, die meisten Lehrer oder ähnliches, Spinner, hätte ich gesagt, natürlich-“ Brix lächelte etwas bitter.

„Was war denn eigentlich los bei Ihnen“, Johannes blickte ihn mit einem scheuen, neugierigen Blick von der Seite an.

„Ach“, sagte Brix und seufzte tief, „ein andermal vielleicht, ... bitte.“

Nach einigen Schritten, als sie auf Tuchfühlung mit der Gefängnismauer waren, an die sich das Laufbahn-Oval anschmiegte, , fügte Brix hinzu:

„War letztlich auch eine Liebesgeschichte. Aber keine zwischen Mann und Frau, sondern zwischen Vater und Sohn, die tragisch ausging und mich in eine folgenreiche nervliche Krise stürzte.“

Brix konnte sein Herz nicht ausschütten, obwohl er spürte, dass Johannes es vielleicht gewollt hätte, ihm vielleicht sogar geholfen hätte, seinen Tränen, die sich in seinen Augen sammelten, freien Lauf zu lassen.

Gerade als Brix Johannes bedeutete, dass er sich jetzt um die Premiere kümmern müsse und ihm rate, noch ein wenig ins Textbuch zu sehen und die Stimmübungen nicht zu vergessen, mit deren Hilfe Johannes tatsächlich die langen Passagen mit den stimmlichen Extremen zu bewältigen gelernt hatte, kam Vanessa aus dem Gebäude.

„He“, rief sie, „eine letzte Textstunde für Möbius?“

Sie trug einen Trainingsanzug und ein Stirnband. Ihre sportliche Figur wirkte auf Johannes elektrisierend. Er nahm seine Hände aus den Hosentaschen, wusste aber nicht, wie er sie halten sollte und verschränkte sie hinter dem Kopf.

„Ich will noch ein bisschen joggen und hatte meine Turnschuhe hier gelassen, ich Schussel“.

Brix spürte, dass sie ahnte, weswegen er und Johannes hier draußen auf dem Oval waren, statt in einem Gemeinschaftsraum fernzusehen, wie die meisten Insassen am Sonntagvormittag. Er rief zurück:

„Solange Sie nicht ihren Einsatz heute Abend vergessen-„ lachte er, und ahnte, dass die Turnschuhe nur Vorwand waren, ihre Verlegenheit zu verbergen. Sie verließ das Gelände durch eine Pforte, für die Bedienstete einen eigenen Schlüssel besaßen, um lange Wege über Höfe und Flure zu vermeiden. Johannes blickte ihr nach, bis sie hinter der Pforte verschwunden war. Über der Mauer konnte er einige Baumwipfel im jungen Grün sehen. Hätte eine Filmkamera ihn jetzt im Visier, würde sie in einer Nahaufnahme seine gefurchte Stirn als Folge dieses Blicks nach oben zeigen, während die Arme den Kopf eher nach unten drückten.

„Ich glaube, heute Abend wird alles gut laufen, hab´ ich so im Gefühl“.

Brix nahm diese Aufmunterung dankbar auf und schüttelte Johannes Kopf, der seine Arme wieder hängen lassen konnte, freundschaftlich einige Male hin und her, wie es Fußballtrainer gelegentlich mit ihren Spielern tun .

„Bis später dann, Johannes, wir werden sehn!“

Brix hörte die Worte des Richters, aber in Gedanken war er noch immer bei jener Sibylle Jenschke. Sie war eine von jenen unprofessionellen Pflegekräften, die in kurzen Lehrgängen vor allem für Nachtwachen notdürftig auf die Praxis im Umgang mit den Patienten vorbereitet wurden. Nachts waren die Kontakte mit Patienten zwar seltener und so mochte die mangelhafte Ausbildung bei noch geringerer Bezahlung als bei den regulären Kolleginnen statistisch irgendwie gerechtfertigt erscheinen. Dass gerade nachts besondere Krisensituationen entstehen, wenn das Pflegepersonal auf sich allein gestellt mit schlaflosen, unruhigen, von Wahnvorstellungen getriebenen Patienten zu tun hatte, wurde dabei außer Acht gelassen. „Gut, es wird mal vorkommen, dass jemand überfordert ist“, hatte die Pflegedirektion auf einer Personalversammlung eingeräumt, die zu diesem Thema kurz vor den traurigen Ereignissen stattgefunden hatte. „Aber es bleibt ja die Ausnahme, die Patienten schlafen in der Regel, in den meisten Fällen ja auch mit Medikamenten ruhig gestellt. Insofern kann man das vorübergehend auch so akzeptieren. Langfristig bemühen wir uns ja immer darum, auch nachts gutes, qualifiziertes Personal an Bord zu haben. Aus den Rippen lässt sich das allerdings auch nicht schneiden...!“

Falk war an seinem letzten Wochenende auf dem Weg, der nicht mehr rückgängig gemacht werden konnte, aufgrund einer Flasche Bier an einem Kiosk in der Nähe der Haltestelle jener Straßenbahn, die zur Schleuse fuhr, doch noch einmal bei seinem Vater zuhause gelandet. Das Banale, sogar Komische und das Tragische lagen an diesem Wochenende so nahe beieinander, dass diese Betrachtungsweise, dass ein Bier einen furchtbaren Entschluss wieder in größere Entfernung rückt, nicht pietätlos erscheinen lässt. Falk verbrachte das Wochenende bei Brix, war stumm und auf steinerne Weise geistesabwesend. Am Sonntagabend brachte Brix seinen Sohn nicht wie sonst in das Krankenhaus zurück, weil er fürchtete, dass sich Falks Verfassung dort noch verschlechtern würde. Hatte Falk doch voller Bitterkeit berichtet, dass nächtliche Krisen, Angstanfälle und das furchtbare Gefühl des immer größeren Vakuums in seinem Kopf auf Unverständnis und beleidigende Vorhaltungen beim Nachtpersonal gestoßen seien. In diesen einsamsten Stunden, in Nächten ohne menschlichen Halt, ohne jemanden in seiner Nähe, der ihn liebte oder wenigstens mit Wärme ihn und seine Erkrankung ertragen konnte, als Simulant bezeichnet zu werden, gnadenlos der verletzenden Stimme einer selbstgerechten, empathieunfähigen Sibylle Jenschke ausgeliefert zu sein, den weißen Kittel im Neonlicht als einzige, menschenferne Anwesenheit einer anderen Person, die nicht schlief, hinnehmen zu müssen, hatte Falk in Panik versetzt und ihn dazu gebracht, seinen Kopf wiederholt heftig auf die Kunststeinplatte seines Nachttischs aufzuschlagen.

Montagmorgen gelang es Franz trotz fieberhafter Bemühung nicht, einen anderen Ort für Falks betreuungsbedürftigen Aufenthalt zu finden. Wenigstens konnte er schließlich eine kurzfristig stattfindende Konferenz aller beteiligten Pflegekräfte und Ärzte initiieren, von deren Kompetenz und Einsatzbereitschaft Falks Leben abzuhängen drohte. Die Besprechung mündete in eine Verabredung mit Falk, dass er nichts unternahm ohne Absprache mit dem Pflegepersonal, sonst müsse er in die geschlossene, so genannte Akutabteilung zurück gehen, was eine noch bedrohlichere Verschlechterung seines Krankenhausaufenthaltes bedeutet hätte, auf die Falk sich unter keinen Umständen einlassen wollte. Stumm und in sich gekehrt willigte er deshalb in alles ein, was ihm diese Perspektive ersparen würde. Jede halbe Stunde solle nach ihm gesehen und sein Befinden besprochen werden, die regelmäßige Einnahme der nötigen Tabletten würde überprüft und mit seiner Mitwirkung durchgeführt werden. Das Haus dürfe er nur in Absprache und nicht länger als eine halbe Stunde verlassen, wobei sich stets jemand in seiner Begleitung befinden müsse. Da Falk bei dieser Besprechung kooperierte, wenn auch in jener beängstigend abwesenden und steinernen Verfassung, war Brix etwas erleichtert, und er schlug Falk vor, bevor sie sich nun trennen müssten, da er, Brix, nach der jetzt erreichten Aussicht auf Falks allseits akzeptierter intensiver fachlicher Betreuung sich nun seiner beruflichen Tätigkeit zuwenden müsse, noch gemeinsam einen Kaffee oder, für Falk, ein Glas Saft zu trinken, wofür es ein nettes Kaffeehäuschen im Parkgelände des Krankenhauses gab.

Dort stand auch ein Klavier, auf dem Brix etwas verlegen musizierte, aber im Innern froh, dass er Falk nun beruhigt allein lassen könne, und in der Hoffnung, auch Falk damit ein wenig aufhellen zu können. Falk schien ihm, wie immer, wenn Brix Klavier spielte, gerne zuzuhören. Er lächelte sogar ein wenig oder er bemühte sich, so zu erscheinen, das wusste Brix, um seinem Vater eine Freude zu machen. Dann verabschiedeten sie sich und Brix hätte Falk in diesem Augenblick für eine ganze Weile in den Arm genommen. Aber Falk ließ diese Körpernähe immer nur kurz zu und löste sich auch dieses Mal rasch aus der Umarmung. Falk und Brix gaben sich die Hand, dann lief Falk den Kiesweg in Richtung seiner Station, einer alten großbürgerlichen Villa, in der er untergebracht war und Brix blickte ihm nach, bis er winkend im Dunkel der Allee zwischen den Bäumen verschwand. So sah Brix seinen Sohn zum letzten Mal.

Am Abend erreichte ihn der Anruf seiner Frau während einer Schulkonferenz, als er hinter den schlichten gelben Fensterkreuzen des Sitzungsraums die orangefarbenen Blätter fallen sah. Das Krankenhaus frage an, ob Falk bei seinen Eltern zuhause sei. Er sei bisher nicht wieder aufgetaucht, nachdem er das Haus vor zwei Stunden verlassen habe. Sybille Jenschke kannte die Anweisungen, aber hatte Falk trotzdem vergessen, weil ihr das Fernsehen wichtiger war, in dem eine seicht romantische und ebenso blöde Vorabendserie lief.

So kam Falk nie wieder. Nach zehn Tagen, die Franz und seine Familie auf ihn gewartet hatten, fand man Falks Leiche am Ufer des Flusses.

Die Nachricht von diesem schrecklichen Ereignis erhielt Franz von demselben Spezialisten bei der Kripo, der ihm vor wenigen Tagen noch Mut und Hoffnung gemacht hatte. Falk hätte längst gefunden werden müssen, sagte der Beamte, falls er zu dem traurigen Entschluss gekommen wäre, sich an einer bestimmten, besonders gefährlichen Stelle in den Fluss zu stürzen. Diese Stelle an der großen Schleuse galt unter den lebensmüden, verzweifelten Patienten im Krankenhaus als todsicherer Tipp und nur wenige Tage vor Falks Verschwinden war jener Patient dieser Empfehlung gefolgt, in dessen frei gewordenes Bett Falk darauf hin verlegt wurde, so als gäbe es eine geheime Reihenfolge für die Reife zu jenem Entschluss, den man nicht mehr rückgängig machen kann.

Der Beamte machte ein betroffenes Gesicht und händigte Franz im Amtszimmer die wenigen Habseligkeiten aus, die Falk auf seinen letzten Weg mitgenommen hatte, ein paar Geldstücke, die bereits angefangen hatten, die schärfere, skeletthafte Kantigkeit der Reliefprägungen auszubilden, den verwaschenen, aufgeweichten Personalausweis und ein kleines, kaum mehr erkennbares Foto einer gewissen Melanie, von der Franz durch einen der erinnerungswürdigen Anrufe Falks erfahren hatte. Er würde wahrscheinlich Vater werden, meldete Falk, und nach einer kleinen Pause, in der er sich räusperte, fügte er hinzu: „Aber vielleicht nur ein halber.“ Denn Melanie könne nicht sagen, von welchem der beiden möglichen Väter das Kind sei.

Das Schmunzeln über diesen Anruf steckte irgendwo weit unten in Franzens Herz, ein schmerzhafter Kloß im Hals ließ es nicht nach oben kommen und er sah die Sachen aus Falks Taschen vor sich auf dem Tisch, als ob an ihnen lautlose Klagen hafteten.

Als Falk nur noch aus dem Ascheninhalt einer Urne bestand und beigesetzt war, stürzte Franz sich auf diejenigen, die für dieses hemmungslos schmerzende Ende seines Sohnes verantwortlich schienen. Er adressierte eine Dienstaufsichtsbeschwerde an die Gesundheitsbehörde, die, aufgeschreckt durch die Möglichkeit eines dienstlichen Fehlers mit Todesfolgen, ein Gutachten über Falks Todesumstände in Auftrag gab. Darin las er, dass das Verhalten der Síbylle Jenschke an jenem Abend von Falks Verschwinden zwar mangelhaft gewesen sei, sie aber dafür deshalb nicht zur Rechenschaft gezogen werden solle und könne, weil Falks Erkrankung früher oder später in jedem Fall und unabhängig von den Umständen wahrscheinlich zum Suizid geführt hätte.

Der schwere Grad der Schizophrenie, an der Falk erkrankt war, mit der speziellen Komponente der Körperphantasien, die ihn plagten, führe in der Mehrzahl der Fälle in eben diese ausweglose Situation, in der Falk seine letzte Verzweiflungstat beging, um sich selbst los zu werden, weil er es mit sich in seinem Körper nicht mehr ausgehalten habe.

Franz nahm dieses Gutachten mit Erschütterung zur Kenntnis. Er hätte dagegen angehen können, dass jene Frau unbehelligt womöglich weiteren Patienten Schaden zufügen oder sie in den Tod gehen lassen würde, aber er sah ein, dass die Behörde kaum gegen sich selbst und ihre unter ihrer Aufsicht stehenden Beschäftigten im Krankenhaus vorgehen würde, weil sie sich dadurch selbst an den Pranger stellen müsste. Und selbst dann, wenn er einen gewissen Erfolg mit dieser Beschwerde haben und Sibylle Jenschke eine Rüge erteilt würde – zu einem Prozess gegen sie würde es die Behörde nicht kommen lassen. Falk würde bei all dem nicht wieder aus der Asche zurück ins Leben finden.

Also legte er das Gutachten zu all den anderen Dokumenten, die Falk betrafen und versuchte, Frieden zu finden und mit Falks Abschied von dieser Welt zurecht zu kommen.

„Die Premiere“, rief der Richter, „und was ist mit der Premiere?“ Franz schreckte hoch. Jemand hatte an die Zellentür gepocht und etwas von Premiere gerufen oder schlief er noch? Der Schlüssel drehte sich im Schloss und die Tür öffnete sich für Dr. König. Franz hatte sich nur etwas ausruhen wollen und war nach dem Mittagessen in seine Zelle gegangen.

„Brix, die Premiere!“ Der Direktor war aufgeregt, „Sie verschlafen die Premiere, wir dachten, Sie seien längst in der Halle!“

Franz richtete sich gequält auf, murmelte irgendeine Erklärung, während er zum Waschbecken ging, um sich zu erfrischen, sah sich, einen älteren Mann mit zerfurchtem Gesicht im Spiegel, raffte sein Jackett vom Stuhl, mit der anderen Hand griff er nach dem Textbuch mit den Regienotizen und drückte sich an Herrn König vorbei, der ihn mit ungläubigem Blick verfolgte, während er die Zellentür hinter ihm schloss und ihn mit zwei Schritten einholte.

