Fred Hübner ist froh, wenn dieser Affenzirkus endlich vorbei ist.
Zwar sitzt er brav wie alle anderen an dem langen, halbwegs festlich gedeckten Tisch im Speiseraum der Pension und lauscht scheinbar konzentriert den Abschiedsworten der Moderatorin, aber insgeheim wünscht er sich nichts sehnlicher, als sich möglichst schnell seinen Rollkoffer zu schnappen und den knappen Kilometer zum Wenningstedter Dorfteich zurückzulegen, wo er zu Hause ist.
»Colloqium zur Zukunft der Literatur«, so lautete der hochtrabende Titel der einwöchigen Zusammenkunft von sieben extrem unterschiedlichen, aber allesamt beeindruckend narzisstischen Autorinnen und Autoren, die von irgendeiner nebulösen Stiftung veranstaltet worden ist und Freds unbedeutender Meinung nach nichts weltbewegend Neues zutage gefördert hat. Gedankenaustausch in lockerer Atmosphäre war das Ganze untertitelt. Gegenseitiges Augenauskratzen unter notdürftigster Beibehaltung der Anstandsregeln wäre nach Freds Meinung eine weitaus angemessenere Beschreibung der vergangenen Woche gewesen.
Der Journalist, der aufgrund seiner recht erfolgreichen Buchveröffentlichungen eingeladen worden war, lässt den Blick über die restlichen Anwesenden schweifen.
Am Kopf des Tisches thront Melinda Jakobsen, die unangefochtene Königin des Fernsehtalks, die es trotz ihres übervollen Terminkalenders auf sich genommen hat, alle Anwesenden durch die vergangene Woche zu lotsen, wie sie nicht müde wird zu betonen. Gerade klingelt wieder eines von Melindas drei Handys, und sie unterbricht ihren salbungsvollen Wortschwall kurz, um dem Anrufer barsch zu bedeuten, er möge sich an ihr Sekretariat wenden. Dann knallt sie das Handy auf den Tisch, dass die Gläser klirren, wirft ihr sorgfältig gewelltes Haar mit einem energischen Schwung zurück, strafft ihr ohnehin schon ziemlich straffes Gesicht, streicht sich den Blazer glatt und setzt ihre Rede mitten im Satz fort.
Enard Gastmann, ein hagerer Schlacks, der Fred am Ende des Tisches genau gegenübersitzt und ausschließlich dunkle Rollkragenpullis und extrem hässliche Sneakers zu tragen scheint, verdreht hinter seinem dunklen Brillengestell, das garantiert nur Fensterglas enthält, melodramatisch die Augen. Obwohl Gastmanns Lyrik als hermetisch und kaum verständlich gilt, seine Verkaufszahlen sich im allerniedrigsten vierstelligen Bereich bewegen, räumt er regelmäßig die gut dotierten Literaturpreise ab. Auf Fred hat Gastmann während der ganzen vergangenen Woche wie ein desorientierter Stummfilmstar gewirkt, der sich ebenso unerwartet wie unwillig in einer amerikanischen Soap-Opera wiedergefunden hat.
Ganz im Gegensatz dazu scheint die erfolgreiche Kinderbuchautorin Lorena Larsen jede einzelne Stunde, die sie im Kreis ihrer gelehrt daherschwatzenden Kollegen verbracht hat, genossen zu haben. Mit ihrem erfrischenden Lachen und ihrer direkten Art hat sie so manche peinliche Situation gerettet. Vielleicht war es überhaupt nur ihr spitzbübisches Auftreten, das verhindert hat, dass die Kollegen nicht schon vor Tagen aufeinander losgegangen sind. Auch jetzt sitzt sie wie ein übermütiger Puck, grünäugig, rothaarig und höchstens eins sechzig groß, zwischen dem strengen Lyriker und Saskia Grothe, einer üppigen Blondine mit Hang zu fettem Modeschmuck, deren gutgehende Ratgeber vor allem von frustrierten Frauen im Klimakterium gekauft werden dürften, wie Fred mutmaßt.
Der Journalist hat die selbstverliebte, vorlaute und rechthaberische Grothe von Anfang an nicht ausstehen können und jede einzelne Spitze, die der äußerst scharfzüngige Kritiker Konrad Otze gegen sie losgelassen hat, gefeiert. Auch jetzt kann Fred beobachten, wie Otze, der zur Linken der Moderatorin sitzt und damit der Grothe genau gegenüber, seinen Blick über ihre füllige Gestalt schweifen lässt und dabei sein Gesicht mit den scharfgeschnittenen Wangenknochen zu einer Fratze leichten Ekels verzieht. Fast gegen seinen Willen muss Fred ihm Respekt zollen für die Ausdauer, mit der der allseits gefürchtete Kritiker seine strengen Anforderungen an Sprache und Stil gegen triviale Argumente wie Verkaufsmillionen oder Followerzahlen verteidigt.
