Sonntag, 28. September, 08.38 Uhr, Osthedig, Westerland

Pernille Aurich sitzt angespannt auf einem Küchenstuhl und dreht ihren Teebecher zwischen den Fingern. Sie trägt unter ihrem dunklen Bademantel einen ausgeblichenen Frottéschlafanzug, dessen eines Bein einen

Sven Winterberg fragt sich ernsthaft, warum die Caterin einen so nervösen Eindruck macht. Denn das Gespräch ist über die einleitenden Präliminarien noch nicht hinausgekommen, und Sven hat bisher darauf verzichtet, der jungen Köchin vom Mord an Konrad Otze zu berichten. Offiziell ist er wegen der verschwundenen Messer bei ihr.

»Sie waren weg, einfach weg«, klagt Pernille gerade, stellt den Teebecher auf dem Küchentisch ab und stützt den Kopf in die Hände. »Wissen Sie, was so ein Set kostet?«

»In etwa, ja. Aber Sie sind vermutlich versichert?«

»Machen Sie Witze? Ich kann mich und mein Unternehmen ja so kaum über Wasser halten.« Fahrig fährt sie sich mit beiden Händen durch die ungekämmten Haare.

»Was macht Sie so nervös?«

»Ihr Ernst jetzt?«

Sven nickt.

»Ich muss wieder meine Eltern anpumpen. Das ist langsam nicht mehr lustig«, seufzt sie. »Das war mein erster großer Auftrag. Ich habe einiges dafür abgesagt und in der letzten Woche echt hart gearbeitet. Außerdem habe ich das ganze Catering zu einem All-inclusive-Dumpingpreis angeboten, der gerade so meine Lohn- und Materialkosten abgedeckt hat. Der Job sollte ein Sprungbrett sein.«

»Ganz genau. Es sollte alles perfekt sein. Auch meine beiden Mitarbeitenden haben sich total ins Zeug gelegt. Aaron, mein Souschef, und Nadine, die noch ziemlich am Anfang ihrer Ausbildung ist. Beide haben mich bis zur Selbstaufgabe unterstützt. Die muss ich schließlich auch noch bezahlen. Und dann verschwinden diese verdammten Messer! Ein neues Set kostet mich locker einen Tausender. Den ich nicht habe, wie gesagt. Stört es Sie, wenn ich rauche?«

Sven schüttelt den Kopf.

Pernilles Finger zittern, als sie sich die Zigarette anzündet. Sie nimmt einen tiefen Zug und lässt sich Zeit, bevor sie den Rauch wieder ausstößt. Schließlich redet sie leise weiter.

»In den letzten Monaten hat sich mein junges Unternehmen mehr schlecht als recht mit kleinen Aufträgen über Wasser gehalten. Und es sah echt nicht so aus, als würde sich daran demnächst etwas ändern. Die Konkurrenz hier auf der Insel ist mörderisch, das habe ich komplett unterschätzt. Aber dann kam plötzlich meine große Chance. Ein Auftrag von Melinda Jakobsen persönlich. Ich habe gedacht, ich höre nicht recht. Ob ich Zeit und die Kapazitäten hätte, eine Woche lang für die Gäste des Literaturcolloquiums zu kochen.«

»Sie haben zugesagt, obwohl Sie sich das gar nicht leisten konnten«, stellt Sven fest, während er weiter aufmerksam die überaus fahrigen Bewegungen seiner Gesprächspartnerin beobachtet.

»Klar habe ich das.« Noch ein tiefer Zug aus der Zigarette. »Dabei hatte ich nicht nur kein Geld, sondern eigentlich auch keine Zeit. Ich habe zwei andere Kunden verprellt, um

»Alles wegen der Prominenz der Gäste?«

Pernille nickt. »Die Talkshowgröße Melinda Jakobsen, das muss man sich mal reinziehen. Und dazu noch der Literaturkritiker Konrad Otze. Der hat nebenbei auch schon die eine oder andere Restaurantkritik verfasst. Für mich war sofort klar, welchen Werbeeffekt dieser Einsatz haben könnte. Sollten Jakobsen und Otze zufrieden mit der Bewirtung sein, würden sie mich und mein junges Unternehmen weiterempfehlen, und das hoffentlich auch an Freunde und Geschäftspartner, die nicht aufs Geld gucken müssen. Kutterscholle und Butterstulle könnte vielleicht bald in der ganz großen Liga mitspielen. So eine Chance bekommt man nicht zweimal.«

»Ich wiederhole meine Frage. Warum sind Sie dann so nervös?«

»Weil ich pleite bin, Mann. Ist das so schwer zu verstehen? Als Koch geht man immer in Vorleistung. Bei jedem Job. Und das kann ich nicht mehr. Zu viele Schulden, kein Kredit. Da nutzen mir eventuelle Nachfolgeaufträge nur noch herzlich wenig.«

»Gibt es denn schon welche?«

Pernille schüttelt den Kopf. »Wir haben gestern Nachmittag zusammengepackt. Alle waren total zufrieden, aber das Ganze muss sich natürlich erst rumsprechen.«

»Vermutlich wird es dabei ein kleines Problem geben«, beginnt Sven vorsichtig.