„Haben sie verschlafen?“

„Offenbar, wie spät ist es?“

„Schon nach fünf! Um sieben hatten wir gesagt, ist Einlass.“

„Ja“, räumte Franz ein, „ich bin spät dran. Aber keine Sorge, es ist alles gut vorbereitet – übrigens dank ihrer Mithilfe. Ich darf Ihnen jetzt auch mal ganz herzlich danken, Herr Dr. König, Sie wissen, dass mir das Offizielle bei all dem, was mein Leben zur Zeit bestimmt, ganz und gar fern liegt. Deshalb nehmen Sie hier auf unserem Weg zwischen den verschiedenen Gittertüren und Pforten mit den nötigen Spezialschlössern meinen Dank. Sie haben etwas ermöglicht, was nicht nur zukunftsweisend sein könnte, was den Strafvollzug betrifft, sondern für mich eine Abrechnung mit mir und dadurch hoffentlich einen späten neuen Anfang für mein Leben bedeutet.“

Dr. König begriff zunächst nicht so schnell, während sie beide durch die Flure und Freiflächen zur Halle eilten, dass dies aus dem Mund des Insassen Franz Brix eine kleine Rede speziell für ihn war, die unter anderen Umständen außerhalb des Gefängnisses einem aufrichtigen Schulterklopfen gleich gekommen wäre.

Er sagte:

„Ich wünsche Ihnen viel Erfolg, Herr Brix, und ich bin ziemlich stolz auf Sie und hoffe, dass Ihre Einschätzungen im Hinblick auf den Strafvollzug Recht behalten.“

Die Bewachung der Halle, die sich jetzt in ein Theater verwandelte, da die Aufführung eines Theaterstücks unmittelbar bevorstand, der „Physiker“ von Friedrich Dürrenmatt, jenes Skeptikers und Schwarzsehers, der in die Sammlung seiner grundlegenden Gedanken zum Theater den Satz aufnahm: erst durch die schlechtestmögliche Entwicklung der Ereignisse kommt ein gutes Theaterstück zu Ende - die Bewachung des Theaters also war gegenüber der Generalprobe noch verstärkt worden. Aber heute trugen die Wächter Jackett und Krawatte, wodurch bei manchem der Hals massiger wirkte, da der weiße Hemdkragen ihn eng zusammenschnürte und diese Männer mit roten Köpfen gestresster als sonst erscheinen ließ. Franz musste Spalier laufen, als er durch die Doppelreihe des Personals hindurch die Halle betrat. Die Raumbeleuchtung, Neonröhren an den metallenen Sparren der Deckenkonstruktion, überzog noch alles mit einem kalten, unpoetischen Licht, die Bühnenscheinwerfer waren noch nicht eingeschaltet.

Ein reges Hin und Her zwischen Garderobenraum, der hinter einem Vorhang verborgenen Requisite, dem Nebenraum, in dem die Maske eingerichtet war, und der Bühne empfing Franz und mancher ihm zugeworfene Blick eines oder einer Vorübereilenden schien zu fragen, ob Franz noch irgendwelche Anweisungen geben wolle, da es schon spät sei und die ersten Zuschauer bald eintreffen konnten. Franz ging zunächst zum Sitzplatz der Souffleuse, der seitlich direkt an der Bühne stand, ein Stuhl mit Armlehnen zur Erleichterung des Mitlesens. Hedwig Kastobal, eine erfahrene Sekretärin aus dem Vorzimmer des Direktors, die dankenswerter Weise die beiden Probensouffleure, Irene und Bastian, abgelöst hatte, war bereits anwesend. Sie hatte schon die kleine Klemmlampe an dem überstehenden Brett des Bühnenbodens angebracht und in die geeignete Position gedreht. Franz begrüßte sie aufmunternd und wies noch einmal darauf hin, den Spielern Zeit zu geben, damit Texteinhilfen nicht versehentlich in die so wichtigen, beabsichtigten Sprechpausen platzen. Frau Kastobal war etwas aufgeregt, ihr weißer Rüschenkragen zitterte. Auch für sie war es das erste Mal, dass sie an einer Theateraufführung teilnahm, und dies mit dieser wichtigen Funktion. Durch die Teilnahme an den letzten Proben und intensive Lektüre war sie zwar gut vorbereitet, aber hatte beim Steckenbleiben den Schreck des jungen Möbiusspielers während der Generalprobe noch nicht vergessen.

„Wird schon klappen, Frau Kastobal!“ sagte Franz, als er sich jetzt Orhan zuwandte, der vollständig in der Welt der Kabel und des Scheinwerfermischpults versunken zu sein schien.

„Alles klar, Orhan?“

„Ja klar, was meinst du denn, Herr Brix, hab heut schon dreimal den Lichtplan gelesen, in meinem Kopf.“

„Du kannst alles auswendig?“

„Ja, keine Zeit zum Papier gucken. Das muss alles automatisch gehen, automatisch, verstehst du!“ Orhan war stolz auf sein technisches Einfühlungsvermögen, mit dem er versucht hatte, die Alarmanlage einer Bankfiliale am Stadtrand auszuschalten. Orhans Geschick war sehr gefragt und es brachte ihm den Ruf einer zuverlässigen Stütze der Regie ein.

Franz sah sich um. Die Stühle waren zu ordentlichen Stuhlreihen mit einem Mittelgang zusammengestellt worden. Auf beiden Seiten und an der Rückseite hatte man eine Art Geländer installiert, das den Zuschauern ein wenig das Gefühl vermitteln sollte, sicher vor unverhofften Übergriffen seitens der Mitwirkenden diesseits des Gitters zu sein. Kämen zum Beispiel Richter oder Staatsanwälte in dieses Gefängnistheater, in denen Johannes, Jens, Tomas und wie sie alle hießen vielleicht die Urheber ihrer derzeitigen unerfreulichen Lage erkennen würden, wäre es nicht gänzlich ausgeschlossen, dass jemand nicht die feierliche Disziplin wahren und urplötzlich auf sie losgehen würde. Womit denn auch die Zwielichtigkeit des Eingesperrtseins als einer Maßnahme ins Gespräch kommt, mit der die Menschen ursprünglich gefährliche, aber nützliche Tiere und später Feinde oder so genannte nicht getaufte Wilde, die Ureinwohner Afrikas, zu behandeln pflegten und wohl auch noch pflegen. In zoologischen Gärten ist nicht immer ausgemacht, wer sich gegen wessen Bedrohung hinter Gittern oder Glasscheiben befindet. Mit dieser ironisch eingefärbten Betrachtung kam Franz nicht zum Ende, denn es pulste plötzlich die Gewissheit durch seine Adern, dass in weniger als einer Stunde die bühnenhafte Wiederholung jener bedrängenden Ereignisse beginnen würde, die ihn in Tag- und Nachtträumen verfolgten und unter seiner Regie zu jenem katastrophalen Ende des Stückes führen würde, ganz im Sinne von Dürrenmatts sarkastischer Definition eines „guten Endes“, das er nicht trennscharf von den realen Ereignissen in seinem Leben unterscheiden konnte und um Sibylle Jenschke kreiste, die sich wie in jenem Horrortraum vom mediterranen Berghang immer wieder in die abgestürzte Hanna verwandelte.

Jenes Ende freilich, dessen Gnadenlosigkeit am Schluss des ersten Aktes in der Erdrosselung der Schwester Monika besteht, beinhaltete noch immer die Möglichkeit einer Steigerung des Tragischen, das wie ein dunkel schimmernder Felsbrocken in Brixens Gemüt lag. Ähnlich denen, die an den Klippen, nach langer Vorbereitung durch Wind und Wellen, in die Tiefe stürzen.

Die Bühne stand mitten in der Halle. Die Auf- und Abgänge der Schauspieler hatten die selbe Stahlkonstruktion und kräftigen Wellbleche als Dach über sich wie das Publikum, das bei Blicken während der Aufführung nach oben spüren konnte, wie nüchtern das Innere dieses Raums, der nun ein Theater beherbergte, gegen den Himmel, den Abendhimmel, abgeschirmt war. Manch einen Besucher mochte das beklommene Gefühl beschleichen, nur durch ein wenig Blech und nicht durch eine mächtige, steinerne, mit Gold und Stuck verzierte Gebäudedecke, wie im richtigen Theater, vom Weltall getrennt zu sein, mit seinen unzähligen Sternen und Planeten, die vielleicht in entlegenen Bereichen, Milliarden Lichtjahre entfernten Galaxien bewohnt waren von Lebewesen, die keine Gefängnisse kannten oder die schon nicht mehr bewohnt waren, weil die technischen Errungenschaften, basierend auf intelligenten Einsichten in die Naturgesetze, zur Selbstvernichtung der dortigen Zivilisation geführt hatten. Eben darum ging es ja in diesem Stück, und Franz, der diese Blicke in das Weltall zu den alltäglichen Ungemütlichkeiten seines eigenen Ich-Gefängnisses zählte, hatte nun dafür zu sorgen, dass das Spiel, die Komödie, den in ihr steckenden harten Wahrheitskern der katastrophalen Optionen für die Menschheit an diesem heutigen Premierenabend die Zuschauer möglichst tief unter der Haut erreichte, wenigstens aber unter den Anzügen und Kleidern, die zwar mehr hermachen als Wellblech, aber auch nur eine allzu dünne Hülle darstellen, mit der sich der nackte Mensch gegen das Unbekannte und bedrohliche Äußere abgrenzt und zu schützen sucht. Franz dachte in diesem Augenblick, als er sich dessen bewusst wurde, an die anrührende Szene in jenem schwedischen Kinderbuch, in welchem der Großvater mit den kleinen Enkeln eine etwas waghalsige Bergtour unternimmt, um einen Wolfshund vor Jägern zu retten und das kleine Mädchen auf dem abenteuerlichen Weg seinem älteren Bruder erklärt, dass das Weltall einen Zentimeter über dem Erdboden beginnt.

Dieses bevorstehende Theaterspiel, eine Auszeit im Gefängnis, würde gleich Spielern und Zuschauern Blicke in jenen Bereich des eigenen Erlebens erlauben, der zwar weit entfernt war von der Welt in unserer Wirklichkeit, der unerbittlichen Abfolge von Minuten, Stunden, Tagen und Jahren. Zeit, die nicht zurück gedreht werden konnte mit all ihrem angeschwemmten, teilweise oder ganz missratenem Leben, das hier im Gefängnis seine eigene Geschichte, die Geschichten der Häftlinge, aufarbeiten soll. Aber auch dieses Alltagserleben in Freiheit, das Leben der Nichtinhaftierten ist wie ein Weg am Rande von abbrechendem Gestein, dem er, Franz, nicht ausweichen konnte, als er sich vor dem Abgrund befand damals, als freier, selbstbestimmter Mensch, auf einem kleinen, gelben, namenlosen Stern.

Brix beendete diese Betrachtung, die mit einem Blick zur Hallendecke begonnen hatte, und wandte sich dem Geschehen in Augenhöhe zu.

Großflächige Planen schützten die Schauspieler und die anderen Mitwirkenden, von denen kaum einer ruhig sitzend den Beginn der Aufführung immer näher rücken sah, vor den neugierigen Blicken der nun hereinströmenden Premierengäste. Man sah Damen in gehobener Garderobe, die Frauen und Begleiterinnen der Justiz- und anderer staatstragender Eliten in einem Kammerspiel der Höflichkeits- und Garderoberituale, Trenchcoats, Ledermäntel, Loden. Leichtere und längere Wolljacken wurden mit Körperdrehungen und wechselseitigen Hilfen abgelegt und nach einem Blick in die schmucklose Halle nicht selten wieder angezogen. Die Stuhlreihen füllten sich unter Händeschütteln, gewichtigen und skeptischen bis anerkennenden Mienen. Viele verunsichert, ob Theater in der Haftanstalt die gleichen Inhalte der Smalltalks im Foyer und mit den Platznachbarn erlaubte wie das Staatstheater oder ob es nicht angeraten sei, an diesem Ort die Kommunikation von den Schwaden des eigenen Geltungsbedürfnisses etwas fernzuhalten, jener für kulturell Gleichgesinnte und gleichrangige Bekannte inszenierten Aufgewecktheit. Denn angesichts der nicht zu übersehenden Präsenz der herausgeputzten Wächter und den sonstigen Merkmalen der Gefängnisrealität wollte man nicht gar so aufgeräumtes Theaterpublikum sein. Zuvorkommend wurde nicht nur unter dem Gesichtspunkt der bestmöglichen Sichtverhältnisse Platz genommen, sondern sich hinzusetzen bedeutete heute auch ein Stück Auslieferung an eine Extremsituation im gesellschaftlichen Leben.

Dr. König genoss unterdessen sehr die allgemeine Aufmerksamkeit, die ihm zuteilwurde und die er mit vielen kleinen Hinweisen und Erläuterungen in gut aufgelegter Stimmlage quittierte. Er vermied es jedoch, Brix dieser oder jener Person des wichtigen Lebens jenseits des Gitters vorzustellen, was Franz sehr entgegenkam. Denn er scheute einerseits diese Art der Kontakte, besonders hier, wo er sich nicht zu den wohlanständigen Menschen zählen durfte, die ihre Unbescholtenheit unter diesen besonders theatralischen Umständen genießen mochten. Andererseits war er im Augenblick aber auch mehr als genug mit den letzten Anweisungen und Lösungen allerlei kleiner Probleme in Anspruch genommen. So kontrollierte er die Brille, die Johannes an einer Schnur am Hals hängen haben sollte, erkundigte sich nach dem Zustand der Stimmen, die während der letzten Tage besonders trainiert worden waren, sah nach dem verschnürten Papierstapel, den Monika kurz vor ihrem Ende noch auf die Bühne bringen und auf einen Stuhl legen würde. - „hier sind Ihre Aufzeichnungen“ – damit Möbius sie an sich nehmen konnte, ehe er, an Monikas Leiche vorbei, die Bühne verlassen würde. Franz ließ sich bestätigen, dass die CD mit den verschiedenen Einspielungen von Einsteins Geigenübungen eingelegt war, kontrollierte das Vorhandensein von Colt und Revolver, mit denen sich die beiden Physikeragenten bedrohen, bevor sie erkennen, dass ein Duell angesichts der von Möbius inzwischen verbrannten Forschungsunterlagen nutzlos ist. Selbst der Cognac für den Inspektor, der Handstock der Frl. Dr. von Zahnd sowie das Service, mit dem die Schwergewichts-Box- und Ringmeister als Bewacher der drei Physiker den Tisch für das Abendessen eindecken, waren Gegenstand von Franzens Inspektion, die er sicherheitshalber nicht allein dem als Inspizient eingesetzten Hausmeister des U-Haft-Gebäudes überlassen wollte.