Bei der gefeierten jungen Autorin Shirin Yildirim hat er damit nur spöttische Kommentare geerntet. Sie ist mit ihrem Erstling im Sturmschritt an die Spitzen der Bestsellerlisten geeilt, wo sie seit Monaten jeder Konkurrenz trotzt. Die türkischstämmige junge Frau hat auch wirklich alles, was eine Celebrity braucht, wie sich Fred mit einem Blick auf seine Nachbarin zur Linken überzeugen kann. Ihr Gesicht mit den großen dunklen Augen und den vollen Lippen, das lange pechschwarze Haar und die schlanke Figur machen sich auf Lesungen ebenso gut wie auf jeder Titelseite. Wenn Shirin Yildirim mit samtweicher Stimme ihre saftigen Texte vorträgt und sich die großzügig vorhandenen pornographischen Details quasi auf der Zunge zergehen lässt, jubeln die Zuhörer, und die Schlangen derer, die sich nach einer Lesung unbedingt ein Autogramm abholen wollen, sind schier endlos. Gutes Aussehen, freche Sprache und ein ausgeprägtes Gefühl für Pointen sind die allzeit bewährten Zutaten, aus denen auch diese Bestsellerkönigin gemacht ist.
Fred Hübner ist so versunken in die Betrachtung von lovely Shirin, dass er das Ende der kleinen Ansprache der Moderatorin glatt verpasst hat. Doch jetzt hebt sie ihr Sektglas und bittet alle Anwesenden, mit ihr auf ein überaus gelungenes Colloqium anzustoßen. Fred muss sich ernsthaft einen bissigen Kommentar verkneifen, als er sein Wasserglas hebt und trinkt, ohne mit irgendjemandem Blickkontakt zu suchen – und schon gar nicht mit Melinda Jakobsen.
Melinda Jakobsen ekelt sich.
Trotzdem stürzt sie heldenhaft den Sekt hinunter und bemüht sich sehr, das leichte Schütteln zu unterdrücken, das sie immer durchfährt, wenn sie derart billiges Zeug trinken muss. Aber wie sähe es aus, wenn sie sich hier vor aller Augen ihre bevorzugte Champagnermarke genehmigen würde?
Eben.
Das geht gar nicht.
Obwohl sie zugeben muss, dass sie kurz vor Beginn dieser anstrengenden Woche darüber nachgedacht hat, ein verschwiegenes Bündnis mit dem Catering zu schließen. Aber man weiß ja nie, wo der Feind sitzt, bevor man ihm nicht Auge in Auge gegenübergestanden hat, denkt sie gerade und stellt das leere Glas erleichtert zurück auf den Tisch.
Rundum herrscht Schweigen. Alle glotzen sie an, als erwarteten sie weitere Heilsworte von ihr. Dabei wäre es jetzt verdammt nochmal an der Zeit, dass sich jemand von den anderen aufrafft und ihr in einer salbungsvollen Replik für ihre Mühe dankt. Immerhin hat sie diesen zotteligen Haufen in den letzten sieben Tagen halbwegs zusammengehalten. Was alles andere als einfach war. Und erfreulich schon gar nicht.
Melinda musste immer wieder die harschen Ausfälle des Kritikers parieren und anschließend seine Opfer trösten. Besonders Saskia Grothe, deren Ratgeber für Frauen jenseits der Menopause sich extrem gut verkaufen, ist mehrmals unter die Räder der Otze'schen Rhetorik geraten. Nicht ganz zu Unrecht, wie Melinda findet, allerdings hat sie mit dieser Meinung wohlweislich hinterm Berg gehalten.
Aber auch der Journalist Fred Hübner hat gehörig sein Fett abbekommen. Lohnschreiber und Presseknecht waren noch die freundlicheren der Titulierungen, die Konrad Otze für Hübner übrighatte. Immerhin hat dieser die Kritikerschelte wie ein Mann ertragen und sich nicht als Jammerlappen erwiesen. Fast schon belustigt hat Melinda einige Male bemerkt, wie Hübner eine Entgegnung hinunterzuschlucken schien. Von Tag zu Tag hat sie darauf gewartet, dass der Journalist zum großen, alles vernichtenden Gegenschlag ausholen würde, bisher allerdings vergeblich.
Die beiden jungen Frauen, Lorena Larsen, die nette, aber naive Kinderbuchtussi, und der Shootingstar Shirin Yildirim sind zwar von Otzes inhaltlichen Attacken verschont geblieben, haben sich aber dafür einiger körperlicher Übernahmeversuche erwehren müssen.
Oder es eben auch nicht getan.
Wenn sich Melinda nicht ganz getäuscht hat, war vor drei Nächten in dem von Otze bewohnten Nebenzimmer gehörig was los. Dem Jubeln und Stöhnen nach zu urteilen ist Otze dort zu Hochtouren aufgelaufen, und die kleine Yildirim stand ihm an Lautstärke und Begeisterung in nichts nach. Merkwürdig nur, dass der Kritiker sich schon am Folgetag von der anatolischen Schönheit abgewandt und der eher aschenputtelhaften Lorena zugewandt hat. Da deren Zimmer am anderen Ende des Flurs liegt, konnte Melinda wenig darüber in Erfahrung bringen, ob er auch bei ihr gelandet ist.