»Die Zeit, ich weiß. Irgendwie muss ich über die Wartezeit kommen, ohne pleitezugehen.«

»Das meine ich nicht.« Sven richtet sich unwillkürlich ein

»Warum das? Hat er sich beschwert?«

»Er ist tot.«

»Was?« Die Zigarette fällt ihr aus der Hand, aber das Zittern hört auf.

»Konrad Otze wurde gestern Nachmittag ermordet.«

Pernille schüttelt kurz den Kopf, dann bückt sie sich, um die Zigarette vom Boden aufzuheben. Die schwarze Katze kehrt in die Küche zurück und streift schnurrend um Pernilles Beine. Die Köchin streichelt ihre Katze, bleibt aber weiterhin stumm.

Sven wartet. Schließlich murmelt Pernille, ohne ihn anzusehen: »Gestern Nachmittag, sagen Sie? Wer hat ihn umgebracht? Und wo?«

»Wenn ich das wüsste, säße ich nicht hier. Es sei denn, Sie wären die Täterin.« Als der Kommissar Pernilles erschrockenen Blick sieht, muss er fast lachen. »Ich brauche Ihre Aussage, Frau Aurich. Konrad Otze hat nur noch zwei Stunden gelebt, nachdem er den Speisesaal der Pension Seemöwe verlassen hat. Sein Aufenthaltsort in der Zeit zwischen fünfzehn und siebzehn Uhr ist also von größtem Interesse von uns.«

»Ich weiß nicht, wohin er gegangen ist. Ich war in der Küche und habe meinen Job gemacht.«

»Hat Konrad Otze während dieses letzten Essens die Küche betreten?«

»Nein, warum sollte er?«

»Okay«, sagt Sven, ohne auf die Gegenfrage einzugehen.

»Ja, hat sie, aber Otze ist nicht hindurchgegangen.«

»Gut. Dann überlegen Sie jetzt bitte mal gründlich. Sie haben ja zwischendurch auch serviert, waren also im Speisezimmer. Wann genau haben Sie Herrn Otze das letzte Mal gesehen? Und welchen Eindruck hatten Sie von ihm?«

Pernille Aurich zuckt die Schultern und presst die Lippen aufeinander. Dann bückt sie sich und hebt die Katze auf ihren Schoß. Während sie das Tier streichelt, antwortet sie nachdenklich: »Das muss beim Hauptgang gewesen sein. Ich hatte mir eines meiner persönlichen Highlights bis zum letzten Tag aufgespart. Gratiniertes Filet vom Deichlamm mit Zuckererbsen und Trüffelgnocchi. Perfekt auf den Punkt gegart ist das ein absolutes Gedicht, sage ich Ihnen.«

»Der Kritiker, Frau Aurich«, erinnert Sven ungeduldig. »Wie war er drauf?«

Noch einmal zuckt sie die Schultern. »Er wirkte ausgeglichen, fast schon gleichgültig, würde ich sagen. Ganz im Gegenteil zu den anderen Gästen.«

»Wie meinen Sie das?«

»Die anderen waren deutlich sichtbar erschöpft. Erschöpft, genervt und wahrscheinlich unendlich erleichtert«, antwortet Pernille wie aus der Pistole geschossen. »Die waren alle froh, dass es vorbei war.«

»Interessant. Gab es Spannungen? Animositäten?«, setzt Sven nach.

»Jede Menge. Wenn ich die Zahl der giftigen Blicke schätzen sollte, die im Lauf dieser einen Woche über den Esstisch geschleudert wurden, dann bin ich locker bei über hundert.«

»Inhaltlich kann ich dazu gar nichts sagen. Ich war ja immer nur für ein paar Momente draußen. Aber normal wäre doch gewesen, dass sich im Lauf der Woche eine familiäreAtmosphäre einstellt. Schließlich haben diese Leute sieben Tage lang aufeinandergehockt. Stattdessen hatte ich den Eindruck, dass sich ständig die Frontlinien verschoben. Als ob jeder Einzelne von denen sich täglich mit einem anderen überworfen hat.«

»Okay, das hilft schon mal weiter«, erklärt Sven in aufmunterndem Tonfall. »Konnten Sie vielleicht erkennen, ob jemand besonders schlecht auf Konrad Otze zu sprechen war?«

»Die beiden Männer, würde ich sagen.« Pernilles Antwort kommt ohne Zögern. »Die Frauen waren irgendwie immer noch ein bisschen flirtend unterwegs. Aber dieser andere Journalist und auch der Dichter, mir fallen gerade die Namen nicht ein, die haben nicht ein einziges Mal das Wort an Otze gerichtet. Oder er an sie. Jedenfalls nicht, wenn ich im Raum war. Stattdessen gab es jede Menge böser Blicke.« Pernille verstummt abrupt und konzentriert sich ganz auf das Streicheln ihrer Katze.