Der Augenblick, wenn das grelle, kalte Hallenlicht erlöschen und die wärmere Beleuchtung des Bühnenraums die Aufmerksamkeit des in vielerlei Hinsicht auf die magische Welt des Theaterspiels gespannten Publikums ziehen würde, kam näher. Johannes saß auf einer Bank im Garderobenraum zwischen den kräftigen Aufsehern, die anstelle der Krankenschwestern, von denen nur Schwester Monika noch am Leben war, den drei Physikern die Mahlzeit auftragen würden. Ihre Leibesfülle ließ Johannes nur noch wenig Platz, so dass es kaum auffiel, dass er aus seiner Nische heraus verstohlen Vanessa beobachtete, die gerade vor dem Spiegel saß, um sich als Frau Missionarin Rose herrichten zu lassen. Ein passendes geblümtes Kleid hatte sie von ihrer Tante beschaffen können. Dazu passte die dunkle weinrote Jacke, deren Schnitt ein Zwischending zwischen Uniformjacke und Blazer war. Gerade der Eindruck von Verkleidung, den Vanessa erweckte, da diese Klamotten zu ihrer Jugendlichkeit und ihrem eher sportlichen Typ nicht passten, verlieh ihrer Erscheinung in Johannes Augen etwas Anrührendes und löste in ihm eine Empfindung aus, die er bisher noch nicht kennen gelernt hatte. Er fand sie komisch, hätte darüber lachen können, und zugleich auf eine Weise anziehend, die etwas Gebrechliches besaß. Er selbst war bereits geschminkt, die Augenbrauen waren dunkler und kräftiger, die Nasenflanken dezent schattiert, der Mund schärfer sowie seine Wangen auf der Grundlage einer fast weißen Grundierung mit ein wenig Rouge und dunklem Braun behandelt, so dass er viel älter und im Sinn dieses schon fortgeschrittenen Alters ausdrucksvoller aussah.

Dass Vanessa jetzt kaum mehr als etwa ein Meter von ihm entfernt am Tisch Platz genommen hatte, der reich bestückt war mit kleinen Hungerstillern, Wasser, Säften und Kaffee, nahm Johannes mit demselben fiebrigen Gleichmut hin, der ihn inzwischen darin unterstützte, die außergewöhnlichen und peinigenden Umstände zu verkraften, die dieses Theaterprojekt für ihn mit sich brachten. Dazu gehörte auf der anderen Seite aber auch das besondere, väterliche und zugleich kameradschaftliche und unaufdringliche Verhalten Franzens, von dem er sich respektiert fühlte, als wäre er sein erwachsener, aber noch im Elternhaus lebender Sohn.

Von den Mitgliedern, die aus der Welt jenseits des Gitters stammten, stießen einige mit halb gefüllten Gläsern, in denen sich offiziell nichts Alkoholisches befinden durfte, auf das Gelingen an und waren ziemlich aufgeregt. Sie verbargen dies jedoch hinter einer unaufhörlich auf kleine Ausbrüche lauernden Heiterkeit, an der sich das Lampenfieber der übrigen Spieler abreagieren konnte. Vanessa trank auch ein wenig und bevor sie das Glas zwischen den Tellern, Tassen und Plastikschalen wieder auf dem Tisch absetzte, prostete sie Johannes fast verstohlen mit einem aufmunternden Blick zu, in dem ein Sympathieflämmchen zu flackern schien, das Johannes Gemüt wie einen Schluck Sekt in sich aufnahm.

Nun ebbte das amorphe Stimmengewirr ab und vor dem Garderobenraum und vor der Bühne trat Stille ein, Dr. König hatte vor der Bühne Stellung bezogen und begann mit zusammengelegten Händen eine kleine Rede:

„Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Mitwirkende, obwohl es alle, glaube ich, kaum mehr erwarten können, dass sich der Vorhang dieser improvisierten Bühne endlich vor dem geneigten Publikum hebt, möchte ich doch einige Worte sagen. Worte des Dankes vor allem, dass Sie, liebe Gäste, den Weg in diese Justizvollzugsanstalt freiwillig angetreten haben, um an diesem - wie ich finde wunderbaren Ereignis - teilzuhaben. Der heutige Abend steht im Zeichen einer neuen Idee, die den Strafvollzug im innersten Kern eben nicht im althergebrachten Sinn als Strafe begreift, sondern als Chance, ein Leben neu zu überdenken und neu zu entwickeln, über das wegen der begangenen Verfehlungen ein Richter nach geltendem Recht hatte bestimmen müssen. Die aktuelle neurologische Forschung wirft die Frage der Schuld, der bisher ein Strafmaß zugeordnet wurde, in sehr grundlegender Weise neu auf und sie scheint nicht mehr so leicht zu beantworten zu sein. Vielleicht wird man bald schon eher von Erkrankung, Missgeschick und Ähnlichem reden und es wird das Problem zu lösen sein, wie die Gesellschaft sich schützen kann, ohne zu verurteilen. Schwerwiegende Fragen, die auch jetzt nicht vertieft werden sollen, um Gotteswillen, nein, aber sie bilden letztlich den Hintergrund für dieses großartige Experiment, nicht nur im Rahmen einer Strafvollzugsanstalt Theater zu spielen, sondern Menschen, die bewacht werden und solche, die ihre Freiheit genießen, gemeinsam an diesem Projekt zu beteiligen.“

Wegen des vereinzelten Applauses, der sich jetzt aber im ganzen Publikum fortpflanzte, unterbrach Dr. König, der Anstaltsleiter, seine Rede. Er nickte mit lebhaftem Rot auf den frisch rasierten Wangen in verschiedene Richtungen, dann fuhr er fort:

„Es ist im Besonderen Franz Brix zu verdanken, der zu den Mitwirkenden diesseits des Gitters und der Absperrungen gehört, dass dieses Stück „Die Physiker“ von Friedrich Dürrenmatt hier aufgeführt werden kann. Unermüdlich hat er sich seit mehr als zwei Jahren dafür eingesetzt. Obwohl seine alltägliche Situation sich hier in dieser Anstalt, sein Haftalltag, nicht all zu sehr von dem aller anderen Häftlinge unterscheidet, ist es ihm gelungen, Kontakte zu knüpfen und Mithäftlinge zur Teilnahme zu motivieren. Gemeinsam mit mir und der Hilfe zahlreicher Menschen außerhalb der Haftanstalt hat er ebenso viele Personen im Umfeld der Anstalt für die Mitwirkung interessieren können...“

Franz hatte spätestens seit der Erwähnung seiner Person aufgehört, der Rede Dr. Königs zu folgen. Voller Schmerz glitten seine Gedanken zu jener Gerichtsverhandlung, die sich immer wieder in seiner traumartigen Erinnerung zurückmeldete,

Gerade befragte ihn der Staatsanwalt:

„Wann sind Sie dem Theaterverein beigetreten?“

„Das war vor zwei Jahren im Frühjahr, April oder März“.

„Aha, da hatten Sie aber noch keine eigenen Pläne!“

„Nein, ich wollte sogar überhaupt nicht spielen.“

„Wieso gehen sie dann in einen Theaterverein, was wollten sie denn dort sonst?“

„Viele Mitglieder in diesem Verein standen und stehen nie auf der Bühne. Abgesehen von vielen Vereinsfunktionen und Aufgaben, die um die Aufführungen herum anfallen, wollen nicht wenige einfach dabei sein, ganz nah am Theaterbetrieb und ihre Garantie auf einen Zuschauerplatz bei jeder Inszenierung wahrnehmen.“

„Und Sie hatten auch nur dieses oder ähnliches vor, wollten also nicht als Schauspieler auftreten?“

„Zunächst nicht, nein.“

„Was wollten Sie in diesem Verein, sagen Sie es uns endlich!“

„Ich wollte dort jemanden genauer kennen lernen“, antwortete Franz nach einem kurzen Zögern.

„Ach so, Sie strebten eine Liebschaft an!“

„Keineswegs, Herr Staatsanwalt und ich verkneife es mir, diese Ihre Mutmaßung zu kommentieren.“

Der Richter unterbrach den Dialog mit der Bemerkung:

„Sie haben hier überhaupt nichts zu kommentieren, Herr Brix! Sie haben lediglich die Fragen zu beantworten, die der Staatsanwalt an sie stellt, und zwar wahrheitsgemäß! Kommentare hören wir am Ende der Beweisaufnahme in den Plädoyers.“

Franz saß unbeweglich im Zeugenstand.

„Also“, begann der Staatsanwalt wieder, „Sie hatten vor, jemanden näher kennen zu lernen:“

„Ja, das trifft zu.“

“Und diese Person war Sibylle Jenschke?“

„Ja, auch das trifft zu. Sie war es, die mich dazu bewog, Mitglied in dem Verein zu werden.“

„Warum?“

„Sie wissen, wer Sibylle Jenschke ist, in welcher tragischen und entsetzlichen Weise sie am Tod meines Sohnes Falk beteiligt war. Wochenlang wüteten während der unerträglichen Tage, in denen Falk vermisst war und per Anzeige in den lokalen Tagezeitungen Hinweise über seinen Verbleib erbeten wurden, Wut und Hass in mir. Ein armer Mensch, der da mit einem kleinen armseligen Passfoto abgebildet wurde. Mein Sohn. In einer Weise, die jedes Merkmal dieses Menschen als Stigma der Verurteilung zu einem schlimmen Schicksal erscheinen lässt. Die geradeaus blickenden Augen eines Passbildes werden zum Symptom einer im Text angedeuteten psychischen Krankheit, der Haaransatz, die schon deutlich sichtbaren Geheimratsecken, werden, zumal bei einem erst Dreißigjährigen, zu Zeichen für einen unsteten, vielleicht mit Ausschweifung verbundenen Lebenswandel und so weiter. Es war ein furchtbares Ende der Beziehung zwischen mir und meinem Sohn. Dann erfuhr ich nach Jahren aus meinem Freundeskreis etwas über Sibylle Jenschke. Es war ein reiner Zufall, dass das Gespräch auf sie als neue Schauspielerin im Theaterverein meiner Bekannten kam. Ich musste immer daran denken und erkannte eines Tages die Gelegenheit, ihr auf eine dem Verein entsprechende Weise näher zu kommen. Irgendwann entschloss ich mich dann, dieser Möglichkeit nachzugehen.“

„Sie wollten ihr also nahe kommen, was wollen sie damit sagen?“

„Trotz meiner Wut und Trauer stellte ich mit der Zeit fest, zumal nach dem Abschluss des Gutachtens zu Falks Krankheit und den Umständen seines unkontrollierten Verschwindens an jenem schrecklichen Abend, dass ich nicht bis an mein Lebensende hinter Gerechtigkeit und Strafe her laufen kann, ohne mich selbst sehr zu schädigen. Stattdessen interessierte mich immer mehr, wer dieser Mensch – damals hätte ich eher von Person gesprochen – war, die so sehr in Falks Schicksal verwickelt war, auch wenn ihre Bekanntschaft und das entscheidende Versagen dieser Frau nur einen kurzen Zeitabschnitt in beider Lebensgeschichte betrafen. Ich wollte mit ihr über Falks Tod sprechen.“

„Und da dachten Sie, als Vereinsmitglied würde sich früher oder später eine Gelegenheit dazu ergeben.“

„Genau dies war mein Gedanke, ja. Ohne einen solchen Rahmen hätte ich mir keine Chance ausrechnen können, dass wir dieses Gespräch führen. Ich hätte die Scheu nicht überwunden, irgendwie anders direkt mit ihr in Kontakt zu treten.“

„Nun gut“, setzte der Staatsanwalt das Verhör fort, „im März oder April vor zwei Jahren sind Sie also dem Verein beigetreten. Berichten Sie jetzt bitte einmal, wie es denn danach weitergegangen ist mit Ihnen und Sibylle Jenschke.“

Franz sah in diesem Augenblick zum ersten Mal, dass der Staatsanwalt offenbar seine schon schütteren Haare gefärbt hatte. Die grauen, fast weißen Ansätze konnte man über den Ohren und im Bereich des Scheitels erkennen und, dass er eine Rolex-Uhr trug, die unter den Ärmeln des Talars hin und wieder aufblitzte. Warum ihm gerade jetzt diese Details auffielen, fragte sich Brix. Er hatte doch auch andere mit den Augen gestreift, wie zum Beispiel die Übereinstimmung der rückwärtigen Wandfarbe, ein gelbliches Grau, mit der Gesichtsfarbe des im Gang stehenden Gerichtsdieners, dem es nicht sonderlich gut zu gehen schien zu dieser fortgeschrittenen Vormittagsstunde. Er schien einen leeren Magen zu haben, wie jener in einer Zwangsjacke vorgeführte Angeklagte in einer Daumier-Karikatur, von denen Brix auf dem Weg zum Gerichtsaal an den Flurwänden eine ganze Reihe hatte hängen sehen. Dem hungrigen Schlucker auf der Karikatur hält der Richter, der sich gerade ein Frühstück schmecken lässt, vor: „Was heißt hier, Sie hatten Hunger? Ich habe auch manchmal Hunger, aber werde ich deswegen gleich zum Dieb?“ War das nicht eine jener Karikaturen gewesen, die uns als das Paradigma der Klassenjustiz erschienen war, dachte Brix und fragte sich dann, von diesem Gedanken an seine und seiner Familie politische Vergangenheit abschweifend, ja wie war es weiter gegangen mit Sibylle Jenschke?

Dabei fiel er in einen seltsamen Dämmerzustand, der ihn nebelhaft an den Zustand erinnerte, der über ihn kam, wenn er als Zehnjähriger Klavierüben musste. Damals konnte er häufig seinen Kopf kaum gerade halten, er wollte ihn auf den Rand des hochgestellten Tastendeckels sinken lassen.

Nun aber riss er sich, in der vorderen Stuhlreihe sitzend, von seinem Stuhl hoch und ging auf die Stelle vor der Bühne zu, wo Dr. König stand und seine Begrüßungsrede gerade beendet hatte. Es war Brix vorher angekündigt worden, dass man von ihm ebenfalls ein paar Worte hören wollte, von einem Häftling, der vor städtischem Publikum eine Theateraufführung erläutert. So wollte es Dr. König haben.

„Also gut“, begann Franz, „ein ungewöhnlicher Augenblick auch für mich. Ich war es einst gewohnt, ein paar Worte zu sagen, bevor meine Schauspieler dann auf der Bühne standen, meist Schüler, wie Sie wahrscheinlich wissen. Dies hier ist etwas anderes, und ich möchte Herrn Dr. König nicht wiederholen mit der Würdigung der Einmaligkeit des Experiments. Es räumt mir persönlich große Chancen ein, das möchte ich hier hinzufügen. Chancen nicht nur im vordergründigen Sinn, wie sie einem Häftling eingeräumt werden mögen, dessen Resozialisierung man im Auge hat. Nein, hier geht es um sehr persönliche Chancen für den künftigen Umgang mit mir selbst und das hat im Grunde mit dem Stück zu tun, das heute aufgeführt werden soll. Natürlich bedeutet dies auch für alle anderen eine Chance, deren Leben hier erst einmal in ein trauriges Szenario geraten ist. Haftanstalten sind, auch wenn der Reformeifer wohltuend durch sie hindurch weht, keine Sanatorien, das werden Sie, sehr verehrtes Publikum, auf dem Weg hierher bis zur Bühne bemerkt haben. Diese Bühne bricht nun für eine ganze Reihe von uns das Prekäre unserer Lage auf, wir können wieder sehen, was in und um uns geschieht. Theater - das wussten schon die Griechen, Sophokles, Aischylos, Euripides und deren Kollegen - hat vor allem auch für die Schauspieler die Wirkung, sich und ihre Umgebung, die Welt mit einem Blick zu betrachten, der Tragik und Komik als Ausdruck ein und desselben erkennt und für das Publikum darstellt. Theater fördert so einen komplexeren Blick auf das Leben in seiner Ganzheit, in dem es mitunter schwer ist, sich nicht zu verlieren, sich überhaupt erst einmal zu begreifen und seinen Weg zu finden. Ganz besonders dieses Theaterstück, Dürrenmatts Physiker, besitzt alles, was gerade auch junge Menschen hineinzieht in die Themen Verantwortung, Wagnis, Widersprüchlichkeit, Doppelbödigkeit, Selbstbehauptung und Scheitern. Es bietet die Chance, selbst daran zu reifen – auch in der kleinsten Rolle, die trotz des tragischen Inhalts nicht selten komödiantische Züge aufweist. Wir werden sehen. Lassen Sie uns jetzt beginnen, ich bedanke mich herzlich für Ihr Kommen und vor allem auch den Externen für die Bereitschaft zur Mitwirkung und wünsche uns allen zwei packende Theaterstunden.“

Applaus, der nur langsam verhallte, als die Hallenbeleuchtung nun ausging und Stille eintrat.