Für Melindas Geschmack hat die immer freundliche, ansonsten aber eher unscheinbare Lorena eine entschieden zu pappige Ausstrahlung. Aber Melinda, die selbst keine Kinder hat, nur ein paar Nichten und Neffen, die sie Gott sei Dank selten sieht, kann den Hype um Lorena Larsens Kinderbücher ohnehin nicht verstehen. Es soll sogar Erwachsene geben, die sich so was freiwillig reinziehen. Na, herzlichen Dank auch.
Das Klirren eines Löffels, der an ein Glas geschlagen wird, reißt die Moderatorin aus ihren Gedanken. Es ist ausgerechnet Enard Gastmann am anderen Ende des Tisches, der jetzt den Löffel aus der Hand legt, sich anschließend verlegen an seinem Rollkragenpulli zupft, dann zweimal seine schwarze Brille zurechtrückt und zögernd das Wort ergreift. In knappen Sätzen dankt er ihr, ohne sie auch nur ein einziges Mal anzusehen. Stattdessen saugt sich sein Blick an der Miene des Kritikers Otze fest, der seinerseits so tut, als bemerke er diese visuelle Belästigung gar nicht.
Konrad Otze ist genervt.
Dass ausgerechnet der sonst so zurückhaltende Enard Gastmann ihm bei einer Replik zuvorkommt, ist auch nicht dazu angetan, seine Laune zu bessern. Gastmann mag ein begnadeter Lyriker sein, Otze selbst hat ihm das durchaus schon bescheinigt und auch in der einen oder anderen Literaturpreisjury ein gutes Wort für ihn eingelegt. Aber im täglichen Umgang ist der Typ einfach nur nervig. Verzärtelt, jammernd, ohne die geringste Spur von Eiern in der Hose. Und dazu noch schlecht angezogen. Allein diese extrem hässlichen Sneakers sind eine Beleidigung für jeden Stil-Aficionado.
Und dem einzigen anderen Mann in ihrer Runde, dem Journalisten Fred Hübner, der stets den obercoolen Hund gibt und so tut, als habe er mehr Cojones als so mancher Jungspund, traut Otze schon gar nicht über den Weg. Der wartet doch nur hechelnd auf den nächsten Skandal, den er dann auch wieder zu Geld machen kann.
Bei Frauen ist Otze im Prinzip zu einem großzügigeren Urteil bereit. Jedenfalls wenn eine gewisse Attraktivität vorhanden ist, wie bei der kleinen Yildirim mit ihren diversen Piercings, die auf den Kritiker zugleich ästhetisch abstoßend wie erotisch anziehend wirken. Die Nacht mit Shirin war dann auch insgesamt recht vergnüglich. Aber es blieb ein schaler Nachgeschmack. Konrad Otze hält sich eher für den Eroberertypus, und die junge Autorin war einfach zu leicht zu haben. Wie soll sich da ein echtes Erfolgsgefühl einstellen? Dann beißt Konrad sich schon lieber an der sperrigen Kinderbuchautorin die Zähne aus. Lorena ist als Vorname allerdings entschieden zu vielversprechend für sie. Trotz der roten Haare und der wirklich tollen grünen Augen sieht sie doch eher durchschnittlich aus.
Aber irgendwie hat sie was.
Wenn er nur wüsste, was genau es ist.
Nachdenklich mustert er die Larsen über den Tisch hinweg.
Ein Geruch eventuell? Eine Färbung ihrer Märchentantenstimme, die ihn anmacht? Erinnert sie ihn an irgendeine verflossene Liebschaft? Oder ist es vielleicht nur ihre beharrliche Weigerung, mit ihm zu flirten? Eigentlich müsste sie sich doch kniefällig bei ihm dafür bedanken, dass er ihr überhaupt seine Aufmerksamkeit schenkt. Aber nein. Sie reagiert auf jedes seiner Komplimente ebenso freundlich wie unverbindlich und wendet sich gleich darauf anderen Gesprächspartnern zu.
Vielleicht will ich sie auch nur, weil ich sie nicht kriegen kann, denkt Otze amüsiert.
Die überreife Saskia Grothe, die ihm genau gegenübersitzt, wäre dagegen ein allzu leichtes Opfer gewesen. Die Frau hält sich wirklich für den Nabel der Welt und passt mit ihrem Selbstbewusstsein so wenig durch eine Tür wie mit ihrem aus dem Leim gegangenen Körper in ein Cocktailkleid von akzeptablen Ausmaßen, denkt er und amüsiert sich insgeheim über seinen treffenden Vergleich. Die saugenden Blicke, mit denen die Grothe ihn in den ersten Tagen bedacht hat, konnte Otze nur durch beharrliches Niedermachen ihrer vermutlich ziemlich dümmlichen Ratgeber abstellen, von denen er selbstverständlich keinen einzigen gelesen hat.
