»Kommt rein, ihr beiden«, begrüßt Sven Winterberg seine Kollegen. Die drei Kommissare arbeiten seit Jahren so eng zusammen, dass sich längst auch eine private Freundschaft ergeben hat. Und weil Sven heute Abend auf seine Kinder aufpassen muss, haben sie die anstehende Besprechung kurzerhand zu ihm nach Hause verlegt.
»Wollen wir ins Wohnzimmer an den Esstisch, da schreibt es sich besser«, bietet Sven an.
»Nö, lieber gleich in eure Küche. Ist viel gemütlicher«, sagt Bastian und steuert den Raum an.
»Wo ist Anja?«, will Silja wissen, als sie sich an den Küchentisch setzen. »Verbringt ihr den Samstagabend nicht gemeinsam?«
»Ihre Freundin aus der Grundschule ist gerade auf der Insel. Margarete. Deren Mutter ist gestorben und wird morgen beerdigt. Margarete lebt seit Jahren in Rom, wir wollten sie immer mal besuchen, hat aber nie geklappt. Und jetzt hat sich Anja kurzfristig mit ihr für den Abend verabreden können. Wollt ihr Tee, Wasser, Wein? Du ein Bier, Bastian?«
»Später, danke. Erst mal ein Wasser, wenn’s geht. Mir brummt jetzt schon der Kopf wegen des neuen Falls.«
»So schlimm?«
»Schlimmer«, stöhnt Bastian, während Sven eine Seltersflasche und Gläser auf den Tisch stellt und anschließend einen Teller mit Trauben und Käsewürfeln aus dem Kühlschrank holt.
»Ich wusste nicht, ob ihr schon gegessen habt. Es gibt auch noch Kürbissuppe, die habe ich vorhin für die Lütten gekocht.«
»Käse ist super, danke«, will Silja abwehren, aber Bastian richtet bereits einen verlangenden Blick auf den Herd.
»Wenn’s dir nichts ausmacht.«
»Dachte ich’s mir doch.« Sven schaltet die Platte unter dem Suppentopf an und setzt sich dann zu den Kollegen an den Tisch. »Dauert noch ein bisschen, bis die wieder heiß ist. Inzwischen könnt ihr berichten.«
»Über den Zustand des Opfers muss ich ja weiter nichts sagen, du hast es mit eigenen Augen gesehen, und Silja weiß auch schon Bescheid«, beginnt Bastian. »Was du aber nicht weißt, ist, dass der Typ prominent war.«
»Ihr kennt also den Namen?«
Bastian nickt. »Konrad Otze, seines Zeichens einer der einflussreichsten Literaturkritiker in diesem Land. Dir ist klar, was das für uns bedeutet?«
»Medienrummel ohne Ende«, seufzt Sven. »Hast du schon mit der Staatsanwältin gesprochen?«
»Vorhin im Wagen, allerdings nur kurz. Nach der Obduktion und den ersten Vernehmungen berichte ich ausführlich nach Flensburg. Also schätzungsweise morgen Mittag. Und davor graut es mir jetzt schon. Die Bispingen wird sicher noch mehr Druck machen als sonst.«
»Wie kommst du darauf?«
Bastian erläutert kurz, was es mit dem Literaturcolloquium auf sich hatte und wer dabei war. Er schließt mit den resignierten Worten: »Es ist also durchaus möglich, dass Fred Hübner in den Fall verwickelt ist.«
»Nee, oder?« Sven denkt kurz nach, dann seufzt er: »Der Ex-Lover unserer Staatsanwältin. Ausgerechnet. Oder hat sich deren Beziehungsstatus inzwischen geändert?«
»Woher soll ich das wissen? Seit dem letzten großen Fall, als die drei Frauen so brutal umgekommen sind, habe ich mit Elsbeth von Bispingen wenig und mit Fred Hübner gar nichts zu tun gehabt. Und ehrlich mal, gefehlt hat mir dabei nichts.«
»Okay, ihr beiden, das ist jetzt aber echt nicht unser Hauptproblem«, unterbricht Silja die Kollegen. Sie zieht einen vollgeschriebenen Zettel aus der Tasche und streicht ihn auf der Tischplatte glatt. »Ich habe vorhin kurz gebrainstormt und die nächsten Schritte skizziert. Wollt ihr hören?«
»Gebrainstormt«, mosert Bastian. »Nachgedacht hätte es auch getan.«
»Schieß los«, sagt Sven.
»Die Suppe kocht über«, bemerkt Bastian trocken.
»Mist.« Sven springt auf, schaltet den Herd aus und holt zwei Teller aus dem Schrank. Während er beide füllt, beginnt Silja zu berichten.