Dann, in langsam hochfahrendem Bühnenlicht, erschienen die Oberschwester Marta Boll und Inspektor Voss auf der Bühne.

„Man darf doch rauchen?“

„Es ist nicht üblich.“

„Pardon“ (steckt die Zigarette zurück )

„Eine Tasse Tee?“

„Lieber Schnaps.“

„Sie befinden sich in einer Heilanstalt!“

„Dann nichts – wie hieß die Schwester?“

„Irene Straub“

„Alter?“

„Zweiundzwanzig. Aus Kohlwang.“

„Angehörige?“

„Ein Bruder in der Ostschweiz“

„Benachrichtigt?“

„Telefonisch“

„Der Mörder?“ -

„Bitte Herr Inspektor- der arme Mensch ist doch krank.“

„Also gut: Der Täter?“

„Ernst Heinrich Ernesti. Wir nennen ihn Einstein.“

„Warum?“

„Weil er sich für Einstein hält“

„Ach so – auch erdrosselt. Eindeutig. Diese Irren entwickeln oft gigantische Kräfte. Es hat etwas Großartiges. Ich finde es unverantwortlich, diese Irren von Schwestern pflegen zu lassen. Das ist nun schon der zweite Mord –“

„Bitte Herr Inspektor!“.

„- der zweite Unglücksfall in drei Monaten in der Anstalt ´Les Cerisiers´ (Er zieht ein Notizbuch hervor) Am zwölften August erdrosselte ein Herbert Georg Beutler, der sich für den großen Physiker Newton hält, die Krankenschwester Dorothea Moser. Auch in diesem Salon. Mit Pflegern wäre das nie vorgekommen.“

Dann berichtet Marta Boll dem Inspektor, dass die zu Tode gekommenen Krankenschwestern Karatekämpferin und Landesmeisterin des Judoverbandes waren und sie selber Gewichtheberin sei.

Der erste Akt nimmt seinen - vielleicht, um das Publikum in die Thematik einzuführen und frühzeitig zum Schmunzeln zu bringen - ein wenig dick aufgetragenen Verlauf, bis schließlich Newton, erkennbar an seiner Perücke, sich auf die Bühne schiebt, um jenen aberwitzigen Dialog mit dem Inspektor Voss zu beginnen, der zu den ersten Lachhöhepunkten führt:

„Ich bin nicht Sir Isaac: Ich gebe mich nur als Newton aus“

„Und weshalb?“

„Wenn Ernesti nun erführe, dass ich in Wirklichkeit ( und nicht er, wie er sich einbildet ) Albert Einstein bin, wäre der Teufel los.“

Und weiter, etwas später- als Einstein:

„Wenn Sie da neben der Tür den Schalter drehen, was geschieht, Richard? (gemeint ist Inspektor Voss, mit dem Ernesti als Newton kaum nach ihrer Begrüßung fast auf Du war ).

„Das Licht geht an“

„Sie stellen einen elektrischen Kontakt her. Verstehen Sie etwas von Elektrizität, Richard?“

„Ich bin kein Physiker“

„Ich verstehe auch wenig davon. (...) so vermag

heute jeder Esel eine Glühbirne zum Leuchten zu bringen - oder eine Atombombe zur Explosion.

Und nun wollen Sie mich dafür verhaften, Richard. Das ist nicht fair. (...) Sie sollten sich lieber selber verhaften, Richard!“

Brix verfolgte mit angespanntem Vergnügen, wie alles wunderbar gespielt wurde und die jungen Häftlinge, die diese Rollen spielten, selbst sichtlich Vergnügen hatten und spürten, wie sie die vorgedachten Inhalte durch ihr Spiel und ihre Sprache lebendig werden ließen .

Dann kam Frl. Dr. von Zahnd auf die Bühne, dargestellt von Renate Nicolai, leicht humpelnd, mit Buckel und Krückstock. Sie offenbarte dem Inspektor den Verdacht, dass der Umgang mit Radioaktivität die Physikerpatienten hat verrückt werden lassen. Voss erfuhr mit Genugtuung, dass nach den beiden tödlichen Ereignissen die Krankenschwestern in eine andere Abteilung des Sanatoriums versetzt und durch Pfleger ersetzt würden, die allen körperlichen Beanspruchungen des offensichtlich gefährlichen Umgangs mit den Physikerpatienten gewachsen seien.

Während dieses Dialogs wuchs die Nervosität, das Lampenfieber Vanessas. Denn gleich würde sie als Frau Rose am Arm ihres neuen Mannes, des Herrn Missionar Rose, die Bühne betreten und die traurige Geschichte der Familie Möbius erzählen, um der Anstaltsleiterin begreiflich zu machen, warum sie sich von Johann Wilhelm Möbius scheiden ließ. Inzwischen hielt Johannes sich bereit, um, leicht geistesabwesend, aus der Tür zu seinem Zimmer zu treten, nachdem Frl. Dr. von Zahnd ihn mit den Worten dazu bewegte: „ Möbius, Sie haben Besuch. Verlassen Sie ihre Klause!“

Da stand er nun vor Aufregung leicht zitternd, die verknitterte und zugeknöpfte Anzugsjacke hing an ihm herunter und die Brille, die so wichtige Brille, wurde von seinen Händen gedrückt und gebogen. Die Nähe Vanessas spürte er so intensiv, als wäre er schon halbwegs ein körperlicher Teil von ihr. Er biss sich auf die Lippen, suchte mit den Augen einen Fixpunkt und spielte auf diese Weise den armen Möbius. Wieder berührte Frau Rose ihren ehemaligen Mann vorsichtig am Arm:

„Du bist doch nicht verrückt, Johann Wilhelmlein.“

„Nein, man hält mich für verrückt. Alle. Auch du. Weil mir der König Salomo erscheint.“

Dabei blickte Johannes derartig verängstigt und zugleich starr in eine unbekannte Welt, dass Viele im Publikum staunende Beklemmung empfanden. Franz blickte nun sorgenvoll mit gefurchter Stirn zusammen gekauert auf seinem Stuhl, auf Johannes. Der Junge war begabt, kein Zweifel, aber diese Leistung hatte er vor allem Vanessas Nähe zu verdanken. Ein Lächeln spielte um Franzens Mund. Wie gern hätte er diese beiden jungen Leute zusammen gesehen! Er würde sich weiter für Johannes einsetzen, damit er die Anstalt stabil und mit Zukunftsaussichten verlassen könnte. In diese Gedanken krachte der Tisch auf die Bühne, den Möbius gerade in seinem Zornesanfall hochgeschleudert hatte, so dass er mit den Beinen nach oben am Bühnenrand landete und es begann der unerhört dynamische, irrsinnige Monolog des Möbius, der Psalm Salomos, an die Weltraumfahrer zu singen, der mit dem grellen Vertreiben seiner Ex-Frau und ihres neuen Mannes, des kreuzbraven Missionars Rose endete, woraufhin Monika, Schwester Monika, ihn von hinten mit sanfter Stimme beruhigte.

„Wir sind allein, ihre Familie hört sie nicht mehr.“

Franz beobachtete mit Hingabe, wie Johannes langsam aus der gespielten Trance seiner wüsten Verfluchungen aufwachte.

MÖBIUS Ach so, natürlich, ich war wohl etwas heftig.

SCHWESTER MONIKA Ziemlich.

MÖBIUS Ich musste die Wahrheit sagen.

SCHESTER MONIKA Offenbar.

MÖBIUS Ich regte mich auf.

SCHWESTER MONIKA Sie verstellten sich!

MÖBIUS Sie durchschauen mich?

Johannes gelang es überzeugend, Möbius wie aus allen Wolken fallen zu lassen.

SCHWESTER MONIKA: Ich pflege Sie nun zwei Jahre.

MÖBIUS (geht auf und ab, bleibt dann stehen) Gut, ich gebe es zu. Ich spielte den Wahnsinnigen.

SCHWESTER MONIKA Weshalb?

MÖBIUS Um von meiner Frau Abschied zu nehmen und von meinen Kindern. Abschied, für immer.

SCHWESTER MONIKA Auf diese schreckliche Weise?

MÖBIUS Auf diese humane Weise. Die Ver gangenheit löscht man am besten durch ein wahnsinniges Betragen aus, wenn man sich schon im Irrenhaus befindet. Meine Familie kann mich nun mit gutem Gewissen vergessen.

Johannes blickte bei diesen Worten schräg nach unten, so als wollte er dies in Gedanken auch seiner Mutter und seinem Vater mitteilen, für den er schon seit seiner Einlieferung ins Gefängnis keinerlei Interesse mehr zeigte.

Der Augenblick war günstig. Salomo hat mir offenbart, was zu offenbaren war, das System aller möglichen Erfindungen ist abgeschlossen, die letzten Seiten sind diktiert, und meine Frau hat einen neuen Gatten gefunden , den kreuz braven Missionar Rose. Sie dürfen beruhigt sein, es ist nun alles in Ordnung.“.

SCHWESTER MONIKA Sie handeln planmäßig.

MÖBIUS Ich bin Physiker. (Er wendet sich seinem Zimmer zu).

SCHWESTER MONIKA Herr Möbius. .

MÖBIUS(bleibt stehen) Schwester Monika?

SCHWESTER MONIKA Ich habe mit Ihnen zu reden.

MÖBIUS Bitte!

SCHWESTER MONIKA Es geht um uns beide.

MÖBIUS: Nehmen wir Platz -

SCHWESTER MONIKA Auch wir müssen von einander Abschied nehmen. Auch für immer.

MÖBIUS( erschrickt) Sie verlassen mich?

SCHWESTER MONIKA Befehl.

MÖBIUS Was ist geschehen?

SCHWESTER MONIKA Man versetzt mich ins Hauptgebäude. Morgen übernehmen die Pfleger die Bewachung. Eine Krankenschwester darf diese Villa nicht mehr betreten.

MÖBIUS Newton und Einsteins wegen?

SCHWESTER MONIKA Auf Verlangen des Staatsanwalts. Die Chefärztin befürchtete Schwierigkeiten und gab nach.

Das von Dürrenmatt hier vorgesehene Schweigen fiel länger aus als geprobt. Oder erschien es Franz nur so, denn er war in Gedanken inzwischen wieder bei seinem Staatsanwalt mit dem gefärbten Haar.

„Wie ist es denn nun weitergegangen mit Ihnen und Schwester Monika? Spannen Sie uns nicht unnötig lang auf die Folter!“

„Schwester Monika? Sie meinen Sibylle Jenschke“. Er hatte sich wohl verhört. „Als ich in den Verein eingetreten war, wurde gerade ein Schwank von Labiche gespielt. Der Florentiner Hut. Meine Bekannte führte Regie und Sibylle Jenschke hatte die Rolle der Hutmacherin übernommen, eine Rolle, die Rita Tushingham oder Audry Hepburn gut hätten spielen können. Die Hutmacherin war verliebt in einen Mann, der sie frühzeitig wieder verlassen hatte und in jene amourösen Verstrickungen um einen Florentiner Hut verwickelt war, dem das beliebte Boulevardstück seinen Namen verdankt. Sibylle Jenschke hatte in dieser Rolle jedoch etwas Starres, Unbewegliches, obwohl sie vor allem in Liebesphantasien in ihrem Hutladen herum hüpfen sollte. Bei der Premierenfeier kam es dann zu einer Begegnung zwischen ihr und mir.“

Franz räusperte sich und fühlte, wie der Blick aller Anwesenden im Gerichtssaal auf ihn gerichtet war, außer dem der Gerechtigkeit an der Wand, die mit verbundenen Augen die Waagschale hochhielt.

„Ich fragte sie mit fast unerträglicher Beklommenheit, jetzt neben ihr am Buffet stehend, ob ihr die Rolle gefiele. Sie antwortete, ohne mich als Falks Vater zu erkennen, da war ich mir sicher, ja, die Rolle sei Klasse für sie. Sie sei zwar noch nicht so weit, wie sie es gerne wäre, lockerer, nicht so eingezwängt in den Text, was ja auch Odile immer sage. Ich schien sie anzustarren, was ihr offensichtlich unbehaglich war. Sie wandte sich ab und stellte sich zu einer anderen Gruppe, während ich am Buffet stehen blieb, sehr mit mir selbst beschäftigt. Die Situation erschien mir unwirklich. Ich hatte das Gefühl, Falk stehe hinter mir mit einem Lächeln, das mich an die Jünglingsfiguren der archaischen Zeit Griechenlands, die so genannten Kouroi, erinnerte.“

Der Staatsanwalt unterbrach:

„Herr Brix, wir haben hier kein kunsthistorisches Seminar. Ich ersuche Sie, Ihre Aussagen auf die Sachverhalte auszurichten, die in diesem Verfahren verhandelt werden.“

Der Vorsitzende nickte bestätigend mit dem Kopf und fügte hinzu:

„Sicher, es gibt hier einiges im Umfeld des Kerns der Anklage zu berücksichtigen und wir können nicht vorher sagen, welchen Raum dies im Verfahren einnehmen wird. Aber dennoch, bitte, Herr Brix, werden Sie nicht zu detailliert. Bitte, wann haben sie das erste Mal über ihren Sohn mit Frau Jenschke gesprochen?“

„Ich habe nur ein einziges Mal, und zwar ganz kurz mit ihr darüber gesprochen, dass sie ihrer Dienstpflicht wohl nicht richtig nachgekommen war, damals, als Falk verschwand. Das war gegen Ende unserer Theaterbegegnung. Und sie blickte dabei in eine fürchterliche Leere, als hätte man sämtliche Telenovelas, mit denen sie sich im Dienstzimmer der Klinik volllaufen ließ, aus ihr heraus geschüttet. Ich verzichtete auf eine weitere Auseinandersetzung mit ihr.“

Franz hatte keinen Anlass, sich nicht wahrheitsgemäß an diese Ereignisse zu erinnern. Aber während er da im Gerichtssaal in seiner letztlich nur ihn betreffenden Angelegenheit sprach, redete, erklärte, fühlte er, wie in seinem Innern diese Wegstrecke, die er vor Gericht gleichsam mit allen Verkehrsregeln und –hilfen entlang fuhr, sich als eine Berg- und Talfahrt mit schwindelerregenden Kurven, Höhen und Tiefen in seinen Gefühlen darstellte. Wie konnte er zum Beispiel von Geselligkeit sprechen, wo diese Zusammenkünfte des Theatervereins ihm keineswegs gesellig erschienen waren. Von der gänzlich ungeselligen Anwesenheit Sibylle Jenschke einmal abgesehen, die stets eine schreckliche Herausforderung für ihn blieb, derentwegen er aber doch in diesem Verein war, kamen ihm auch die vorlauten, selbstgefälligen, in Wahrheit missgünstigen, hämischintriganten und platten Plänkeleien zwischen einem großen Teil dieser Laien- oder von manchen auch Möchtegernschauspieler genannten Darsteller ungesellig vor.

