Samstag, 27. September, 17.16 Uhr, Rettungswache Westerland

Das schrille Klingeln des Telefons erwischt Verena Sabatowski mitten in einer spannenden Phase ihres Handyspiels. Sie sichert den Spielstand, legt das Handy zur Seite, nimmt noch schnell einen Schluck aus ihrer Coladose und meldet sich dann mit professioneller Stimme am Festnetzapparat der Rettungswache.

Zunächst hört Verena nur Keuchen. Atemlos klingt das, wie nach einem Dauerlauf. Verena tippt auf einen Eigennotruf. Jemand hat sich sportlich überfordert und merkt nun, dass ihm die Pumpe zu schaffen macht.

»Bitte beruhigen Sie sich«, sagt sie mit fester Stimme ins Telefon. »Wo befinden Sie sich gerade, und was ist passiert?«

»Vogelkoje«, keucht es am anderen Ende. »Hier stirbt jemand.«

»So schnell stirbt es sich nicht.« Verena hasst Übertreibungen. Aber in ihrer Panik neigen die Leute leider dazu. »Sagen Sie mir zunächst mal Ihren Namen bitte.«

»Ludger Voigt. Voigt mit oi. Ich bin der Verwalter.« Die

X Messer im Körper, schon klar, denkt Verena. Der Typ will mich doch auf den Arm nehmen, jede Wette. Sie weiß, dass es solche Fakeanrufe immer wieder gibt. Leute, die sich wichtig machen wollen. Jugendliche, die das für einen guten Scherz halten. Alte Menschen, die sich einfach nur langweilen.

»Messer im Körper?«, fragt sie misstrauisch. »Wie viele und an welchen Stellen?«

»Kopf, Bauch, Hoden, was weiß ich. Er ist blutüberströmt und stirbt ganz sicher, wenn nichts geschieht. Sie müssen so schnell wie möglich kommen. Es wird nicht ganz einfach, ich bin in der Vogelkoje, wie gesagt. Mit dem Rettungswagen kommen Sie hier auf keinen Fall durch.«

»Vogelkoje, okay. Die in Kampen oder die in Rantum?« Langsam glaubt Verena dem Anrufer doch. Während sie auf seine Antwort wartet, drückt sie den Alarmknopf. Sofort rühren sich die beiden Kollegen, die gerade Schicht haben.

»Kampen. Aber Sie können hier nicht reinfahren. Außerdem ist das Tor schon zu. Ich würde die Sanitäter auf dem Parkplatz erwarten, allerdings müssen wir dann übers ganze Gelände bis zum Watt laufen. Ich weiß nicht, ob er das überlebt … er hat … ich habe …« Der Satz bleibt unvollendet, der Anrufer schnappt nach Luft, ganz offenbar hat ihn das Entsetzen eingeholt.

»Bleiben Sie jetzt mal ganz ruhig, ich sage eben nur meinen Kollegen Bescheid. Kleinen Moment noch, dann bin ich wieder bei Ihnen.«

Verena wendet sich an Siegmund und Rashid, die diensthabenden Rettungssanitäter, die von allen nur Siegfried und

»Ihr fahrt zur Vogelkoje in Kampen. Auf dem Parkplatz erwartet euch der Anrufer. Am Watt liegt ein Mann mit schweren Stichverletzungen, der offenbar viel Blut verloren hat. Ihr kommt nicht mit dem Wagen durch, müsst also wohl hinlaufen und alles Nötige mitnehmen. Ich habe den Anrufer noch in der Leitung und versuche gleich noch, Einzelheiten zu erfahren. Alles weitere kommt per Funk. Los geht’s.«

Siggi und Rashid reißen ihre Jacken von den Haken und rennen raus zum Rettungswagen. Verena greift wieder nach dem Hörer.

»Okay, jetzt noch einmal von vorn. Stehen Sie neben dem Opfer?«

»Nicht mehr.«

Sie hört stampfende Schritte. Stiefel auf Holz vielleicht?

»Ich renne gerade zurück zum Parkplatz. Ich muss schließlich das Tor öffnen. Das habe ich Ihnen doch schon erklärt.«

»Ja natürlich. Trotzdem möchte ich Sie noch nach ein paar Einzelheiten fragen. Haben Sie das Opfer angefasst, vielleicht den Puls gefühlt oder die Atmung kontrolliert?«

»Klar. Ich wollte es mit einer Herzdruckmassage versuchen, aber eines der Messer steckt im Brustkorb, und das konnte ich doch nicht rausziehen, oder war das falsch?«

»Nein, das war goldrichtig. Auf keinen Fall dürfen Sie die Messer bewegen. Also keine Herzdruckmassage?«

»Nein, wie gesagt. Was wollten Sie noch wissen? Ach so, ja.

»Okay, das ist doch schon mal was. War der Mann ansprechbar?«

»Überhaupt nicht. Ich hab’s versucht, es kam aber keine Reaktion. Noch nicht mal ein Lallen oder so was.«

»Hat er nach Alkohol gerochen? War noch jemand in der Nähe? Oder gibt es sonst irgendwelche Besonderheiten, die wir wissen müssen?«

»Er lag allein auf der Bank am Watt, hier ist sonst niemand, und ich kann ziemlich weit gucken. Ich habe ihn nur gefunden, weil ich nach Feierabend immer das ganze Gelände kontrolliere. Sonst wäre der hier einfach so gestorben.«

»Wann haben Sie ihn gefunden?«

»Na ja, eben. Was glauben Sie denn? Ich habe kurz über Mund-zu-Mund-Beatmung nachgedacht, aber das klappt ja nicht ohne Herzdruckmassage. Also habe ich sofort bei Ihnen angerufen.«

»Sind sie allein?«

»Ja, bin ich.«

»Okay. Dann schließen Sie das Tor auf. Vielleicht kann der Rettungswagen ja wenigstens ein Stück reinfahren.«

»Hinten zum Versorgungstrakt ginge es, aber das nutzt nichts, der Weg durchs Gelände zum Watt ist kürzer.«

»Besprechen Sie das mit den Sanitätern. Und versuchen Sie, jemanden zu finden, der in der Zwischenzeit bei dem Verletzten bleiben kann. Vielleicht ist zufällig ein Arzt im Restaurant. Das ist doch direkt vor dem Eingang zur Vogelkoje, oder irre ich mich?«

»Das stimmt schon. Ich frage gleich nach. Aber wollen Sie meine ehrliche Meinung? Ich denke, der Mann da draußen