Dagegen ist die Jakobsen als Typus viel interessanter. Otze lässt seinen Blick unauffällig über die links von ihm Sitzende schweifen. Mit Ende fünfzig sieht sie aus wie Mitte dreißig, schlank, schmal, fast schon drahtig. Er tippt auf ausgiebiges Fitnesstraining mindestens dreimal die Woche. Allerdings sind Melindas Gesichtszüge ein wenig zu glattgebügelt, um noch schön zu sein. Trotzdem wäre es vielleicht einen Versuch wert, zu erleben, wie sie sich in seinen Armen entspannen und möglicherweise sogar die Kontrolle verlieren würde. Jedoch bezweifelt Otze sehr, dass sie es dazu kommen lassen würde. Vielleicht wagt er in den nächsten Tagen einen Versuch, wenn die Jakobsen sich in ihre Villa auf der Insel zurückgezogen hat. Schließlich wird auch er noch eine Woche bleiben, um beim Surf Cup zuzuschauen. Da wäre eine Stippvisite mit einem üppigen Blumenstrauß als Dank für die Mühen der Moderation doch eine nette Idee. Andererseits wollte er sich in den kommenden Tagen ganz seinem Hobby, dem Windsurfen, widmen.
Bei dem Gedanken an die Sylter Wellen, sein Bord und das Gefühl absoluter Freiheit, das ihn jedes Mal erfüllt, wenn er sich in die Brandung stürzt, wird ihm sofort ganz anders. Noch geschätzte zwei Stunden, dann ist die Party hier vorbei, alle Teilnehmer des Colloquiums werden abreisen, allein er wird der Einfachheit halber das Zimmer behalten. Wobei er keinen Zweifel daran hat, dass er sich nur zum Schlafen in dieser eher mittelmäßigen Pension einfinden wird. Schließlich werden noch einige seiner alten Freunde aus unbeschwerten Surfertagen anreisen, mit denen er aufs Wasser gehen und anschließend um die Häuser ziehen kann. Konrad Otze freut sich unbändig darauf, das Image des gefürchteten Literaturkritikers abzulegen – wenn auch nur für eine kurze Woche.
Saskia Grothe hat einfach nur Hunger.
Ungeduldig hat sie den Worten der Moderatorin gelauscht, hastig hat sie den Sekt hinuntergekippt und anschließend höflich zu der schmallippigen Entgegnung von diesem Schnösel Gastmann genickt. Er redet so, wie er sich auch sonst benimmt. Stets scheint er von zerstreuter, fast schon distanzierter Unhöflichkeit zu sein, die nur knapp an echtem Desinteresse vorbeischrammt.
Mit Gastmann hat sie während der ganzen Woche keine zwei Sätze gewechselt, und zum Glück sitzt die quirlige Lorena zwischen ihm und ihr. Pullovertypen wie der haben sie noch nie interessiert, und Lorena scheint es ähnlich zu gehen, auch wenn sie es nicht so raushängen lässt. Soll er doch ruhig die ganzen Literaturpreise abräumen, solange Lorena und sie es sind, die mit ihren Bestsellern das Publikum mitreißen und die fette Kohle machen.
In diesem Punkt waren sich Saskia, Lorena Larsen und Shirin Yildirim völlig einig, als sie gleich am ersten Tag gemeinsam abgehauen sind, um in der Kampener Reiterbar ein paar Drinks zu kippen und über die Männer zu lästern, die der Veranstalter ihnen zur Seite gestellt hat.
Allen voran war natürlich dieses Kritikerarschloch Otze ihr gemeinsames Thema. Der Kerl hat es echt fertiggebracht, sämtliche Autoren am ersten Tag wie Luft zu behandeln und überhaupt nur mit pretty Melinda, ihrer aufgespritzten Moderatorin, zu reden.
Wahrscheinlich wollte er dringend in ihre nächste Talkshow eingeladen werden.
Was Fred Hübner anging, hatten die drei allerdings unterschiedliche Meinungen. Lorena fand den Journalisten einfach nur nett, so wie sie prinzipiell alles nett zu finden scheint, wie Saskia im Verlauf der nächsten Tage feststellen konnte. Auf Saskia, die in den letzten Jahren ein oder zwei Bücher von Hübner überflogen hat, wirkte er zunächst ganz umgänglich, doch in der vergangenen Woche bekam er zusehends schlechtere Laune, vielleicht weil Otze sich mit Shirin zusammentat, die der Journalist anfänglich selbst angeflirtet hatte.
»Langweilig und außerdem viel zu alt«, war Shirins knapper Kommentar zu Hübner, während sie von Anfang an für den Kritiker schwärmte. »Echt krass, der Typ«, war ihr augenrollender Kommentar. Saskia findet, dass Shirin selbst mit ihren Piercings und dem prominent auf dem linken Handrücken platzierten Tattoo ziemlich krass aussieht, und so ist es vielleicht kein Zufall, dass Shirin und Otze sich zumindest kurzfristig gefunden haben.
Saskia selbst sind die amourösen Verwicklungen dieser schrägen Truppe herzlich egal, sie hat bereits vor Jahren mit den Kerlen abgeschlossen, genauer gesagt an ihrem fünfzigsten Geburtstag. Seitdem lebt es sich deutlich unbeschwerter.
Das ist jedenfalls die Version für die Öffentlichkeit und ihre Leserinnen.