Er musste an das Plätschern einer nach dem Ende eines Regengusses sich entleerenden Pfütze denken, die den Weg von einem höheren Plateau einer Treppenstufe zu einem niedrigeren gefunden hat, mit belanglosen Tropfen am Ende. Wenn die Regie mal eine Idee hatte, die aufhorchen ließ und den muffigen Geruch aus dem Zuschauerraum vertreiben könnte, wurde alles wieder weggesteckt, weil man ja ein Stammpublikum bediente, das mit traditionsorientierten Erwartungen die Treue hielt.

Und wie konnte er sich überhaupt so versöhnlich geben, dass er Sibylle Jenschke nicht in immer schärferen Konturen als Hauptverantwortliche an Falks Tod sah, sondern immer mehr geneigt war, sie lediglich als nicht sonderlich talentierte junge Frau zu betrachten, die im Theaterspiel Selbstverwirklichung suchte, die er ihr sogar gönnte? Hatte er bei dieser Art vereinsgeselligen Umgangs mit ihr vergessen, was ihr Verhalten bewirkt hatte, begann er tatsächlich, ihr Falks Tod zu verzeihen?

„Schwester Monika, ich bin unbeholfen“, hörte Brix Johannes nun sagen und er beobachtete aus der Dunkelheit des Zuschauerraums, wie er die Finger seiner zusammen gehaltenen Hände knetete, „ ich bin unbeholfen, ich verlernte es, Gefühle auszudrücken.“ Johannes rutschte wie vorgesehen verlegen und zugleich unter dem Druck der bevorstehenden Erklärung auf dem Stuhl nahe der Bühnenrampe hin und her.

„Die Fachsimpeleien mit den beiden Verrückten, neben denen ich lebe, sind ja kaum Gespräche zu nennen. Ich bin verstummt, ich fürchte, auch innerlich.“

Johannes machte eine kleine Pause und richtete den Blick ins Leere.

„Doch sie sollen wissen, dass für mich alles anders geworden ist, seit ich Sie kenne. Erträglicher. Nun, diese Zeit ist auch vorüber. Zwei Jahre, in denen ich etwas glücklicher war als sonst.“

Franz beobachtete mit Spannung, wie Johannes hier, am Ende dieses Eingeständnisses, bei dem jeder ahnt, was nun bekannt werden würde, wirklich ganz überzeugend aus dem Überschwang seiner Gefühle heraus fortfuhr:

„Weil ich durch Sie, Schwester Monika, den Mut gefunden habe, meine Abgeschlossenheit und mein Schicksal als – „Verrückter“ – auf mich zu nehmen. Leben Sie wohl.“

Johannes stand auf und wollte ihr die Hand reichen.

Franz Brix hatte ihm eindringlich erläutert, dass an dieser Stelle sich die bedeutende, tragische Wende in dem Verlauf des Stückes ergab.

„Monika ist von jetzt an nicht mehr die pflegerische Hauptperson, die gerade in eine andere Abteilung des Sanatoriums versetzt werden soll. Sie durchbricht verhängnisvoll die Schranken der dienstlichen Ebene und des therapeutischen Auftrags, verstehst du?“

SCHWESTER MONIKA Herr Möbius, ich halte

Sie nicht für verrückt!

MÖBIUS (lacht und setzt sich wieder) Ich mich auch nicht. Aber das ändert nicht meine Lage. Ich habe das Pech, dass mir der König Salomon erscheint. Es gibt nun einmal nichts Anstößigeres als ein Wunder im Reiche der Wissenschaft.

SCHWESTER MONIKA Herr Möbius, ich glaube an dieses Wunder.

Johannes starrte sie fassungslos an:

MÖBIUS Sie glauben?

„SIBYLLE JENSCHKE: „ An den König Salomon!“, murmelte Brix geistesabwesend im Zeugenstand, wobei er zugleich aus der Trance, mit der er der Verhandlung folgte, aufschrak. Hatte er in seiner Erinnerung an diese Textstelle gerade Sibylle Jenschke mit Monika verwechselt?

„Sie meinten jetzt aber Monika Stettler, hab ich Recht, Brix? Sie scheinen ein wenig durcheinander!

Herr Roeder, der Staatsanwalt, richtete nun die Aufforderung an Brix, der in diesem Augenblick noch immer Mühe hatte, aus der Möbius-Rolle heraus zu treten.

„Berichten Sie bitte, wie es zu der Aufführung der Physiker“ im Theater am Moor gekommen ist. Sie waren es doch, der dieses Stück vorgeschlagen hat, oder?“

Franz befand sich in einer Verfassung, in der sich Reales, Erinnertes und Fiktives gemischt hatten. Tatsächlich befand er sich real in der Sporthalle der Justizvollzugsanstalt. Auf der Bühne befanden sich gerade der Häftling Johannes und die Ergotherapeutin Karin Kremer in der Szene kurz vor der Erdrosselung Monikas. Als Franz jedoch dieses Bekenntnis hörte, dass Schwester Monika an den König Salomo glaube, rutschte er in Gedanken wieder in seine Gerichtsverhandlung und er beantwortete die Frage des Staatsanwaltes, die mit einem herausfordernden „Oder?“ schloss:

„Ja, ich hatte die Physiker von Dürrenmatt vorgeschlagen als nächstes Stück, das im Theater am Moor aufgeführt werden könnte. Es war ein spontaner Vorschlag.“

„Und warum haben Sie dieses Stück vorgeschlagen?“

„Weil ich als Deutschlehrer die Erfahrung besaß, dass es für Amateure und Schüler spielbar und inhaltlich noch immer aktuell ist.“

„Ist es aber nicht vor allem so, dass Sie dieses Stück mit besonderer Absicht ins Gespräch bringen wollten?“

Absicht? Franz verfolgte die Szene mit Schwester Monika und Johannes als verzweifeltem Möbius mit dem kritischen Blick des Regisseurs, während hinter seiner Stirn die Frage lauter wurde: Absicht? Wo beginnt eine Absicht? Wann beginnt eine Absicht? Muss man nicht eine äußere und eine innere Wirklichkeit unterscheiden? Die zwar miteinander verwoben sind, aber dennoch ganz unterschiedlichen Bedingungen und Möglichkeiten oder Wahrscheinlichkeiten entsprechen? Welche Absicht verfolgte er in seinem Innern, als er, ein tief trauernder, verzweifelter Vater aus Wut jene Dienstaufsichtsbeschwerde gegen das Krankenhaus und vor allem gegen jene Krankenschwester einreichte, die aller Gefahren und Warnungen zum Trotz Falk gehen ließ, wohin und solange er wollte. War es seine Absicht, dass diese Krankenschwester entlassen werden sollte? Oder wollte er sie vor Gericht stellen lassen wegen fahrlässiger Tötung? War es seine Absicht, sie zu vernichten?

Warum gab er auf und unternahm keine weiteren Schritte, als er feststellen musste, dass das Gutachten zwar aufwendig, aber fragwürdig ausfiel? Dort wurde bei Falk eine Schizophrenie diagnostiziert, die sich in Körperphantasien ausdrückt und häufig eine suizidale Entwicklung nimmt. Aber diese und die Fahrlässigkeit, den Suizid zu ermöglichen oder zu begünstigen, standen ja in keinem zwangsläufigen Verhältnis, so dass der Aspekt der folgenschweren Nachlässigkeit der verantwortlichen Krankenschwester hätte ausführlicher und grundsätzlicher behandelt werden müssen. Aber Franz nahm es so hin, als würden Wut und Trauer die Gerechtigkeit verscheuchen. Oder wurde sie nur eingesperrt in einem inneren Verließ, bis eine Gelegenheit zur Selbstjustiz und Rache kommen würde? Hatten die Verhältnisse in seinem Gemüt diese Gelegenheit nicht erst erschaffen, fragte er sich so, als hätte es einer bestimmten Zeit bedurft, bis Wut und Trauer zu einer Rachegöttin verschmolzen waren, die sich von da an nur darum zu kümmern hatte, aus äußeren Umständen, die für sich betrachtet harmlos wirkten, eine furchtbare Gelegenheit zu machen?

Wo befand sich in diesem Geschehen das moralische Ich, das über Handeln und Nichthandeln, über Sein und Nichtsein entschied? Befand es sich irgendwo, dieses Ich, konnte es sich überhaupt irgendwo befinden? Gab es dieses Ich überhaupt?

Franz trat aus diesen Erwägungen wieder ins Rampenlicht der Ereignisse auf der Bühne. Monika hatte Möbius gerade ihre Liebe gestanden. Und noch war diese schreckliche Warnung: es ist tödlich, an den König Salomo zu glauben und Monicas Antwort darauf: ich liebe Sie, nicht verklungen. Stille herrschte auf der Bühne. Johannes saß wieder als Möbius auf seinem Stuhl nachdem er vor Erregung aufgesprungen war, und blickte zwischen seinen Beinen auf den Boden:

„Sie rennen in ihr Verderben“, sagte er leise und niedergeschlagen.

In diesem Augenblick mochten die Zuschauer ahnen, dass selbst diese Warnung an Monika abprallen, dass auch der Blick auf die Morde der beiden anderen Physiker, die ihre Krankenschwestern umgebracht hatten, Monika unbeeindruckt lassen würde, weil sie nicht erkennen sollte, in welcher großen Gefahr sie sich befand. Das Publikum verfolgte mit großer Anteilnahme, wie Möbius versuchte, noch einmal als letztes Mittel gegen die tragische Zwangsläufigkeit das tödliche Ende der Liebesaffären ihrer Kolleginnen zu beschwören, die ihren Mördern vor der Tat auch ihre Liebe erklärt hatten:

„Schwester Monika, Sie haben mir ihren Glauben und Ihre Liebe gestanden. Sie zwingen mich“ – und Johannes betonte das Wort sehr, genau so, wie Franz es ihm verständlich und vorgemacht hatte - „Sie zwingen mich, Ihnen nun auch die Wahrheit zu sagen. Ich liebe Sie ebenfalls, Monica, “ - Monica starrte ihn an - „mehr als mein Leben. Und darum sind Sie in Gefahr, weil wir uns lieben!“

Warum entsetzte Monika sich nicht angesichts der ungeheuerlichen Warnung, dass Liebe und Tod auf einander zu folgen hatten, wenn ein Wert auf dem Spiel stand, von höherem Rang als individuelle Liebe – die Rettung der Menschheit? Ahnte sie nicht, dass ihre Mitwisserschaft von der Tarnung Möbius als Verrückter die dramatischsten Folgen haben musste, und dass es Möbius mit der Tarnung des Verrückten, dem Salomo erscheint, nicht nur darum ging, seine Familie zu schützen? Diese beklemmende Frage erfüllte nun die gespannte Stille, die jedes Räuspern in diesem kargen Gefängnistheater hörbar werden ließ. Später würden die Zuschauer erfahren, dass diese anrührende Liebesgeschichte einer einsamen, mütterlichen und naiven Krankenschwester, die alles daran setzen will, mit dem genialen Physiker Möbius die Anstalt zu verlassen und sorgende Ehefrau an seiner Seite zu werden, nichts anderes war als die heimtückische Intrige des Frl. Dr. von Zahnd, auch Möbius zum Mörder werden zu lassen, um auch ihn, vor allem ihn, dem sie seine physikalischen Geheimnisse durch heimliches Kopieren seiner Manuskripte entrissen hatte, für immer im Gefängnis mit der Fassade eines Sanatoriums einzusperren.

Allen Beschwörungen des Möbius zum Trotz steigerte Karin Kremer alias Schwester Monika ihr Liebesbekenntnis zu dem Wunsch, mit ihm schlafen und ein Kind von ihm haben zu wollen.

Franz hatte sich gegen Bedenken des Anstaltsleiters durchsetzen müssen, auch diese Szene ohne Einschränkung mit dem Text Dürrenmatts zu spielen. Johannes erwies sich jedoch als reif genug, sie in den Proben ohne Peinlichkeit zu spielen. Das Wichtigste, was er dabei zu lernen hatte, war, die Äußerungen von Monikas Liebesaffekt in Gedanken nicht heimlich auf Vanessa zu übertragen. Dass er dies dennoch tat, jedoch auf eine noch heimlichere, ihm selbst verborgene Weise, war für Franz kein Geheimnis, da er es in all den zurückliegenden Probenwochen verstanden hatte, sich in Johannes hinein zu versetzen.

In Johannes, der ihn in so vielen Dingen an Falk erinnerte, Falk, der nicht mehr lebte, weshalb Franz diese Premierenszene mit Monika und Möbius wie durch einen schweren Vorhang hindurch erlebte, diese Premiere, in der er sich selbst sah in der Rolle des Möbius, als er sie im Theater am Moor gespielt hatte.

„Und wie kam es, dass sie die Rolle des Möbius übernahmen und Frau Jenschke die Rolle der Monica?“, hörte Franz den Staatsanwalt fragen. „Es hat sich so ergeben, es war keine Absicht.“

„Wie, Sie haben nichts vorgeschlagen hinsichtlich der Rollenbesetzung?“

„Nein, ich habe ja nicht Regie geführt, sondern war im Theaterverein noch eine kaum bekannte Person. Man wusste zwar, dass ich als Lehrer Theateraufführungen betreute, aber nicht, für welche Rolle ich jemanden als geeignet betrachtete. Der Besetzungsvorschlag kam von der Regisseurin, einer älteren Dame, die durch ihren damals schon verstorbenen Mann, einem Regisseur am städtischen Theater, über einige Erfahrungen zu verfügen schien.“

„Und die wählte Sie für die Rolle des Möbius aus?“

„Nein, sie hat mich nicht ausgewählt, sie bat mich inständig, die Rolle zu übernehmen. Sie hatte schon früher ebenfalls den Vorschlag gemacht, die “Physiker“ aufzuführen, war aber vor allem wegen der Schwierigkeit, den Möbius zu besetzen, gescheitert.“

„Was ist denn an dieser Rolle so schwierig?“, erkundigte sich der Staatsanwalt, der offensichtlich im Kreuzverhör der Beweisaufnahme darauf hinaus wollte, Franz ein erheblich absichtsvolleres Handeln anlasten zu können.

