Samstag, 27. September, 15.02 Uhr, Pension Seemöwe, Wenningstedt

Als Fred Hübner mit seinem Dessertlöffel in die Crème brûlée sticht, hallt das Knacken der

»Was ist mit ihm?«, erkundigt sich der Journalist leise bei seiner Nachbarin.

»Keine Ahnung«, wispert sie zurück. »Er ist plötzlich aufgesprungen, und dann war er weg. Das ist jetzt aber bestimmt schon eine Viertelstunde her.«

Jetzt blickt auch Melinda Jakobsen ungeduldig auf ihre sichtbar teure Armbanduhr. »Ich weiß, es ist unhöflich, aber ich denke, wir sollten trotzdem mit dem Dessert beginnen«, verkündet sie und greift nun ihrerseits zum Löffel. Kauend fügt sie hinzu: »Ich gebe es nur ungern zu, aber ich habe in einer guten Stunde die nächste Besprechung und kann es mir nicht leisten, hier zu überziehen.«

Einige Sekunden lang hört man nur das Knacken der Zuckerkrusten am Tisch und anschließend genüssliches Murmeln. Die Crème brûlée ist wirklich vorzüglich, findet auch Fred. Allen anderen scheint es ebenso gut zu schmecken, denn das Gespräch ist inzwischen ganz verstummt. Fred würde darauf wetten, dass er nicht der Einzige ist, der erwägt, sofort nach dem Dessert den Abflug zu machen.

Doch zumindest für den schweigsamen Lyriker ihm gegenüber scheint sich die Problematik etwas anders darzustellen. Es ist Enard Gastmann, der schließlich den Löffel

Fred blickt sich um und muss feststellen, dass auch einige andere Augen erwartungsvoll auf ihn gerichtet sind. »Wenn’s denn sein muss.« Widerstrebend legt auch er den Löffel nieder und steht auf.

Die Toiletten befinden sich am anderen Ende der Diele rechter Hand vom Speiseraum. Fred stößt die Schwingtür auf und sieht mit einem Blick, dass sowohl der Vorraum mit dem Urinal als auch beide Kabinen leer sind. Sicherheitshalber inspiziert er auch noch den Empfangstresen und das Treppenhaus, beides ohne Erfolg.

Kopfschüttelnd kehrt Fred in den Speiseraum zurück. »Der Vogel ist wohl ausgeflogen. Ich kann ihn nirgends finden.«

Verlegenes Schweigen antwortet ihm. Schließlich erklärt Saskia Grothe in belustigtem Tonfall: »Dann wird unser Großkritiker es vermutlich vorgezogen haben, sich ohne Abschied vom Acker zu machen. Würde mich, ehrlich gesagt, auch nicht wundern. Passt doch zu seinem sonstigen Auftreten.«

»Niemals«, widerspricht die Jakobsen energisch. »Wenn Konrad Otze auf irgendetwas wirklich Wert legt, dann sind das erstklassige Manieren.«

»Er wird doch nicht mit Bauchkrämpfen oben in seinem Zimmer liegen«, murmelt Shirin Yildirim und reißt verschreckt ihre Augen auf.

Lorena Larsen bemüht sich wie immer um Konsens. »Eines ist jedenfalls klar. Er hatte nie Probleme mit dem Essen. Es muss also einen anderen Grund geben. Vielleicht hatte er einen Schwächeanfall.«

»Dieser Otze ist fit wie ein Turnschuh«, lässt sich nun Freds Gegenüber Gastmann hören, und Fred schmunzelt unwillkürlich über die Wortwahl des stets Sneakers tragenden Lyrikers.

»Dann hat er es wohl tatsächlich vorgezogen, sich klammheimlich aus dem Staub zu machen«, resümiert Saskia Grothe nicht ohne Häme.

Die Anwesenden blicken sich ratlos an. Einige Sekunden lang herrscht Schweigen. Schließlich wird es Fred zu bunt.

»Ich esse jetzt mein Dessert auf und gehe dann auch noch oben nachsehen.«

Erleichtertes Nicken und beifälliges Gemurmel begleiten seine letzten Bissen. Als er aufsteht und den Raum verlässt, kann er förmlich die gespannten Blicke der anderen in seinem Rücken spüren. Während Fred die Treppe zu den Gästezimmern hinaufsteigt, denkt er unwillig: Im Grunde genommen hat Otze es richtig gemacht. Hat sich die verlogenen Abschiede erspart, die salbungsvollen Worte, hinter denen sich doch nur gedankliche Giftpfeile verbergen.

Sekunden später klopft Fred an Otzes Zimmertür. Keine Reaktion. Er zögert kurz, dann legt er das Ohr horchend ans Türblatt. Drinnen rührt sich nichts. Nach eiligem Kofferpacken hört sich das schon mal nicht an, konstatiert Fred. Er klopft noch einmal, wartet kurz und ruft dann laut Otzes Namen. Nichts. Sollte der Kritiker doch von einem plötzlichen Entschlossen drückt Fred die Klinke herunter. Die Tür ist abgeschlossen.

»Dann eben nicht, du Trottel«, murmelt Fred achselzuckend und geht wieder nach unten. In die fragenden Blicke der Tischgesellschaft hinein erklärt er mit leisem Amüsement in der Stimme: »Die Tür ist zu. Dahinter kein Geräusch. Vermutlich hat unser hochmögender Kritiker in weiser Voraussicht schon am Vormittag sein Köfferchen gepackt und ist einfach so von uns gegangen.«

»Ausgeschlossen. Soweit ich weiß, bleibt er noch ein paar Tage hier wohnen«, erklärt Melinda Jakobsen, die nun doch etwas besorgt wirkt. »Haben Sie denn geklopft?«

»Habe ich. Gerufen auch. Keine Reaktion. Und er wird ja wohl nicht urplötzlich in Tiefschlaf verfallen sein.«

»Gibt es jemanden, der einen zweiten Schlüssel zu seinem Zimmer hat?«, erkundigt sich die Moderatorin.

»Die Rezeption ist ja nur bis vierzehn Uhr besetzt, wenn ich das richtig verstanden habe«, murmelt Lorena Larsen. »Aber für Notfälle gibt es eine Telefonnummer.«

»Okay, dann machen wir jetzt Folgendes«, Melinda Jakobsen steht auf und blickt allen Anwesenden nacheinander beschwörend in die Augen. »Ich kümmere mich um einen Ersatzschlüssel, und wir inspizieren danach gemeinsam Konrad Otzes Zimmer. Zunächst erkläre ich aber den offiziellen Teil unserer Zusammenkunft für beendet, danke Ihnen und euch allen noch einmal herzlich für die Teilnahme und die vielen engagierten und hilfreichen Beiträge.«

Den zaghaften Applaus, der sich anschließt, wartet die Moderatorin gar nicht mehr ab, so eilig hat sie es, den Raum zu verlassen, um das Management der Pension wegen Otzes Zimmerschlüssel zu kontaktieren.