In Saskia Grothes echtem Leben hat es durchaus den einen oder anderen Rückfall gegeben, doch das geht niemanden etwas an. Diesen Otze, der ihr von Anfang an direkt gegenübersaß, so dass sie ihn ebenso ausgiebig wie unauffällig mustern konnte, hätte sie beispielsweise nicht von der Bettkante gestoßen. Er ist für Mitte vierzig durchaus proper, extrem schlank, nicht zu groß und nicht zu klein mit außerordentlich attraktiven Gesichtszügen. Und dazu immer exzellent gekleidet, was Saskia bei Männern zu schätzen weiß. Allerdings ist Otzes Arroganz ziemlich unerträglich, und das denkt sie nicht nur, weil sie natürlich auch ihr Fett abgekriegt hat. Seine ätzenden Bemerkungen machen auch vor der Gürtellinie nicht halt, dafür ist er berüchtigt.
Soll er doch weiter seine Giftpfeile abschießen, wenn ich nur endlich was zu essen kriege, denkt Saskia achselzuckend. Denn das Catering ist nicht von schlechten Eltern. Der doch recht schlichte Name der Firma, Kutterscholle und Butterstulle, lässt ein wesentlich einfacheres Essen erwarten, als es ihnen hier vorgesetzt wird. Sehnsüchtig schaut sich Saskia zur Küchentür um, die sich direkt hinter ihrem Rücken befindet. Eigentlich wäre es jetzt höchste Zeit für den ersten Gang. Unauffällig greift sie nach der Menükarte. Flusskrebssüppchen mit Avocadoschaum, das hört sich doch recht vielversprechend an.
Und als habe sie nur auf ein geheimes Signal gewartet, öffnet nun die Köchin die Schwingtür und stellt höchstselbst eine verlockend duftende Suppentasse vor Saskia ab. Jetzt gilt es nur noch abzuwarten, bis auch die anderen versorgt sind. Zum Hauptgang wird es Lammfilet geben und danach eine Crème brûlée. Nicht Aufregendes, aber wenn es gut gemacht ist, sicher extrem lecker.
Und nach dem Dessert ist es dann endlich vorbei mit dieser Zwangsgemeinschaft, in die das Colloquium sie alle gequetscht hat. In Vorfreude auf die drei Lesungen, die der Verlag für sie in den kommenden Tagen auf der Insel arrangiert hat, lehnt sich Saskia zurück. Selbstverständlich wird sie in den nächsten Tagen auch in einem anständigen Hotel wohnen und nicht weiter in dieser piefigen Pension, die der Veranstalter ihnen spendiert hat. Der niedrige Speiseraum, in dem normalerweise nur ein Frühstück für die Pensionsgäste serviert wird, hat ihnen auch als Besprechungsraum gedient, denn alle sieben Zimmer waren von den Teilnehmern des Colloquiums belegt. Ein einwöchiger Gefängnisaufenthalt mit unerträglichen Knastbrüdern und -schwestern. Wenn die Kochkünste der Caterin nicht gewesen wären, hätte Saskia diese grässliche Veranstaltung unter Garantie vor der Zeit verlassen. Nur die Aussicht auf zwei hervorragende Mahlzeiten pro Tag hat sie die restliche Quälerei ertragen lassen.
Als jetzt die Jakobsen ihr »Guten Appetit« über den Tisch ruft und nach dem Suppenlöffel greift, atmet Saskia innerlich auf. Endlich etwas zu essen!
Lorena Larsen isst keine Tiere.
Lustlos stochert sie in ihrer Suppe herum, die natürlich kein Krebsfleisch enthält, aber möglicherweise aus dem Sud der Schalentiere gemacht worden ist. Vorsichtig versucht Lorena, wenigstens den Avocadoschaum abzuschöpfen. Vielleicht hätte sie bei den Vorbesprechungen doch auf eine komplett vegane Verpflegung bestehen sollen. Aber andererseits wollte sie niemandem ihre private Einstellung aufdrücken und vor allem nicht die anderen Colloquiumsteilnehmer um den Genuss der beachtlichen Kochkünste der hochgelobten Sylter Köchin bringen, die erst vor wenigen Monaten das Cateringunternehmen Kutterscholle und Butterstulle gegründet hat.
Jetzt geht Lorena allerdings das allgemeine Schlürfen auf die Nerven. Die letzte Woche war erheblich anstrengender, als sie erwartet hätte, immerhin aber ein echter Booster für ihre Kreativität. Darüber konnte und wird sie jedoch mit niemandem reden, denn wie sie zu den Tierfiguren ihrer Bücher kommt, ist ihr wohlgehütetes Geheimnis.
In den nächsten Jahren werden sich wahrscheinlich sämtliche Teilnehmer dieser Runde in Tiergestalt mehr oder weniger liebevoll zwischen Buchrücken beschrieben wiederfinden.
Saskia beispielsweise, die rechts neben Lorena mit echtem Heißhunger ihre Suppe vertilgt, ist die ideale Löwenmutter. Körperlich schwer, mit großem Kopf und lauter Stimme. Dominant und machtbewusst.
Melinda Jakobsen, die Moderatorin der vergangenen Woche, die bestimmt auch gern eine Löwin wäre, ist für Lorena allerdings eindeutig eine Schlange. Sie ist schmal, wendig, ebenso anpassungsfähig wie gnadenlos und offensichtlich gewillt, alles unbarmherzig zu verschlingen, was es wagt, ihr in die Quere zu kommen.