„Es geht hier um eine Menge Text“, antwortete Franz, „und stets handelt es sich um doppelbödigen Text oder um solchen mit mehr als zwei Bedeutungsebenen. Daraus ergibt sich die Schwierigkeit einen Subtext zu finden, der über Betonung, Zeitmaß, Stimmfarbe, Gestik und so weiter entscheidet.“

„Das klingt jetzt sehr nach Fachsimpelei, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, Herr Vorsitzender, ich möchte einfach wissen, wie Sie zu dieser Rolle des Möbius gekommen sind, Herr Brix. Gut, Sie haben sich angeblich nicht selber vorgeschlagen. Dies wird in der weiteren Zeugenvernehmung zu prüfen sein. Aber wie kommt es, dass Frau Sibylle Jenschke die Monika spielte? Ich kenne mich ja auch ein wenig in diesem Stück aus, also wie kam es?“

„Dazu habe ich nichts zu sagen, Herr Staatsanwalt. Sie wurde wohl gefragt und hat zugestimmt.“

Franz war die Besetzung wie eine traumatische Fügung erschienen. Ein schwerer Druck begann sich in seinem Innern zu entwickeln, der sich damals immer häufiger in nächtlichen Schlafstörungen bemerkbar machte. Warum hatte er nicht eine Umbesetzung angestrebt, als er nach mancher Probe zitternd und mit kaltem Schweiß auf der Stirn den Heimweg antrat, oft mit dem Fahrrad, was wegen der langen Strecke durch die nächtliche Vorstadt, über lange Asphaltwege zwischen den weiten Feldern des Wiesen- und Weidelandes und schließlich durch ein Stück Wald, ehe wieder Straßenlaternen die Führung bis nach Hause übernahmen, zu seiner Beruhigung beitrug. Nach der Rückkehr hatte er sich häufig mit einer Flasche Rotwein von den epischen Arrangements eines Jazz-Saxophonisten fort tragen lassen in eine Klangwelt, die sich wie eine weite Landschaft vor ihm ausbreitete. Wie hätte er eine Umbesetzung der Rolle der Schwester Monica begründen sollen?

Und dann stand plötzlich die Premiere vor der Tür, eine furchtbare Premiere. Franz hatte hart an sich und mit sich gearbeitet. Die Texte saßen. Die Rollenpräsenz eines in sich zerrissenen, äußerst bewusst handelnden Physikers, dessen Verantwortungsbewusstsein ihn hatte zum gespielten Verrückten werden lassen, der sich in seiner seelischen Einsamkeit so sehr die Wärme einer liebenden Zuwendung gewünscht hatte, diese aber nun selbst inszenieren musste, um den einzigen Menschen von sich fern zu halten, ja zu vertreiben, der diese Zuwendung verdient hätte und in ihm wohl auch hervorrief. Diese komplizierte Rolle hatte er erarbeitet und bewegte sich mit seinem angenommenen, brüchigen Ich auf der Bühne, als wäre es seine eigene Existenz. Er hatte trotz aller entgegengesetzten Vorstellungen, Absichten und Erwartungen sogar eine gewisse Nähe zu Sibylle Jenschke entwickelt, die sich ihm jetzt, nach der verdrängten Panik der ersten Probenmonate, nähern durfte, ohne dass er Hass wegen Falk gegen sie spürte. Er ließ sich von ihr sogar seine Hände auf ihre Brüste legen, als sie dieses schamlose Ich will mit Ihnen schlafen sagte, ... jedoch spürte er, wie sich unter ihm ein riesiger Krater zu bilden begann, in den er zu stürzen drohte und die fahrlässige Krankenschwester mitreißen würde.

SCHWESTER MONIKA: Liebst du mich denn gar nicht?

MÖBIUS: Ich liebe dich Monica, Mein Gott, ich liebe dich, das ist ja das Wahnsinnige.

SCHWESTER MONIKA: Wir dürfen heiraten!

MÖBIUS: Mein Gott!

SCHWESTER MONIKA: Fräulein Dr. Von Zahnd hat schon alles geregelt. Sie hält dich zwar für krank, aber nicht für gefährlich und für nicht erblich belastet. Sie selbst sei verrückter als du, erklärte sie und lachte.

„Das ist lieb von ihr“, kam es aus der trockenen Kehle des Möbius, der von Johannes in einer Weise gespielt wurde, dass die Doppelbödigkeit den Zuschauern unter die Haut zu gehen schien – so angespannt waren ihre Gesichter.

SCHWESTER MONIKA: Ist sie nicht ein prächtige Mensch?

MÖBIUS: Sicher

SCHWESTER MONIKA: Johann Wilhelm! Ich habe den Posten einer Gemeindeschwester in Blumenstein angenommen. Ich habe gespart. Wir brauchen uns nicht zu sorgen. Wir brauchen uns nur lieb zu haben.

MÖBIUS: (hat sich erhoben. Im Zimmer wird es allmählich dunkel).

SCHWESTER MONIKA; Ist es nicht wunder bar?

MÖBIUS: Gewiss.

SCHWESTER MONIKA: Du freust dich nicht.

MÖBIUS: Es kommt so unerwartet.

SCHESTER MONIKA: Ich habe noch mehr getan.

MÖBIUS: Das wäre?

SCHWESTER MONIKA: Mit dem berühmten Physiker Scherbert gesprochen.

MÖBIUS: Er war mein Lehrer.

SCHWESTER MONIKA: Er erinnerte sich genau. Du bist sein bester Schüler gewesen.

MÖBIUS: Und was besprachst du mit ihm?

SCHESTER MONIKA: Er versprach mir, deine Manuskripte unvoreingenommen zu prüfen.

Franz hörte den arglosen Klang der Stimme jener Bereitwilligen jenseits des Gitters, die die Schwester Monika noch naiver spielte, als Monica es nach der Vorstellung Dürrenmatts vielleicht zu sein hatte. Welche ungeheure Spannung der Autor damit erreichte! Franz fühlte jedes Mal beklemmend, wie Monika mit jeder Enthüllung ihrer Vorbereitung für den Beginn des normalen Ehelebens, in das sie sich und den dann berühmten Physiker Johann Wilhelm Möbius hineinträumte, ihrem sicheren Ende entgegen schlitterte. In der Rolle des Möbius hatte Franz diese Unausweichlichkeit als einen kaum mehr erträglichen Druck auf sein Gemüt gespürt und musste doch bis zum bitteren Ende den Psychopathen spielen, der - unter dem Einfluss König Salomons, wie er später gegenüber dem Kommissar beteuerte - dieses Ende nicht mehr aufhalten konnte – außer durch das Beenden seines Rollenspiels mit der Preisgabe seiner verheerenden physikalischen Entdeckungen, die das Ende der Menschheit bedeuten würden, falls sie in deren Hände fallen würden.

MÖBIUS: Sagtest du ihm auch, dass sie von Salomo stammen?

SCHWESTER MONIKA: Natürlich.

MÖBIUS: Und

SCHWESTER MONIKA: Er lachte. Du seiest immer ein toller Spaßvogel gewesen, Johann Wilhelm! (…).

Johannes starrte zum Fenster hinaus, das als Rahmenkonstruktion ohne eigentliche Wand seitlich die Bühne begrenzte. Er dachte in diesem Augenblick an seinen Kumpel von der Gefängnisfarm, der sich bei einer der nachfolgenden Aufführungen unter den Zuschauern befinden und sich vielleicht fragen würde, an was er, Johannes, in diesem Augenblick denken könnte.

Außerdem war er sich bewusst, dass Vanessa, jetzt befreit von dem Druck, noch einmal auf die Bühne zu müssen, da sie ja bereits als Frau Rose mit ihrem Missionar endgültig abgegangen war, ihm gerade zuschauen würde und sich vielleicht fragen würde, ob er, Johannes, alt genug sei, die Rolle in diesem und den weiteren dramatischen Augenblicken zu spielen, ganz zu schweigen von der Rolle, die er in ihrem Leben gerne spielen würde.

Franz hatte als Möbius hier auch aus dem Fenster gestarrt. Der Staatsanwalt sollte ihn später in der Gerichtsverhandlung fragen, ob er in diesem Moment bereits wusste, was er in wenigen Minuten tun würde. „ Nein“, hatte Franz klar und unmissverständlich geantwortet, obwohl ihm natürlich bewusst war, was der Text des Stückes und der Handlungsablauf von ihm verlangte.

SCHWESTER MONIKA Liebster

MÖBIUS Geliebte

SCHWESTER MONIKA Bist du nicht froh?

MÖBIUS Sehr

SCHWESTER MONIKA Wir müssen nun deine Koffer packen. Acht Uhr zwanzig geht der Zug. Nach Blumenstein. (Sie geht ins Zimmer Nr. 1)

MÖBIUS Viel ist es ja nicht.

SCHWESTER MONIKA (kommt aus dem Zimmer mit einem Stapel Manuskripte): Deine Manuskripte (legt sie auf den Tisch) Es ist dunkel geworden.

MÖBIUS Die Nacht kommt jetzt früh.

SCHWESTER MONIKA Ich mache Licht. Dann packe ich deinen Koffer.

MPÖBIUS Warte noch, komm zu mir.

Franz spürte, wie es um ihn immer dunkler wurde. Die Scheinwerfer des Theaters am Moor wurden herunter gefahren.

Er zitterte und weinte. Sein Sohn Falk stand vor seinen Augen, lächelnd, wie fast immer, wenn er an ihn dachte. Wie fast immer, wenn er da war.

Johannes spürte, wie ihn Frau Kremer als liebende Monika sanft an der Wange berührte, während sie sich an ihn schmiegte.

SCHWESTER MONIKA Du hast Tränen in den Augen.

MÖBIUS Du auch.

SCHWESTER MONIKA Vor Glück.

Johannes nahm das Gesicht Monikas zwischen seine Hände, ließ sie, wie geübt, langsam nach unten gleiten, während er sich so drehte, dass man von Monika fast gar nichts mehr sehen konnte, da er, den Rücken den Zuschauern zugewandt, vor ihr stand.

Jetzt erreichte er mit seinen Händen ihren Hals und spielte, dass er ihre Gurgel zudrückt, während er sich leicht hin und her bewegte. Man hörte ein Stöhnen, konnte hören, wie ihr die Luft weg blieb, wie sie in Panik geriet und versuchte, Möbius‚ Hände auseinander zu reißen. Aber es war schon zu spät, in diesem Augenblick erschlaffte Monikas Körper und glitt, von Johannes vorsichtig gestützt, damit Frau Kremer sich nicht verletzte, zu Boden.

Franz keuchte, der Lichtkegel aus einer Tür fiel durch die Dunkelheit auf die am Boden liegende Sibylle Jenschke.

Newton trat aus der Tür:

„Was ist geschehen?“

Franz antwortete wie in Trance:

„Ich habe Schwester Monika Stettler erdrosselt.“

Mit dem Bündel seiner Manuskripte, die er von dem verloren da stehenden Stuhl genommen hatte, verließ er die Bühne.

Im Foyer, wo er bis auf Frau Libau allein war, die als nicht auf der Bühne beschäftigtes Vereinsmitglied an der Bar bereits Vorbereitungen für die unmittelbar bevorstehende Pause traf, Sekt- und Bierflaschen bereitstellte und einige Flaschen Rotwein entkorkte, wobei sie Franz einen wohlwollenden, vielleicht sogar ein wenig verliebten Blick zuwarf, klingelte sein Handy in einer Tasche seines Mantels, den er wie immer in der allgemeinen Garderobe aufgehängt hatte.

«Brix, ... ach,… Hanna, du bist es? Ja, die Pause beginnt gerade. Was? Was ist geschehen? Oh... ja Hanna, .... natürlich, ich komme sofort, warte“, er blickte auf seine Armbanduhr, die er während seines Auftritts ebenfalls in der Manteltasche aufbewahrte, „gegen halb zwölf kann ich bei dir sein.“

Aus Zimmer Nr.2 erklingt Musik.

Newton: Da geigt Einstein wieder. Kreisler. „Schön Rosmarin“ (Er geht zum Kamin und holt den Kognak.)

Während die Zuschauer, die heute die Sitzreihen des Theaters am Moor füllten, mit den Pausengetränken in den Händen in einem angeregten Stimmengewirr schwelgten, blieb die Bühne, vom Vorhang verdeckt, dunkel und einsam. Nur Monica befand sich noch dort, wo Möbius sie sanft an seinem Körper herunter gleiten ließ und sie auf den Boden legte.

Als Johannes die Bühne verlassen und Newton, mit dem Kognakglas in der Hand, einen Toast auf die gerade erdrosselte Schwester Monika Stettler ausgebracht hatte, die noch immer am Boden lag, erhob sich Dr. König im aufbrandenden Applaus während des fallenden Vorhangs und ging zu Franz. Er wollte der Erste sein, der ihm, einer spontanen Eingebung folgend, gratulieren wollte, so sehr hatte ihn dieser erste Akt der „Physiker“ beeindruckt. Franz stand von seinem Platz auf, als er den Gefängnisleiter kommen sah, der ihm bereits seine Rechte entgegenstreckte.

„Großartig, phantastisch, Herr Brix!“ Der stand da und ließ sich die Hand schütteln. Aber er spürte, dass er sich in rasender Geschwindigkeit vom Ort dieses Geschehens entfernte. Er sah das Hallenlicht, das für die Pause inzwischen wieder eingeschaltet worden war, aber er nahm nur Dunkelheit war. Dann sackte er plötzlich in sich zusammen und stürzte zu Boden.

Die junge, sportlich wirkende Frau wendete den Brief, den sie gerade aus dem Briefkasten geholt hatte, mit der linken Hand hin und her, während sie mit dem rechten Arm ihre kleine Tochter wiegend an sich drückte.

„Wer ist das denn?“, fragte sie auf dem Weg durch den Flur zum Wohnzimmer, das zur Küche hin offen war, mit einem Tresen als Verbindung zwischen beiden Wohnbereichen. Dort saß ein Mann, Mitte dreißig, groß, schlank, mit einem an diesem Tag noch nicht rasierten Bartwuchs. Er hatte ein Buch auf seinem leger übergeschlagenen Bein platziert, aus dem er mit seltsamen Betonungen halblaut las.

„Für mich?“ fragte er, abwesend aufblickend. Er wirkte jünger als die Frau, die den Brief noch immer interessiert musterte.

„Der Brief kommt aus Mallorca“, rief sie erstaunt mit einem Quäntchen Ironie in der Stimme.

„Mallorca? Vielleicht ein Engagement als Clubentertainer – nein danke!“ Der Mann blickte wieder in sein Buch. Offenbar war er damit beschäftigt, etwas auswendig zu lernen.

“Kennst du jemanden auf Mallorca?“, fragte sie.

„Gib mal her“, sagte er und machte gegenüber dem Kind ein Clownsgesicht mit einem Piepser aus den zusammengepressten Lippen. Er wiederholte den Absender:

„Mallorca, Artà. Keine Ahnung, mal sehen.“

Er nahm sich aus der Schublade am Tresen ein Messer und öffnete damit den Brief.

„Artá , den 25. September 2009

Liebe Vanessa, lieber Johannes, begann er zu lesen.

“Mensch, Vanessa, das ist doch---„

Vanessa hatte das Baby unter ein Greiftrapez gelegt, bestückt mit bunten Ringen und Kugeln, wo es jetzt herum hampelte. Sie setzte sich auf einen Stuhl neben Johannes.

„Franz Brix? Der Regisseur aus der Haftanstalt? - Das ist ja irre - welche Überraschung!“

Johannes las weiter vor:

„Wir haben uns ganz aus den Augen verloren, wie schade! Es war schön, euch als Paar kennen zu lernen - lange, sehr lange ist das jetzt her, dass wir uns begegnet sind.

Nun, wo in meinem Leben eine gewisse Ruhe eingekehrt ist und ich über vieles nachgedacht habe, kommt ihr mir oft in den Sinn.

Aber anders als vorher, als es bei mir drüber und drunter ging, eigentlich in jeder Hinsicht. Ich möchte euch gerne wieder sehen. Vielleicht ergibt sich dazu auch eine Gelegenheit, davon später. Lasst euch erst einmal von dem berichten, was inzwischen geschehen ist, und wie ich für mich verarbeitet habe, was ich von euch, von eurem Leben gehört habe. Erlaubt mir, dass ich dazu ein wenig aushole“.

