Die Kampener Vogelkoje ist ein Ort mit blutiger Vergangenheit, das weiß Ludger Voigt natürlich besser als irgendjemand sonst.

Bis zur Schließung der Anlage vor gut hundert Jahren kamen hier jährlich mehr als viertausend Wildenten brutal zu Tode. Auf ihrem langen und entbehrungsreichen Flug in den Süden nutzten sie gern den Süßwasserteich zwischen Kampen und List, um ein letztes Mal ausgiebig zu trinken, bevor es übers salzige Meer ging. Das konnte der bitterarmen Sylter Bevölkerung auf Dauer nicht verborgen bleiben. Und so begann man, sich durch grausame Fangtechniken das begehrte Entenfleisch ebenso zu sichern wie die flaumweichen Daunen, die allerbeste Preise auf dem Markt erzielten.

Auf seiner abendlichen Runde durch das kleinste aller Sylter Naturschutzgebiete schwirren dem Verwalter des Areals die vielen Geschichten und Anekdoten durch den Kopf, die schon sein Vater und sein Großvater zu berichten gewusst haben. Seit drei Jahrzehnten ist die Beaufsichtigung und Pflege der Vogelkoje in Familienhand, und für Ludger Voigt war es seit seinem vierzehnten Lebensjahr klar, dass er diese Tradition fortsetzen würde.

Jetzt stapft der stämmige Enddreißiger, dessen volle dunkle Haare bereits die ersten grauen Strähnen aufweisen, in seinen Gummistiefeln durch den dichten Bewuchs des Naturschutzgebietes. Um die ehemaligen Reusen und Becken ist in den letzten Jahrzehnten ein veritabler Urwald gewachsen. Zwischen mattgrünen, silbrig glänzenden oder

Trinkwasser mitten in der Nordsee war und ist selten. Die Tiere konnten ja nicht ahnen, was sich die Bewohner Sylts für sie ausgedacht hatten. Die Enten wurden in vierzig Meter lange Fangkanäle gelockt, in denen sie ein jämmerliches Ende fanden. Die Kanäle gibt es immer noch. Ludger riecht das Brackwasser, das in ihnen steht, und lässt den Blick bis zu den Reusen an ihrem Ende schweifen, in denen die Enten sich fingen und zur wehrlosen Beute der damaligen Reusenwärter wurden.

Wenn Ludger Touristen über das Gelände führt und die Vorgehensweise der Entenfänger erläutert, wird er regelmäßig mit Äußerungen des Entsetzens konfrontiert. Wenn du nichts zu fressen für dich und deine Kinners hast, ist Tierwohl das Letzte, das dich kümmert, pflegt er dann lakonisch einzuwenden.

Ludger dreht dem Teich den Rücken zu und geht zu den Reetdachkaten, die früher die Reusenwärter beherbergten und in denen sich jetzt eine Dauerausstellung zu den damaligen Fangpraktiken befindet. In jede der Katen wirft Ludger Voigt einen gründlichen Blick. Er überprüft, ob

Ludgers Weg endet am Watt, wo eine hölzerne Treppe den Deich hinaufführt. Er weiß genau, welcher phantastische Rundblick sich ihm gleich bieten wird, denn der Himmel ist wolkenlos und die Sicht ist klar. Linker Hand wird er den Lister Hafen und rechts den Kampener Leuchtturm, das Weiße Kliff, die Keitumer Kirche und sogar den Hindenburgdamm sehen können. Es gehört fest zu Ludgers Abendritual, sich für einige Minuten auf der einsamen Bank oben auf dem Deich niederzulassen, den großartigen Ausblick zu genießen, dabei zur Ruhe zu kommen und den vergangenen Tag Revue passieren zu lassen.

Aber Ludgers Lieblingsbank ist nicht frei, was ihn nicht sonderlich überrascht. Ludger kennt das schon. An diesem besonderen Ort kommt es häufig vor, dass Besucher der Vogelkoje angesichts der grandiosen Aussicht die Schließungszeiten vergessen und Ludger sie freundlich daran erinnern muss, ihm zum Ausgang zu folgen.

Doch der Person, die Ludger nun vor sich sieht, ist mit einer freundlichen Erinnerung ganz sicher nicht geholfen.

Auf der Bank liegt ein elegant gekleideter Mann. Er trägt rahmengenähte Schuhe und einen Dreiteiler mit seidenem Einstecktuch. Schuhe und Hosenbeine sind bis zu den Knien nass. Der Anzug ist blutüberströmt, denn in Kopf und

Mit wenigen Schritten ist Ludger neben der Bank und beugt sich über den Mann. Dessen Augen sind fast schon gebrochen, sein Atem geht sehr flach. Sollte er nicht schnellstens Hilfe bekommen, wird er sterben, das ist Ludger völlig klar.