Konrad Otze, der mit spitzem Mündchen seine Suppe löffelt, als wolle er auch darüber eine seiner gefürchteten Kritiken schreiben, ist ganz klar ein Fuchs. Flink und schlau, wendig und nicht recht zu greifen. Ein Surfer im Maßanzug, das muss man erst mal finden. Kurz hat Lorena überlegt, ob Otze nicht auch ein Chamäleon sein könnte, ein Tier, das sich so anpasst, dass man es kaum noch verorten kann. Aber letztendlich hat sich Lorena für den Fuchs entschieden, Otzes Sprachgewandtheit hat dabei den Ausschlag gegeben.
Schwieriger fand sie die Zuordnung bei Shirin Yildirim, die ihr direkt gegenübersitzt. Zierlich und kapriziös sollte das Tier sein, vielleicht ein Flamingo oder ein Kolibri, wobei ihr beide nicht temperamentvoll genug waren. Außerdem ist Shirin keinesfalls ein Vogel, das weiß Lorena instinktiv. Nachdenklich mustert sie die junge Frau mit den dunklen Haaren und den wunderschönen Augen. Ein Reh vielleicht? Nein, das ist zu brav. Anmutig sollte das Tier aber doch sein. Fließende Bewegungen muss es haben und ein ausgesprochen schönes Gesicht. Eine Katze wäre gut, entscheidet Lorena schließlich. Shirin ist eindeutig anschmiegsam und eigenwillig zugleich.
Zufrieden lehnt sich Lorena zurück und beobachtet, wie die Suppentassen von dem Cateringmitarbeiter abgeräumt werden, der zu ihr immer besonders freundlich und zuvorkommend ist. Lorena hat den Verdacht, dass er sich ebenfalls vegan ernährt. Und tatsächlich begleitet er wenig später auch das Servieren ihres wohlriechenden Linsencurrys mit einem einvernehmlichen Zwinkern.
Lorena wartet, bis den anderen die gratinierten Lammfilets serviert werden, dann kostet sie von dem Curry und findet es sofort köstlich. Kardamon, Kurkuma und Knoblauch geben eine phantastische Geschmackskombination ab.
Doch leider wird Lorenas Genuss getrübt, als sie sieht, wie ihr Tischnachbar die Gabel in sein Lammfilet rammt und es anschließend mit dem Messer malträtiert. Enard Gastmann ist kein Gourmet, das ist ihr sofort klar. Er schiebt das Essen auf dem Teller hin und her, steckt nur Bruchteile davon in den Mund und kaut dann, als sei er blind und vielleicht dazu noch geschmackstaub. Ganz eindeutig ist er auch während der Mahlzeit innerlich mit anderem beschäftigt.
Lorena weiß genau, welches Tier Gastmann ist. Ein Maulwurf. Bestimmt nimmt er alles auf, jede feinste Gefühlsregung der Umsitzenden, jede noch so abwegige Entwicklung der Konversation, um diese Dinge anschließend in seinen hermetischen Texten zu verarbeiten. Vielleicht ist sein Verfahren dem ihren gar nicht so unähnlich, nur dass es ihm nicht um Tiere, sondern um Worte und ihre verborgenen Beziehungen zueinander geht. Enard Gastmann wühlt sich durch die unterirdischen Gänge der Sprache und buddelt so lange, bis er ihre goldenen Essenzen entdeckt hat.
Bleibt nur noch Fred Hübner, der Journalist mit der kurzgeschorenen Bürstenfrisur. Der ist eindeutig ein Igel, findet Lorena. Nicht nur wegen seiner Haare, sondern auch, weil er trotz seiner oberflächlichen Freundlichkeit irgendwie ungreifbar bleibt. Und damit vermutlich auch unangreifbar. Auf bewundernswerte Weise hat er die beleidigenden Einlassungen Otzes an sich abtropfen lassen. So, als habe er sich durch seine Stacheln einen Panzer geschaffen, den die harschen Kritikerworte nicht durchstoßen konnten. Lorena ist fest davon überzeugt, dass da noch etwas kommt und dass nicht nur sie auf eine endgültige Abrechnung des Journalisten mit dem Kritiker wartet. Man soll schließlich den Tag nicht vor dem Abend loben.
Enard Gastmann ist zu Tode erschöpft.
Er fühlt sich wie ein Einsiedlerkrebs, der schon viel zu lange ohne Haus unterwegs ist. Ausgetrocknet, verletzlich und irgendwie porös. Nichts sehnt er so innig herbei wie das Ende dieser Veranstaltung. Es war ein Fehler, zugesagt zu haben, und sein Lektor hatte ihn gleich gewarnt. »Das ist nichts für dich, du bist viel zu sensibel«, hat er mit entschiedener Stimme verkündet. Doch Enard hat davon nichts wissen wollen, seit frühester Kindheit hat er es gehasst, sensibel genannt zu werden. Seine Mutter benutzte dieses Wort als Allzweckwaffe gegen jede Aktion, die ihr unheimlich, gefährlich oder sittlich anstößig schien. Oft denkt Enard, dass sie ihn zu diesem vorsichtigen und ängstlichen Menschen gemacht hat, um ihn lebenslänglich an sich zu binden. Tragischerweise ist sie dann sehr früh verstorben, so dass er seitdem heimatlos und unbeschützt in diesem Leben unterwegs ist.