Johannes hielt inne und sagte:

„Ich glaube, das ist tatsächlich der Franz“, und blätterte den Brief weiter bis zur letzten Seite. „Franz Brix, der Regisseur, der nach dem ersten „Physiker“-Akt zusammengebrochen ist!“

„Wahnsinn“, rief Vanessa aus. „Wie lang ist das her?“

„10 Jahre, oder nein, fast vierzehn“, antwortete Johannes. „Und obwohl er für mich damals so wichtig war, hab ich dann irgendwann aufgehört, an ihn zu denken“, murmelte er nachdenklich. Er deutete auf das Textbuch, das er inzwischen auf den Tresen gelegt hatte. „Hat´ne große Rolle für mich gespielt, - und war weg aus meinem Kopf!“

„Haben wir Zeit, den Brief zu lesen oder heben wir`s uns auf“, fragte Vanessa und berührte Johannes´ Arm, ehe sie ihn zu sich heran zog und lange in ihre Arme schloss, während sie das Kind am Boden beobachteten.

„Ich bin zu neugierig, was er schreibt, wir fangen erst mal an, gib her, du liest mir zu schauspielerhaft.“

„Also –!“ protestierte Johannes in gespieltem Affekt und gab Vanessa den Brief. Sie setzten sich beide auf den Boden vor die spielende Lorena.

„Ich fange bei euch beiden an. Als ich mich von dem Herzinfarkt einigermaßen erholt hatte, war Johannes schon draußen. Ich konnte gar nichts mehr unternehmen, um ihn, wie ich es vorhatte, zu fördern. Umso zufriedener war ich, als ich von Dr. König, dem engagierten Direktor der JVA, die Nachricht erhielt, dass Johannes nach seiner Entlassung zielstrebig das Abitur machte und an einer Schauspielschule angenommen wurde. Mich hat das sehr bewegt, Dr. König berührte die Nachricht ebenfalls sehr, denn sie war für ihn mit Recht ein Beweis dafür, dass es sich lohnte, die Haftanstalt als Bildungseinrichtung zu verstehen und Experimente zu wagen. Vanessa verließ ja schon kurz nach den „Physikern“ das Gefängnis und von ihr hörte man zunächst gar nichts mehr. Ich machte mir in dieser Zeit gewisse Sorgen, dass wir, sie und ich, damals zu wenig mit einander gesprochen haben. Wir wussten ja nichts von einander, was zum Teil aber auch von Dr. König so gewollt war. Ich wollte Vanessa unbedingt als Monika sehen, sie ist dann aber eben eine eindrucksvolle Frau Rose geworden. Die Gründe, weshalb Johannes diese Änderung der Rollenbesetzung wollte, haben sich inzwischen ja glücklich bestätigt, wie ich - auch von Dr. König – erfahren habe: ich gratuliere euch ganz herzlich zu eurem Kind und wünsche ihm und euch alles, alles Liebe! Wenn ihr mir verzeiht, dass jemand, den ihr vielleicht schon längst vergessen habt, mehr oder weniger ein Fremder also, sich so familiär äußert! Von eurer sehr anrührenden Liebesgeschichte habe ich schon früher gelegentlich Nachricht erhalten – man war mir ja wohlgesonnen, und nach der „Physiker“- Aufführung hatte ich viele Informanten: die Nicolais, Tina Jansen, Frau Kremer, Herr Roeder, Orhan und so weiter- ihr werdet euch kaum noch an die Personen erinnern, die damals als „Externe“ mit dabei waren. So erfuhr ich kurz nach meinem Wiederauftauchen in der Haftanstalt, dass Vanessa sich um Johannes und dessen Entlassung gekümmert hatte. Und das hat mich alles überaus gefreut und glücklich gemacht. Dass Johannes wahnsinnig in dich, Vanessa, verliebt war, wusste ich ja. Was zwischen euch in der Anstalt geschah, während oder am Rand der Proben und Aufführungen, ahnte ich und Johannes hat dieser Verliebtheit auch den großartigen Einstieg in die Bühnenwelt mit zu verdanken. Er konnte Empfindungen mobilisieren, über die er ohne Verliebtheit vielleicht nicht verfügt hätte. Dass Vanessa für dich, lieber Johannes, so viel übrig hatte, dass ihr ein Paar werden konntet, obwohl die Umstände eurer Begegnung kaum ungünstiger hätten sein können, erfüllt mich mit sehr großer Freude. Und darum wird es Zeit, dass ich euch endlich verrate, warum. Zugleich komme ich damit zu mir, zu meinem Leben – ich hoffe ja, dass wir uns bald ausführlich über alles unterhalten können!

Ein Grund für meine Freude an euch liegt in meiner Geschichte, einer sehr, sehr traurigen und bitteren, die ich damals in der JVA, als Johannes mich darauf ansprach, was eigentlich mit mir los sei, ihm nicht anvertrauen mochte aus Gründen, die ihr verstehen werdet.

Um es kurz zu machen: ich hatte einen Sohn, der im Alter von 29 Jahren diese Welt freiwillig verlassen hat, Falk. Er war ein liebenswürdiger, sensibler Mensch mit angenehmem Äußeren, der bei vielen Menschen sehr beliebt war.

Trotzdem kam er mit sich selbst leider immer weniger zurecht. Er war krank, litt an Schizophrenie, was wir, seine Eltern, erst erfuhren, als er schon tot war. Nun, gelegentlich mehr davon, wenn ihr wollt, heut nur dies: Johannes hat mich stets sehr an Falk erinnert, obwohl er ihm vielleicht nur aus meiner Sicht ähnlich war. Johannes, du warst – und bist – deshalb für mich ein bisschen wie ein Sohn, mit allem Vorbehalt, dir nicht zu nahe zu treten mit meinen Gefühlen, die mich diese Ähnlichkeit sehen lassen.“

Vanessa unterbrach das Vorlesen und blickte zu Johannes, der etwas unsicher seitlich an sich herunter auf den Dielenfußboden sah, wo eine Fuge direkt in Lorenas Öhrchen hineinzulaufen schien, wäre da nicht das Schafsfell gewesen, auf dem das strampelnde Baby lag. Sein Gurren und Glucksen erfüllte jetzt die Pause, in der Vanessa und Johannes von dieser bisher unbekannten, rührenden und traurigen Verwandtschaft erfuhren, die Franz zwischen seinem Sohn und Johannes stiftete. Vanessa begann wieder zu lesen:

„Falks Schicksal hatte mich aus der Bahn geworfen. Mehr, als ich mir anfangs eingestehen wollte. Heimlich gab ich mir die Schuld an Falks Tod, weil ich mir nicht sicher sein konnte, dass Erziehungsfehler und Elternhauskonflikte nicht vielleicht zur Verschlimmerung, wenn nicht sogar zum Ausbruch seiner Krankheit geführt haben. Aber verantwortlich dafür, dass Falk die psychiatrische Klinik, in der er betreut wurde, zu jenem Ausflug verließ, von dem er nicht wiederkehrte, mache ich eine Krankenschwester. Sie hatte Abenddienst und vergaß Falk. Sie ließ es zu, dass er sich an diesem Abend das Leben nahm. Trauer und Wut habe ich seitdem eingekapselt. Die Trauer kommt manchmal zu mir, das lasse ich zu, während die Wut mir gelegentlich Alpträume beschert.

Einen solchen Traum hatte ich in mehreren Abschnitten während der Arbeit an den „Physikern“ in der Haftanstalt. Mir träumte, dass ich vor Gericht gestanden habe und deswegen zu einer langjährigen Gefängnisstrafe verurteilt worden bin, weil ich jene Krankenschwester auf der Bühne eines Amateurtheaters erdrosselt habe als sie und ich bei einer Aufführung der „Physiker“ mitwirkten. Sie spielte die Schwester Monika und ich den Möbius. Der Traum war in allen Details realistisch genug, um bei mir selbst immer wieder Zweifel aufkommen zu lassen, ob sich nicht alles tatsächlich so zugetragen hat. Die Spannung und Zerrissenheit, der ich immer stärker ausgesetzt war, je näher die Premiere im Gefängnis kam, waren schließlich fast unerträglich. Denn ich wünschte mir insgeheim, es wäre so gewesen, wie mir träumte – es war ein Rachetraum, in den ich mich da in der Einsamkeit des Gefängnisses hineinsteigerte. Ich dachte, ich werde verrückt und wünschte nachts gelegentlich, während ich schlaflos auf meiner Pritsche lag und aus dem Fenstergitter auf die winzigen Sterne blickte, ( irgendwo, um einen namenlosen gelben Stern kreist, sinnlos, die radioaktive Erde, wisst ihr noch? ), also ich wünschte mir, König Salomo würde mir erscheinen und mir sagen, was ich zu tun, oder in diesem Fall besser: zu glauben hätte.

Der Zusammenbruch nach dem ersten Akt war, glaube ich, die Konsequenz aus dieser wochenlangen Anspannung. Aber es kann auch sein, dass der Stress, der den Infarkt vorbereitet hat, diese Panikphantasien gefördert hat.

Schon früher litt ich bei Stress gelegentlich unter ähnlichen Bewusstseinsstörungen, auch tagsüber. Ich konnte zeitweilig Traum und Realität nicht unterscheiden und geriet in große Bedrängnis, wenn ich bei der Bemühung, meinen Kopf zu ordnen, zu klären, was real und was fiktional ist, immer wieder von geträumten oder - im Wachzustand eher von eingebildeten - Sequenzen irritiert, gleichsam überrollt wurde.

Vanessa wird einiges aus meiner tragischen Geschichte kennen, sie hatte ja Zugang zu den Prozessakten, zu denen auch die Gutachten über meine Bewusstseinsstörungen gehören.“

Hier hörte Vanessa auf zu lesen, weil sie sich an den Häftling Franz Brix aus der Sicht ihrer damaligen dienstlichen Tätigkeit erinnerte. Es war Dr. König, der sie inständig gebeten hatte, nein: sie beschworen hatte, die Akte nicht zu lesen. Dr. König hatte sie auch zur Teilnahme an dem Theaterprojekt gedrängt, mit der Versicherung, dass man von Brixens Tat nicht negativ auf seinen Charakter schließen und insbesondere nicht an seiner Befähigung zur Realisierung des Projektes zweifeln dürfe. Er, König, lege die Hand für ihn ins Feuer. Zumal es seiner, Brix, bedürfe, was die ehrgeizigen Reformpläne im Strafvollzug beträfe. Vanessa hatte sich schließlich tatsächlich dazu durchgerungen, die Akte nicht zur Kenntnis zu nehmen, da sie dienstlich mit dem Fall Brix nicht direkt zu tun hatte. Von den anderen Bediensteten, die ihr hätten berichten können, worum es bei Franz Brix gegangen war, wurde sie nicht ins Vertrauen gezogen. Wahrscheinlich hatte Dr. König dafür gesorgt, dass dieser Fall Brix mit einer besonderen Diskretion behandelt wurde, wie sie für die Rolle, die er in den ehrgeizigen Plänen des Dr. König spielen sollte, erforderlich war.

Vanessa suchte nun Johannes’ Blick und mit längeren Unterbrechungen des Nachdenkens, nach Worten, um ihm in der richtigen Weise zu vermitteln, dass und warum sie über Franz Brix nichts wusste oder bisher nichts erzählt hatte.

„Johannes, - du wusstest nicht, dass Franz wegen eines Tötungsdelikts einsaß.“

„Kriegt man sonst zehn Jahre oder mehr?“

„Nein, ich glaube nicht. Also, jetzt darf ich, muss ich sogar darüber sprechen. Ich war zutiefst betroffen, als ich später, kurz nach der „Physiker“-Aufführung und dem Herzinfarkt von Dr. König erfahren habe, dass Franz“, – Vanessa stockte-, „dass Franz eine Frau getötet hat. Ich war geschockt, wollte nichts weiter davon wissen, und...“

„Was?“ entfuhr es Johannes, „Monika?“

„Nein.“

„Oh“, stöhnte Johannes, dem das Klappern der Ringe an Lorenas Spieltrapez in diesem Augenblick zu lustig erschien. Vanessa hatte Tränen in den Augen, die Johannes ihr mit seiner Hand abwischte. Dabei sah er in seinem Kopf eine Szene bei der am Ende ein junger Kerl mit grüner Strähne im Haar am Boden lag und wie sich die Häuserfassade hinter ihm in einer fahl beleuchteten Blutlache spiegelte. Er drückte sich an Vanessa.

„Warum“, fragte er mit belegter Stimme.

„Ich weiß es nicht“, antwortete Vanessa und strich ihm über sein Haar. „Ich wollte nur weg von diesen Ereignissen um Franz Brix. Sein Geheimnis wollte ich nicht nur aus Neugier lüften. Dienstlich hatte ich nichts weiter mit ihm zu tun. Mir ging es darum, dich möglichst schnell aus dem Knast zu kriegen.“

Sie drückte ihn fest an sich, während Lorena wieder Gurrlaute von sich gab.

„Wir lesen den Brief später weiter, weil“ -, sie machte eine verlegene Pause, „ich muss mich jetzt um Lorena kümmern. Und du solltest deinen Text lernen, um drei Uhr hast du Probe!“

„Ja“, sagte Johannes grübelnd, „du hast recht. Vielleicht erfahren wir später mehr darüber.“

Als er wieder vor seinem Text saß, nicht mehr so leger wie vorher, sondern aufrecht, mit parallel auf dem Boden stehenden Beinen, hochkonzentriert, schoben sich die Textstellen des Johann Wilhelm Möbius vor seine Lektüre.

Wir dürfen uns nicht von Meinungen bestimmen lassen, sondern von logischen Schlüssen. Wir müssen versuchen, das Vernünftige zu finden, wir dürfen uns keinen Denkfehler leisten, weil ein Fehlschluss in die Katastrophe führen müsste. Was war mit Franz Brix geschehen, den er zwar über die Jahre vergessen hatte, aber jetzt, wo er sich seiner wieder erinnerte, ihn wie damals verehrte, weil er stets das Vernünftige dachte oder zu denken schien und das Richtige tat oder zu tun schien, besonnen in der gemeinsamen Gefängnis-Zeit, nachdem er, Johannes, sich selbst nicht besonnen verhalten und Falsches getan hatte mit schlimmen Folgen.

Vanessa wickelte Lorena und dachte auch an Franz Brix. Wie alt mochte er sein, Siebzig, vielleicht noch nicht ganz? Sie erinnerte sich daran, dass sie abends nach einem Film auf Video, der von der Liebesgeschichte zwischen altersunterschiedlichen Partnern gehandelt hatte, in besonderer Weise an Franz denken musste, auch neugierig, etwas über den Grund seiner Gefängnisstrafe zu erfahren. Sie hatte das dann einfach ausgeblendet, wie Dr. König es ihr dringend nahe gelegt hatte.

Abends saßen Vanessa und Johannes wieder zusammen. Sie hatten ein kleines Abendbrot gegessen, nachdem Lorena im Bettchen lag und schlief. In ihren halb geleerten Bierflaschen auf dem Tisch funkelte die September-Abendsonne und verlieh ihnen eine Würde, die Bierflaschen eigentlich nicht zukommt. Neben ihnen lag der Brief von Franz Brix.

„Soll ich jetzt weiterlesen?“, fragte Vanessa und leckte mit ihrer Zunge ihr Blättchen ab, das sie nun geschickt an die trockene Rolle drückte, aus der ganz schnell zwischen ihren zierlichen Fingern eine Zigarette wurde.