»Also erstens: Der zu erwartende Medienrummel muss irgendwie kanalisiert werden. Zum Glück ist der Fundort der Leiche so abgelegen, dass bisher niemand von der Presse Wind von dem Mord bekommen hat. Wir sollten sehen, dass das auch so lange wie möglich so bleibt.«
»Meinst du, der Verwalter von der Vogelkoje hält den Mund? Und was ist mit den beiden Sanitätern, die vor Ort waren?«, fragt Sven, während er die Suppenteller auf den Tisch stellt.
»Die wissen alle nicht, wer der Tote war. Noch nicht. Wir haben schließlich keine Papiere gefunden.« Bastian zieht sich einen der Teller heran und schnuppert. »Riecht köstlich.«
»Und woher kennt ihr dann die Identität des Opfers?«
»Am späten Nachmittag hat ihn eine Dame auf der Wache als vermisst gemeldet. Melinda Jakobsen.«
»Die Melinda Jakobsen?«, fragt Sven alarmiert.
»Exakt die. Wir haben gerade länger mit ihr gesprochen, und sie hat uns zugesichert, wenigstens in den nächsten vierundzwanzig Stunden die Klappe zu halten.« Während Bastian sich die Suppe schmecken lässt, erklärt Silja, was sie über das Colloquium in der vergangenen Woche erfahren haben.
»Wir sollten also so schnell wie möglich mit allen Teilnehmern reden. Am besten noch heute Nacht, bevor die sich absprechen können«, fügt Bastian hinzu.
»Warum sollten sie?«, will Sven wissen.
»Es waren sieben Figuren bei diesem Colloquium. Otze mitgerechnet. Ohne ihn waren sie also zu sechst. Außer der Moderatorin alles Autoren, die möglicherweise eine ziemliche Wut auf den Kritiker haben. Und damit auch ein Motiv. Du hast ja gehört, was Bernstein gesagt hat. Der oder die Mörder hat oder haben einen Bezug zu Buchstaben und Worten – oder zum Alphabet generell.«
»Findest du diese These nicht auch ziemlich irritierend? Ich meine, wer kommt denn auf so was?«
»Wenn du mich fragst, ist das total absurd. Aber hey, was weiß ich schon darüber, wie Schriftsteller ticken? Vielleicht sind die bei solchen Wortspielen ganz vorn mit dabei.«
»Dazu kommt die Zahl«, überlegt Sven. »Es steckten sechs Messer in Otzes Körper, und es waren – außer ihm – sechs Teilnehmer.«
»Die sollen sich abgesprochen haben, um den Typen gemeinsam abzustechen? Das glaubst du nicht wirklich.«
»Ausschließen können wir es aber nicht.«
»Silja? Was meinst du dazu?«
»Ich habe vorhin kurz mit Bernstein telefoniert. Wollte ihn dazu bringen, sich den Toten heute noch vorzunehmen. Aber er hat sich nicht erweichen lassen. Die Obduktion ist morgen früh um acht. Aber was er mir gegenüber hervorgehoben hat, war, dass es keinerlei Abwehrverletzungen gibt. Das heißt, der Kritiker kannte seinen Mörder.«
»Oder seine Mörder, Mehrzahl«, murmelt Bastian.
»Was ist mit seiner Familie, eventuellen Feinden, einer Ehefrau, einem Lebenspartner oder der Lebenspartnerin? Das müssen wir auch alles berücksichtigen«, seufzt Sven.
»Klar machen wir das. Doch wie ich schon zu dieser Moderatorin gesagt habe: Der oder die Mörder kennen sich auf der Insel aus. Die Bank ganz am Ende von der Vogelkoje, ich bitte euch, da muss man erst mal drauf kommen. Aber unabhängig davon müssen wir natürlich den Familienstand überprüfen. Die nächsten Angehörigen müssen benachrichtigt werden, und es sollte auch jemand den Toten offiziell identifizieren.«
»Ich habe das vorhin schon in Auftrag gegeben«, wirft Silja ein. »Und eigentlich müsste inzwischen eine Antwort da sein.« Mit gerunzelter Stirn checkt sie ihr Handy. »Hier ist es ja. Konrad Otze, unverheiratet, einziger Sohn von Nelly und Lothar Otze, die beide in Hamburg wohnen.«
»Hast du auch die Adresse?«, will Bastian wissen. Als Silja nickt, fährt er fort: »Wir schicken einen Hamburger Kollegen zu den Eltern. Ist ein super Job am Samstagabend, die werden sich bedanken.«
»Ich kümmere mich darum«, sagt Silja und verlässt die Küche, um ungestört zu telefonieren.
Kaum dass sie draußen ist, fragt Bastian: »Ist noch Suppe da?«
»Vielfraß.« Grinsend füllt Sven Bastians Teller erneut.
