Unruhig steht Melinda Jakobsen vor dem Terrassenfenster ihres Hauses und beobachtet den Sonnenuntergang. Das Haus thront hoch oben auf einer Hügelkuppe, so dass Melindas Blick weit über die Heidelandschaft nach Westen schweifen kann. Sie sieht die Verbindungsstraße zwischen Kampen und List ebenso wie die große helle Wanderdüne, die alle paar Jahre umgesetzt werden muss, weil sie sonst die Straße unter sich begraben würde. Normalerweise beruhigt sie das Schauspiel der untergehenden Sonne, es erdet sie und gibt ihr Kraft. Doch heute kann nichts ihre Unruhe besänftigen. Immer wieder denkt sie über das Intermezzo bei der Polizei nach. Hat sie alles richtig gemacht? Hätte sie drängender auftreten sollen? Melinda weiß es nicht. Und diese Unsicherheit macht ihr Angst.
Beinahe hätte sie sogar das abendliche Dinner unter einem Vorwand abgesagt, aber Beat Tiedjens, der Programmchef des Senders, in dem ihre Talkshow läuft, ist ein vielbeschäftigter Mann, den niemand einfach so versetzt.
Nervös blickt Melinda auf ihre Rolex. Kurz nach sieben, höchste Zeit also für eine Auffrischung des Make-ups und einen schnellen Garderobenwechsel. Um acht sind sie in der Sansibar verabredet, und einen Beat Tiedjens lässt selbst eine Melinda Jakobsen nicht warten.
Als Melinda gerade den Blazer im Businesslook gegen eine etwas farbenfrohere Variante ausgetauscht hat, klingelt ihr privates Handy. Aber wo ist das verdammte Ding bloß? Sie stürzt aus dem Schlafzimmer und scannt im Laufen das Mobiliar. Der Couchtisch ist bis auf ein paar Coffee TableBooks leer, in der Diele liegt das Handy auch nicht, und im Gästebad war sie seit ihrer Rückkehr gar nicht. Aber sie hat alle drei Handys doch gleich nach ihrer Ankunft aus der Tasche genommen, um ihre Mails zu checken.
Der neue Schreibtisch fällt ihr ein. Es ist ein antikes Stück aus Wurzelholz, viel zu zierlich, um wirklich daran zu arbeiten. Sie hat den Sekretär erst kürzlich auf einer Antiquitätenmesse erworben, und er passt perfekt in die Nische unter der Schräge in ihrem Schlafzimmer. Nur hat sie sich offenbar noch nicht daran gewöhnt, dass sie darauf auch Dinge ablegt. Also zurück ins Schlafzimmer, wo sich tatsächlich alle drei Handys auf der Schreibtischplatte finden.
Inzwischen ist das Klingeln verstummt. Melinda checkt die Liste. Der Anrufer ist offensichtlich nicht in ihren Kontakten, und die Nummer sagt ihr auch nichts. Sie blickt noch einmal auf die Rolex, fast halb acht, und das Taxi braucht von List nach Rantum mindestens zwanzig Minuten, eher länger. Trotzdem ruft Melinda zurück. Noch mehr Unsicherheit ist das Letzte, was sie jetzt ertragen kann. Im übrigen ist sie außerordentlich versiert darin, Anrufer knapp abzufertigen.
Doch bereits bei den ersten Worten ahnt Melinda, dass dieses Telefonat länger dauern wird.
»Silja Blanck, Kripo Westerland. Hallo, Frau Jakobsen, danke dass Sie so schnell zurückrufen.«
»Hat sich etwas Neues wegen Konrad Otze ergeben?«
»Leider ja.«
Melinda hält die Luft an. Sie hat das bisher immer für eine dämliche Redensart gehalten, denn niemand wird ja wohl im Ernst erwarten, dass die Welt stehenbleibt, nur weil man selbst nicht weiteratmet. Doch genau das hofft sie jetzt.
Selbstverständlich erfüllt sich ihre Hoffnung nicht.
»Frau Jakobsen, sind Sie noch dran?«
»Ja. Ja, natürlich.«
Einatmen, ausatmen, einatmen. Die Ruhe bewahren.
»Frau Jakobsen, es tut mir leid, Ihnen das am Telefon sagen zu müssen, aber wir haben Herrn Otze gefunden. Er ist tot, leider.«
»Was?«
Einatmen, ausatmen, einatmen.
»Sie können sich sicher vorstellen, dass eine ausführliche Aussage von Ihnen nun von enormer Wichtigkeit für uns ist. Wir möchten daher schnellstmöglich mit Ihnen reden.«
»Das wird nicht gehen, ich bin verabredet.«
»Dann muss ich Sie bitten, die Verabredung zu verschieben.«
»Unmöglich.« Melinda hat sich so weit beruhigt, dass sie wieder zu einer normalen Interaktion fähig ist, das heißt: priorisieren und abwimmeln. »Beat Tiedjens erwartet mich in zwanzig Minuten in der Sansibar.« Als keine Reaktion von der Kommissarin kommt, setzt Melinda hinzu: »Sie wissen doch, wer Beat Tiedjens ist, oder?«
»Und wenn er der Papst persönlich wäre, er wird leider warten müssen. Wo halten Sie sich gerade auf, Frau Jakobsen?«
»Ich bin zu Hause. Also hier, in meinem Ferienhaus in List. Aber, wie ich schon sagte, es ist ganz unmöglich, die Verabredung zu canceln.«
»Bitte lassen Sie das unsere Sorge sein. Sagen Sie diesem Herrn Tiedgen kurz Bescheid, dass Sie sich etwas verspäten. Das wird er schon überleben. Und dann geben Sie mir Ihre Adresse, wir sind so schnell wie möglich bei Ihnen.«
»Tiedjens, er heißt Tiedjens«, wendet Melinda entrüstet ein. Der Gedanke, dass es Menschen gibt, die den prominenten Intendanten nicht kennen, übersteigt ihre Vorstellungskraft.
»Wie Sie meinen. Wichtig ist nur, dass wir so schnell wie möglich mit Ihnen sprechen können. Wir können sehr gern im Wagen reden. Wenn Sie möchten, fahren wir Sie währenddessen runter nach Rantum. Wie klingt das?«
Melinda spürt, wie ihre Widerstandskräfte schwinden. Alles ist plötzlich ein wenig zu viel für sie.
»Ja, okay«, antwortet sie matt. Und dann muss sie sich erst einmal hinsetzen.