„Ja“, antwortete Johannes, „lies weiter.“

„Vielleicht habt ihr gar nicht mehr an mich gedacht, warum auch. Aber ich stelle mir vor, wie ihr, während ihr meinen Brief lest, über mich sprechen werdet - jetzt habt ihr es vielleicht gerade getan.

Deshalb möchte ich euch also anvertrauen, was euch meine Stressgefühle, meine inneren Peinigungen verständlicher machen wird.

Was geschehen ist, habe ich ohne den geringsten Hass auf irgendjemand getan. Eher aus Liebe. Und das ist das Furchtbare, dass Liebe oder das, was man dafür hält, bisweilen zu tödlichen Verhängnissen führt und zu den schrecklichsten Taten, auch wenn man sie im Augenblick des Geschehens vielleicht für unvermeidlich oder sogar für edel hält.

Ich möchte gern, dass ihr beide wisst, was damals geschah, und vor allem warum – wenn ich es erklären kann. Ich versuche es, weil ihr beide für mich junge Leute seid, für die ich Empfindungen habe, ähnlich wie zu eigenen Kindern. Aber ohne dass ihr mit derlei Offenbarungen belastet werdet, wie es bei eigenen Kindern der Fall wäre, wenn ich wirklich der Vater wäre.

Es geht um eine ältere Schauspielerin, mit der mich eine innige Freundschaft verbunden hat. Sie war todkrank. Eines Abends – es war der Premierenabend jener „Physiker“-Aufführung, die den realen Hintergrund für meine peinigenden Wahnvorstellungen bildete, rief sie mich an.

Es war in der Pause nach dem ersten Akt. Ich hatte gerade in der Rolle des Möbius mit Schweißtropfen auf der Stirn die Bühne verlassen, als in der Garderobe das Telefon klingelte. Ich hörte ihre schwache, röchelnde Stimme. Sie war in einer schrecklichen Gemütsverfassung und bat mich, gleich nach dem Ende der Vorstellung zu ihr zu kommen. Als ich bei ihr eintraf und sie mir auf ihrem Bett liegend mit sehr leiser Stimme offenbar mit großer Kraftanstrengung zurief, ich solle hereinkommen, die Tür sei offen, und ich zu ihr ans Bett trat, auf dem sie als Häuflein Elend lag, trug sie mir ohne Umschweife inständig eine Bitte vor. Sie bat mich, zu dem sie sehr großes Vertrauen hatte, um nichts weniger, als ihr Sterbehilfe zu leisten, und zwar hier und gleich. Zunächst war ich geschockt, hatte die Ereignisse auf der Bühne - gerade eben - noch nicht verarbeitet und konnte eigentlich noch an nichts anderes denken. Ihre Gegenwart erfüllte, so hinfällig sie bereits auch war, den Raum. Ich schob alle Bedenken zur Seite oder besser gesagt: etwas sehr Bestimmendes in mir tat dies, ohne dass ich daran richtig beteiligt war, wie ich diffus bemerkte. Ich spürte, dass es in dieser Situation außer mir niemanden gab, an den sie sich hätte wenden können in ihrer Not.

„Hilf mir bitte“, sagte sie und legte ihre abgemagerten Hände auf meinen Arm. Ich wusste, dass jedes Hinauszögern einer Entscheidung in diesem Augenblick zu einem Ende unserer Freundschaft und zu einer unübersehbaren Verlängerung ihres elenden Zustands führen würde, den sie nicht mehr ertragen wollte.

Dann handelte ich.

In ihrer Küche fand ich eine Flasche Bier. Ich füllte ein Glas und trank den Rest der Flasche. Dabei musste ich an Falk denken, der sein Leben mit einer Flasche Bier für ein Wochenende verlängert hatte, weil er, als er das Bier getrunken hatte, seinen Plan zunächst aufgab, sich umzubringen. Dann ging ich ins Bad, suchte und fand Schlaftabletten. Dabei traf ich auf mein Spiegelbild. Es war noch immer als Möbius geschminkt. Ich betrachtete es und dabei musste ich an Sibylle Jenschke denken, jene für Falks Tod mitverantwortliche Krankenschwester, die mich später bewog, dem Theaterverein, in dem sie schauspielerte, in der Absicht ebenfalls beizutreten, mit ihr über ihr Verhalten im Zusammenhang mit Falks Tod ins Gespräch zu kommen. Als Möbius hatte ich sie gerade auf der Bühne erdrosselt, da sie, ohne meinen Einfluss, die Rolle der Schwester Monika spielte. Nach der Aufführung war ich schnell aufgebrochen, für den Schminktisch hatte ich keine Zeit, zumal der stets von vielen Mitwirkenden am Ende der Vorstellungen umlagert war.

Die Tabletten lösten sich schnell auf, wobei sie nur unmerklich die Schaumkrone vergrößerten. Hanna nahm das Glas mit einem dankbaren und glücklichen Lächeln, leerte es und legte sich zurück auf ihr Kopfkissen. Sie betrachtete mich mit ihren dunklen Augen, die tief in den Höhlen lagen.

„Danke Dir, Franz“, hauchte sie.

Ich hielt ihre Hand, bis sie eingeschlafen war. Ich wollte fortgehen, das Licht löschen und nach Hause fahren. Aber ich durfte es nicht, irgendetwas hielt mich zurück. Es war der Gedanke, dass ich nichts, weder ihr klägliches Überleben, noch ihr Sterben dem Zufall überlassen durfte. Um das letzte, das Sterben, hatte sie mich gebeten. Ich löschte das Zimmerlicht und setzte mich wieder auf die Bettkante. Das Licht der Straßenlaterne warf seltsame Schatten vom Astwerk vor dem Haus an die hohe Decke. Dass ich hier saß, am Rand ihres Bettes, neben der Leidenden, die jetzt tief zu schlafen schien, war eine Art Antwort auf meine Frage, was sie mir bedeutete. Ich spürte, dass ich nunmehr eine weitere Entscheidung treffen musste. Mir war nicht gut und kalter Schweiß bildete sich auf meiner Stirn. Ich musste jetzt handeln. Ich konnte nicht einfach fortgehen. Es war unmöglich. Was hätte ich tun sollen?

Da nahm ich wie in Trance, so als hätte dies jemand anders für mich entschieden, ein Kissen, das am Bettrand lag, und drückte es, nach einem kurzem, eine ganze Ewigkeit dauernden Zögern und nach einem letzten Blick auf Hanna der Todkranken auf das Gesicht. Nach einer kurzen Weile merkte ich ihr Aufbäumen, dann atmete sie nicht mehr.

Ich nahm das Kissen und drückte es instinktiv auch gegen mein Gesicht, als könnte ich so an den qualvollen letzten Sekunden ihres Lebens teilnehmen, und weinte. Dabei hatte ich das Gefühl, als stünde Falk jetzt hinter mir, ohne Anklage. So, als könne er mich trösten, wenn nicht eine durchsichtige Wand zwischen uns gewesen wäre. Ich blickte auf die tote Freundin. Ihre Augen waren geschlossen, ihr Mund angespannt. Ich rieb mit beiden Händen zitternd und vorsichtig ihre Wangen, wodurch die Spannung aus ihren Lippen zu weichen schien. Dann erhob ich mich, betrachtete sie ein letztes Mal und verließ, äußerlich ruhig, das Zimmer. In der Küche schrieb ich auf der Rückseite eines leeren Briefumschlags:

„Hanna ist gestorben“, die Uhrzeit und das Datum. Ich nahm den Brief, löschte überall das Licht, und klemmte beim Schließen der Wohnungstür den Umschlag so ein, dass man ihn vom Treppenhaus aus sehen konnte. Ich verließ das Haus, fuhr nach Hause und legte mich ins Bett. Doch an Schlaf war nicht zu denken. Im Dämmerlicht des sich ankündigenden Morgens betrachtete ich meine Frau neben mir. Ich sah zu, wie sich ihr Körper unter der Decke bei jedem Atemzug hob und senkte. Es durchströmte mich ein Gefühl innigster Zuneigung. Zugleich aber erfasste mich ein Gefühl der Verzweiflung und ich zitterte am ganzen Körper. Leise erhob ich mich wieder, raffte ein paar Sachen zusammen, schrieb in unserer Küche einen Gruß, mit ein paar Worten eine Erklärung, und verließ das Haus in Richtung Flughafen. Mit Glück konnte ich ohne längeres Warten ein Flugzeug nach Mallorca besteigen. Dort blieb ich bis zu meiner Festnahme...“

Johannes und Vanessa schwiegen, als sie das Lesen unterbrach und den Brief wieder auf den Tisch gelegt hatte. Die letzten rötlichen Sonnenstrahlen, die in die Küche fielen, trafen die aufgehängten Löffel, Siebe und Reiben über einer meerblau schimmernden Arbeitsfläche. In diesem Augenblick meldete sich Lorena aus dem Bettchen im Nebenzimmer. Sie schluchzte wie aus einem Traum heraus, der in kleinen Seelchen manchmal aus den noch namenlosen Eindrücken ein beängstigendes Schattenspiel künftiger Wirklichkeiten formt. Vanessa ging hinüber und holte das Baby aus dem Bettchen. Der lange Schlafsack baumelte wie der unausgefüllte Teil einer Verpuppung herunter. „Ach Lorenchen, mein armes kleines Kokonchen, was hast du denn?“ fragte Johannes. Vanessa reichte sie ihm zu und Johannes griff das kleine Wesen unter den Ärmchen und zog es zärtlich an sich. Dabei glitt der Schlafsack so über Vanessas Bierflasche, dass sie umfiel und sich der Inhalt über den Tisch und damit auch über Franzens Brief ergoss.

„Ups!“

Das Abtupfen und Wischen nützte nicht mehr viel, der Brief, in dem Franz Brix seine Geschichte erzählt hatte, war vom Bier durchnässt und weitgehend unleserlich geworden. Die Tinte verlief und löste Worte und Sätze auf.

Beim Erwachen verfolgte Franz blinzelnd die fließenden Konturen der seichten, den Strand hinauf züngelnden Wogen, bis sie kurz vor seinen Füßen im Sand versickerten, so dass nur ein dünner Saum aus Schaum übrig blieb.

Franz lag auf seinem Handtuch am Strand der Cala Mesquida. Während seines Schlafs war die Sonne aus den Wolken wieder aufgetaucht und hatte die schwüle Luft mit stechenden Strahlen aufgeheizt. Nur dürftig geschützt durch einen halb ins Gesicht gezogenen Leinenhut, war er schlafend der Hitze fast eine Stunde ausgesetzt, ehe er erwachte. Als er sich auf seine Ellenbogen aufrichtete, fühlte er sich benommen und hatte Kopfschmerzen. Er blickte auf die heran rollenden Wogen, als wären sie Bestandteil jenes gerade abgerissenen Hitzetraums, dessen Realismus und Detailreichtum ihn erschütterten. Er fühlte sich dieser Welt in seinem Innern wie äußerlich der Sonne so ausgesetzt, als wäre er in einem dieser Llaut genannten kleinen Fischerboote weit draußen im Meer, nur von der Dünung der Wassermassen umgeben.

„Ofele zän, wenn er doch lebte“, hatte er vor mehr als fünfzig Jahren in der Schule gelernt, wie das Wort Katharsis, zwei der wenigen altgriechischen Brocken, die noch nicht verloren waren in jenem Meer, das aus Vergessen bestand und selbst die Erinnerung an Falk verschlingen würde. Wenn er doch lebte. Falk, sein Sohn, dessen Tod in sein Leben dieses Loch gerissen hatte, in dem alles zu verschwinden, in das von den Rändern her alles einzubrechen drohte, so dass die Wege dort gefährlich waren.

Franz erhob sich schwerfällig, schüttelte sein Handtuch aus, zog sich seine Hose an, deren Beine durch eine leichte Brise ein wenig um seine Knöchel flatterten, und beobachtete, wie immer, wenn er seinen Strandaufenthalt beendete, das Treiben im flachen Wasser. In der nun sinkenden Sonne schimmerten die Körper eines sportlichen Paares, das eine kleine gelbe Kugel aus Hartgummi mit pfannengroßen Schlägern hin- und her schlug. Das Geräusch der aufschlagenden Kugel wurde jedes Mal vom Sand und der Brandung verschluckt, registrierte Franz. Daneben stand ein schon älterer Mann ohne Badehose in den seichten Wogen, der seine angewinkelten Arme seitlich eingestemmt hatte und den Horizont fixierte. Kinder lebten auf, da die Hitze jetzt abgenommen hatte, und schleppten mit hellen Sonnenhüten Wasser herbei, um den eingegrabenen Vater, von dem nur der Kopf aus dem Sand herausguckte, in eine Schlickmumie zu verwandeln.

Als Franz alles in seiner Tasche verstaut hatte, machte er sich wie stets mit einem letzten Rundblick auf den Weg in Richtung jenes ehemaligen Wehrturms mit der alten Seeräuberkanone auf der Dachterrasse, von wo man einen „phantastischen Blick auf die Steilküste des Cap Formentor und bei schönem Wetter eine Sicht bis nach Menorca genießen kann“, wie es in einem der zahllosen Reiseführer hieß.

Während er am felsigen Meeressaum entlang trottete und es seinen Füßen überließ, den Weg zwischen den Steinen zu finden, wurde Franz Brix vom Ungetüm erhitzter Bilder verfolgt. Immer wieder sah er dieses Kissen vor sich. War es nicht schon in jener „Physiker“-Aufführung in seinem Kopftheater aufgetaucht, am Ende des ersten Aktes, neben Sibylle Jenschke als erdrosselte Schwester Monika? Schob es sich in diese Szene, weil der Regisseur dieses Traumtheaters auch der Traumdeuter war? Diese Frage hing in seinen benommenen Gedanken bis er sein Zuhause erreichte, eine für eine unbestimmte Zeit gemietete abgelegene Finca, wo Franz es sich wie stets nach der Rückkehr vom Strand mit einer Flasche Rotwein bequem machte. Er blickte lange auf die Hügelkette, die als zarte, blauviolette Fläche vor dem kühlen Orange des Abendhimmels stand.

Als die Nacht herein brach, entzündete er die Kerze in einem hohen Glasgefäß, so dass man von weitem sah, dass jemand zuhause war, und schrieb einen Brief an Johannes und Vanessa mit einer Einladung, ihn zu besuchen.

Danach ging er ins Innere des Hauses und kam nach einer Weile mit einer dünnen verschnürten Mappe wieder nach draußen. Er blickte eine Weile, nachdem er die Mappe auf den kleinen Tisch gelegt hatte, nach oben in den Nachthimmel, der mit Sternen übersät war. Er setzte sich und füllte sich das Glas.

Dann begann er den Inhalt der Mappe vor sich auszubreiten. Es waren die Schnipsel jenes Briefes, den er bei seiner Verhaftung kurz vor Verlassen des Hauses noch zerrissen und in den Papierkorb geworfen hatte. Sie trugen zu seiner Entlastung bei und bewirkten, dass er nicht wegen Mordes verurteilt worden war.

Es war ein literarischer Brief an Hanna gewesen, die ihn damals schon nicht mehr hätte lesen können.

Er sollte ihr das Besteigen des Großen Wagens erleichtern, der jetzt klar vor ihm am Himmel stand.