Enard weiß genau, dass er die Gedanken an seine verstorbene Mutter höchstens nachts zulassen darf, und auch das nur, wenn sich ein ausreichender Vorrat an Schlaftabletten in der Nähe befindet. Es gilt also, möglichst schnell einen anderen Ankerpunkt für seine Gedanken zu finden. Doch womit soll er sich ablenken? Enard sitzt ganz am Ende der Tafel, ihm gegenüber der pragmatische und lebenszugewandte Journalist Fred Hübner, der nun wirklich kein geeigneter Gesprächspartner ist. Auch die junge Kinderbuchautorin rechts von ihm scheint in ihrer fröhlichen Harmlosigkeit kaum die Richtige für seine grüblerischen Überlegungen zu sein.
Enard hatte sich große Hoffnungen auf das eine oder andere gute Gespräch mit Konrad Otze gemacht, den er bisher merkwürdigerweise noch nie persönlich getroffen hat, obwohl er ihm zweifellos viel zu verdanken hat. Aber die Begegnung mit dem Kritiker war von Anfang an eine komplette Enttäuschung. Anstelle des einvernehmlichen, vielleicht sogar vertrauensvollen Gesprächs, das sich Enard erhofft hatte, ergab sich immer nur ein bemühtes Geplänkel, bei dem er stets das Gefühl hatte, der Kritiker lasse seine Augen auf ziemlich unanständige Weise die Körper der anwesenden Frauen abtasten, während er unkonzentriert Enards Ausführungen lauschte. Sowie sich die Gelegenheit ergab, löste sich Otze dann auch aus jedem Gespräch, manchmal unter Missachtung der basalsten Höflichkeitsregeln.
Trotz dieser bitteren Erfahrung hat Enard in den vergangenen Tagen mehrmals nachts von dem attraktiven Mann geträumt, ein Umstand der nicht gerade zu seiner Entspannung beigetragen hat. Auch tagsüber fällt es dem Lyriker schwer, seine Blicke von dem Kritiker zu lösen. Unter den vermutlich maßgeschneiderten Anzügen, die er jeden Tag wechselt, lassen sich gut definierte Muskeln und ein straffer Körper ahnen. Bestimmt macht Konrad Otze irgendeinen effizienten, weil extrem schweißtreibenden Sport.
Während das Lammfilet, von dem Enard kaum gekostet hat, abgetragen wird, wendet sich ihm überraschend Shirin Yildirim zu, die junge Bestsellerautorin mit türkischen Wurzeln. Sie hat ihn als Einzige von Anfang an geduzt, was Enard zu seiner eigenen Verwunderung sehr für sie eingenommen hat, obwohl er sonst eher der distanzierte Typ ist.
Jetzt deutet Shirin quer über den Tisch auf seinen Teller und fragt mit warmer Stimme: »Hast du das Filet nicht gemocht?«
»Mein Magen. Manchmal habe ich Probleme«, antwortet Enard ausweichend und sieht aus den Augenwinkeln, wie Otze, der neben Shirin sitzt, spöttisch das Gesicht verzieht.
»Nimmst du auch den Nachmittagszug zurück nach Berlin?«, fragt sie weiter.
Enard schüttelt den Kopf. »Ich bleibe noch auf der Insel.«
»Willst du auch zum Surf Cup?« Ihre Stimme klingt ungläubig, die Augen werden riesengroß. Von Otze kommt nur ein abfälliges Schnauben.
Enard zuckt verlegen mit den Schultern, er wünscht sich plötzlich, er wäre sportlich, möglichst sogar sportlicher als Otze, was natürlich komplett unrealistisch ist. Als Schüler hat er schon beim Kicken versagt, von Disziplinen wie Weitwurf oder Hochsprung ganz zu schweigen. Wasser ist ihm meist zu kalt, und Radfahren auf Großstadtstraßen findet er lebensgefährlich.
Offenbar hat Shirin sein Schulterzucken für verschämte Zustimmung gehalten, jedenfalls setzt sie jetzt nach: »Wirklich? Du surfst? Das ist ja toll!«
Bei der Vorstellung, dass man ihn für einen von diesen neoprengewandeten Muskeltypen halten könnte, schüttelt es Enard unwillkürlich.
»Natürlich surfe ich nicht. Das wäre absurd, oder? Ich habe mich für die kommenden zwei Wochen in Morsum eingemietet. Ein Zimmer, ziemlich abgelegen und sehr einfach. Genau das Richtige, um zur Besinnung zu kommen.«
»Verstehe«, antwortet die hübsche Bestsellerautorin, während sie sich sichtlich darum bemüht, den Ausdruck gelinder Enttäuschung aus ihrem Gesicht zu vertreiben.
Shirin Yildirim ist beschämt.