»Danke Ihnen. Das deckt sich durchaus mit anderen Beobachtungen. Ich möchte aber noch einmal auf Ihren Arbeitsplatz, also die Küche zurückkommen. Die hat eine Außentür, sagten Sie?«

»Ja, das ist üblich, schließlich müssen Zutaten angeliefert werden. Das möchte man ungern an Pensions-, Hotel- oder Restaurantgästen vorbeitransportieren.«

»Verstehe. Kommen wir zum Verschwinden Ihrer Messer. Ihre beiden Mitarbeiter schließen Sie als Diebe aus?«

»Selbstverständlich!«

»Scheint so«, antwortet Pernille unwirsch. »Worauf wollen Sie hinaus?«

»Das erfahren Sie gleich. Zunächst noch zwei weitere Fragen: War die Küche zwischendurch unbeaufsichtigt? Und war die Außentür während des Essens von innen verriegelt?«

»Nein und nein.« Pernille richtet sowohl ihren Blick als auch ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Katze, die ausgiebig gekrault wird.

»Also Sie und Ihre Mitarbeiter haben sich zwischendurch nie zu dritt im Speisesaal aufgehalten, so dass theoretisch niemand hätte von außen eindringen und die Messer an sich bringen können?«

»Wir waren höchstens mal für ein paar Sekunden alle drei draußen, und wie hätte man das abpassen sollen?«

»Ein Blick durchs Fenster, die Küche ist doch ebenerdig«, schlägt Sven vor.

Sie zuckt die Schultern. »Doch, das wäre möglich gewesen.«

»Die Alternative ist, dass einer der Gäste die Messer gestohlen hat.«

»Die waren nicht in der Küche.«

»Sicher?«

Pernille nickt, sieht aber nicht ganz überzeugt aus. »Warum wollen Sie das alles so genau wissen?«

»Dafür gibt es zwei Gründe. Den ersten kennen Sie. Ihre Anzeige gegen Unbekannt wegen der gestohlenen Messer.«

»Und der zweite?«

Pernille Aurich krallt die Hände in das Fell ihrer Katze und schaut erschrocken auf. »Was?«

»Sechs Stiche aus sechs Profiküchenmessern. Der Abgleich steht noch aus, weil die Messer noch in der Spurensicherung sind. Aber ich denke, dass es sich hier kaum um einen Zufall handeln wird.«

»Dann bekomme ich meine Messer also zurück?« Pernilles Gesicht strahlt.

»Wenn es Sie nicht stört, dass damit vermutlich ein Mensch getötet worden ist«, erwidert Sven schmallippig.

»Wofür ich nichts kann«, entgegnet sie cool.

»Vermutlich nicht.«

»Was soll das heißen?« Alles an der Caterin signalisiert plötzlich Alarmbereitschaft. Selbst die Katze, die bisher schnurrend vor sich hin gedöst hat, hebt den Kopf.

»Wir wissen immer noch nicht, warum das spätere Opfer vor dem Ende der Mahlzeit so überhastet den Tisch verlassen hat. Dafür ist uns bisher nur eine einzige Erklärung eingefallen.«

»Jetzt bin ich gespannt.«

»Kann es sein, dass mit Ihrem Essen irgend etwas nicht in Ordnung war?«

»Wie meinen Sie das?« Pernilles Stimme wird scharf.

»Na ja, vielleicht war eine Zutat schlecht, oder es gab einen anderen Grund dafür, dass Herr Otze plötzlich Magenprobleme bekommen haben könnte.«

»Das ist eine ungeheuerliche Unterstellung«, empört sich die Köchin. »Meine Zutaten sind immer von allererster Qualität.« Sie bemerkt offenbar selbst, wie schrill ihre Stimme

»Mag sein. Nur wäre er dann vermutlich an die Tafel zurückgekehrt. Bei einer Magenverstimmung allerdings …«

»Wo ist er eigentlich umgebracht worden?«, unterbricht Pernille den Kommissar.

»Ein ganzes Stück entfernt von Ihrer Wirkungsstätte. Mehr möchte ich dazu im Moment nicht sagen.«

»Na gut. Ich habe auch nichts mehr zu sagen. Sind wir dann fertig?« Pernille Aurich ist inzwischen sichtlich verärgert und bemüht sich auch nicht, dies zu verbergen. Sie lässt die Katze vom Schoß und steht auf. »Ich würde mich nämlich jetzt gern duschen und anziehen, wenn Sie nichts dagegen haben.«

»Wie könnte ich. Und danke noch mal dafür, dass Sie mich so unkompliziert empfangen haben.«

»Keine Ursache. Ich hoffe, Sie finden Ihren Mörder.«

Das ist nicht mein Mörder, will Sven noch erwidern, doch Pernille steht schon in ihrer Diele, um ihn hinauszubegleiten. Als der Kommissar die Wohnung verlässt, faucht ihre Katze hinter ihm her, als habe er sie persönlich misshandelt.