»Danke. Verpetz mich nicht, hörst du? Silja findet, dass ich zu fett bin.«
»Keine Sorge. Zurück zum Fall. Wisst ihr schon, wo die ganzen Habseligkeiten unseres Toten sind? Wir müssen da so schnell wie möglich ran. Vielleicht finden wir das Handy, ein Notizbuch oder Ähnliches.«
»Besser wären Erpresserbriefe, anonyme Drohungen oder irgend etwas in der Art.«
»Träum weiter«, grinst Sven.
»Man weiß ja nie.« Bastian legt kurz den Löffel zur Seite und erklärt dann: »Die Pension, in der alle Colloquiumsteilnehmer untergebracht waren, heißt Seemöwe und liegt irgendwo im südlichen Wenningstedt. Kennst du die?«
Sven schüttelt den Kopf.
»Ich schicke jemanden hin und lasse das Zimmer versiegeln. Dann können wir uns das morgen in Ruhe ansehen. Jetzt kümmern wir uns erst mal um die anderen Schriftsteller. Silja hat die Liste mit den Namen.«
Wie auf Kommando erscheint Silja wieder in der Küche. »Welche Liste?«
»Die Tatverdächtigen«, sagt Bastian mit vollem Mund.
Die Kommissarin wirft einen leicht spöttischen Blick auf Bastians vollen Teller, verkneift sich aber jeden Kommentar. Stattdessen konsultiert sie ihr Handy. Mit dem Blick aufs Display sagt sie: »Gastmann, Grothe, Hübner, Larsen, Yildirim. Und die Jakobsen selbst natürlich. Nach Aussage der Moderatorin sind sowohl Saskia Grothe als auch Enard Gastmann und Lorena Larsen noch auf der Insel. Fred Hübner ja sowieso. Nur diese Shirin Yildirim wollte angeblich gleich zurück nach Berlin.«
»Und das sollen berühmte Schriftsteller sein? Außer Hübner kenne ich die alle nicht«, wundert sich Sven, korrigiert sich dann aber. »Moment mal. Lorena Larsen, die sagt mir was. Schreibt die nicht Kinderbücher? Ich glaube, Mette hatte ein paar von ihr und mochte die ziemlich gern.«
»Gastmann schreibt Gedichte und die Grothe Ratgeber für Frauen im Klimakterium«, führt Silja aus. »Und diese Shirin Yildirim hat einen ziemlich durchgeknallten Coming-of-Age-Roman geschrieben, der alle Bestsellerlisten gestürmt hat. Trägt den vielsagenden Titel Latex und spielt in der Berliner Party- und Drogenszene. Du gehörst zu keiner der Zielgruppen.«
»Ich muss mich also nicht schlecht fühlen?« In gespielter Erleichterung wischt sich Sven den nicht vorhandenen Schweiß von der Stirn.
»Du hast noch mal Glück gehabt«, lacht Silja. »Aber ehrlich, ich kannte die auch alle nicht, bevor ich das vorhin recherchiert habe. Leider gehen aber weder die Yildirim noch dieser Gastmann ans Handy. Auch Lorena Larsen habe ich bisher nicht erreicht. Dafür konnte ich bei Saskia Grothe einen Volltreffer landen.«
»Sie hat gestanden?«, witzelt Bastian.
»Sehr komisch. Konzentrier du dich lieber auf deine Suppe. Und nein, sie hat weder gestanden, noch ist sie ans Handy gegangen, aber ich weiß wenigstens, warum.«
»Dann sei so gut und weih uns ein.« Bastian hat seinen Teller geleert, steht auf und öffnet die Spülmaschine.
Silja schaut auf ihre Uhr. »Viertel nach neun. Vermutlich hat die Grothe gerade ihre Lesung im Kaamp-Hüs beendet. Sie war groß angekündigt und schon seit Tagen ausverkauft, wie ich ihrer Website entnehmen konnte.«
»Bingo. Dann fahren wir da jetzt hin und machen einen kleinen Zwischenstopp auf unserem Weg raus in die Vogelkoje«, entscheidet Bastian. »Sind ja nur zwei Minuten mit dem Wagen.«
»Was ist mit Hübner?«, will Sven wissen, während seine beiden Kollegen schon die Küche verlassen.
»Den heben wir uns für morgen auf. Zuerst will ich erfahren, ob Leo mit seinen Leuten irgendwelche relevanten Spuren gefunden hat, dann rede ich morgen Vormittag noch mal ausführlich mit unserer Staatsanwältin in Flensburg. Dabei lasse ich mir von ihr höchstpersönlich und ganz genau erklären, wie ich Hübner anfassen soll. An dem verbrenne ich mir definitiv nicht noch mal die Finger.«