Enard Gastmann vor allen anderen Teilnehmern bloßzustellen, war nun wirklich nicht ihre Absicht. Sie wollte einfach nur nett sein und ihn ins Gespräch einbeziehen. Doch langsam hat sie den Eindruck, dass sie in jedes, aber auch wirklich jedes Fettnäpfchen tritt, das dieses Colloquium zu bieten hat. Dabei ist sie mit den allerbesten Vorsätzen angereist, denn dieser ganze Literaturzirkus ist schließlich immer noch neu für sie. Keiner konnte ahnen, dass ihr Erstling eine solche Wirkung entfalten und sofort auf den Bestsellerlisten landen würde. Stets charmant, schlagfertig und frech tourt sie seit Monaten durch die Republik, wobei ihr hoffentlich niemand anmerkt, wie viel Anstrengung sie das Ganze kostet.
Von dieser Woche im Kreise ihrer erfahreneren Kollegen hatte sie sich ein wenig Zuspruch und vielleicht auch den einen oder anderen Tipp erhofft, wie mit der ungewohnten Publicity umzugehen sei. Doch schon am ersten Abend, den sie mit Saskia und Lorena in der Kampener Bar verbracht hat, ist es zu keiner echten Unterhaltung gekommen, in deren Verlauf sie auch einmal Unsicherheiten oder Fehler hätte eingestehen können. Und seitdem ging es so weiter, wurde eher noch krasser. Alle Kolleginnen und Kollegen spreizen sich wie Pfauen, geben von morgens bis abends mit ihren Leistungen an und versuchen, sich im allerbesten Licht darzustellen.
Vielleicht ist es die Konkurrenzsituation, die durch die Anwesenheit der illustren Moderatorin und des gestrengen Kritikers automatisch entsteht. Vielleicht sind aber auch ausnahmslos alle Autoren eingebildete, selbstverliebte und eitle Geschöpfe, denen jedes soziale Gen abgeht.
Shirin wagt nicht zu beurteilen, was nun wirklich stimmt, und es ist ihr schnell klargeworden, dass sie es auch im Verlauf dieses Colloquiums nicht herausfinden wird. Trotzdem macht ihr dieses Problem zu schaffen, und sie muss so viel darüber nachdenken, dass ihr manchmal die Konzentration für andere Dinge fehlt.
Zum Beispiel hat sie viel zu spät bemerkt, dass ausgerechnet Enard Gastmann der Einzige war, der ihr nicht mit dieser merkwürdigen Mischung aus Überheblichkeit und Neid gegenübergetreten ist. Er war auf seine zurückhaltende Art immer sehr freundlich zu ihr, hat sie wie ein normaler Mensch behandelt und nicht wie ein schillerndes Wunderwesen.
Erst in den letzten zwei Tagen ist Shirin auf die Idee gekommen, dass es vielleicht an ihr gewesen wäre, ihren Status als gefeierter Shootingstar rechtzeitig zu relativieren, um die anderen zu mehr Empathie und Ehrlichkeit zu bewegen. Denn nach ihrem kurzen Techtelmechtel mit Konrad Otze, das in einem temperamentvollen One-Night-Stand gipfelte, der innerhalb der hellhörigen Pensionswände vermutlich niemandem verborgen geblieben ist, wurde die Situation vollkommen haltlos.
Dass Konrad sie am Morgen danach und auch in den folgenden drei Tagen mit äußerster Distanz behandelt hat, versteht Shirin ebenfalls nicht ganz. Sicher war die gemeinsame Nacht eine ziemliche Dummheit, aber andererseits auch kein Kapitalverbrechen. Soweit sie weiß, ist Konrad Otze ungebunden, und sie selbst hat zurzeit auch keinen festen Partner. Und sie hat von Anfang an klargestellt, dass sie aus einer höchst aufgeklärten Familie kommt. Bereits ihr Vater, ein türkischstämmiger Chirurg, ist nie auf den Gedanken gekommen, Shirins Mutter, die als Lehrerin arbeitet, in irgendeiner Weise zu bevormunden. Ganz sicher muss Konrad keine Angst vor irgendeiner mittelalterlich anmutenden Familienrache haben.
Warum also diese plötzliche Kälte?
Noch eine ungeklärte Frage, die Shirin umtreibt.
Konrad, der immerhin seit Beginn des Colloquiums neben ihr sitzt, redet auch bei ihrer Abschiedsmahlzeit konsequent nur mit Melinda Jakobsen. Gerade jetzt wieder, als er ziemlich geräuschvoll seinen Stuhl nach hinten schiebt, um aufzustehen, murmelt der Kritiker nur in Melindas Richtung ein knappes »Bin gleich wieder da«, bevor er mit schnellen Schritten nach draußen strebt.
Melinda nickt unkonzentriert, weil gerade wieder einmal eines ihrer drei Handys bimmelt, die sie auch beim Essen nicht aus den Augen lässt. Während sie mit deutlich zu lauter Stimme telefoniert, verstummen alle Gespräche am Tisch, und Shirin fängt diverse ungehaltene Blicke auf.
Dieses Colloquium war ein Reinfall, das ist vermutlich jedem hier am Tisch klar. Zu viele schlechte Schwingungen, zu viel Missverständnisse, zu viele falsche Bündnisse, denkt sie enttäuscht.